Krankenkassen geben sich heimlich neue Spielregeln
Die Branchenverbände Santésuisse und Curafutura schleusen die Neuerungen an der Bevölkerung vorbei. Das Ziel? Noch höhere Provisionen – und weniger Kontrolle.
Veröffentlicht am 31. Juli 2024 - 06:00 Uhr
Wie viel sollen Vermittler beim Abschluss einer Krankenkassen-Zusatzversicherung verdienen? Und was passiert, wenn jemand gegen das Verbot von Kaltakquise verstösst?
Die Öffentlichkeit weiss von nichts
Die Branche solle sich zu solchen Fragen selbst Regeln auferlegen, beschloss das Parlament 2014. Und das tut die Branche nun auch – aber ohne, dass die Bevölkerung über die Details informiert wird.
Rückblende: Unerwünschte Werbeanrufe von Versicherungsmaklern ärgern die Bevölkerung Jahr für Jahr im Herbst. Die Provisionen, die Versicherungen den Vermittlern zahlen, treiben die administrativen Kosten der Versicherer in die Höhe – was letztlich auch die Konsumentinnen und Konsumenten zu spüren bekommen.
Unter anderem zur Eindämmung dieser Kosten verabschiedete das Parlament 2014 eine Änderung des Bundesgesetzes über Krankenversicherungen.
Herbst 2023: Santésuisse und Curafutura änderten die Spielregeln einseitig.
Die beiden Krankenkassen-Branchenverbände Santésuisse und Curafutura arbeiteten in der Folge mehrere Jahre an einer Vereinbarung. Diese legte die Regeln für die Versicherungsvermittler fest, definierte eine unabhängige Beschwerdestelle als Aufsichtsorgan und zurrte die Höhe der Provisionen für den Abschluss einer Grundversicherung bei 70 Franken fest. Bei den Zusatzversicherungen betrug das Maximum zwölf Monatsprämien. Die Vereinbarung trat Anfang 2021 in Kraft.
Steigende Provisionen, schwächere Beschwerdemöglichkeiten
So weit, so gut. Doch letzten Herbst änderten Santésuisse und Curafutura die Spielregeln einseitig: Mit einer überarbeiteten Version der Branchenvereinbarung entmachteten sie die unabhängige Beschwerdestelle. Diese solle nur noch eine beratende Funktion innehaben, aber keine Sanktionen bei Verstössen mehr aussprechen dürfen.
Und für die Akquise einer neuen Zusatzversicherung durften die Krankenkassen den Vermittlern eine «wirtschaftliche» Provision zahlen – die Obergrenze für Entschädigungen wurde ersatzlos gestrichen.
Falls der Bundesrat das Gesuch bewilligt, wird die Vereinbarung ohne Input der Patientenvertreter gültig.
Nur ein knappes Jahr später kommt erneut Bewegung in die Sache: In einem kürzlich veröffentlichten Kommentar machte der Schweizerische Versicherungsverband (SVV) publik, dass die beiden Krankenkassenverbände Santésuisse und Curafutura bereits eine neue Branchenvereinbarung ausgearbeitet haben.
Und: Die Verbände haben beim Bundesrat bereits im April ein Gesuch gestellt – damit dieser die Regeln für allgemeinverbindlich erklärt.
Bewilligt der Bundesrat das Gesuch, so ist die neue Branchenvereinbarung ab diesem Zeitpunkt gültig – ohne dass sich Konsumenten- oder Patientenvertreter dazu äussern können.
Bis zu 16 Monatsprämien als Belohnung für Abschluss – für eine einzige Zusatzversicherung.
Gemäss SVV sieht diese Vereinbarung vor, dass die Vermittler beim Abschluss einer Zusatzversicherung neu bis zu 16 Monatsprämien verdienen. Zudem sollen beim Abschluss einer Grundversicherung nicht nur die externen Vermittler 70 Franken erhalten, sondern auch interne Krankenkassenangestellte.
Genauer Inhalt der Vereinbarung bleibt im Dunkeln
Im Übrigen blieben die Regeln so, wie sie 2021 in Kraft gesetzt wurden, schreibt der SVV. Unklar bleibt hingegen, wie künftig die Aufsicht und Beschwerdemöglichkeit geregelt ist.
Auf Anfrage wollte der Branchenverband Santésuisse stellvertretend für die beiden Verbände dem Beobachter keinen Einblick in die neue Branchenvereinbarung geben.
Auch das BAG hüllt sich in Schweigen
Und auch das Bundesamt für Gesundheit (BAG) will sich nicht dazu äussern: «Das Gesuch auf Allgemeinverbindlicherklärung ist eingegangen und wird aktuell bearbeitet. Der Bund ist keine Vertragspartei in der Branchenvereinbarung, aus diesem Grund darf er diese nicht veröffentlichen, und wir können zum aktuellen Zeitpunkt nicht auf inhaltliche Fragen eingehen», so eine Sprecherin des BAG.
Der Schweizerische Versicherungsverband sagt auf Anfrage, man könne den publizierten Kommentar nicht negieren – wolle ihn derzeit aber auch nicht weiter kommentieren.
Wann der Bundesrat über das Gesuch entscheiden wird, ist noch nicht klar. Branchenvertreter rechnen damit, dass er sich nach den Sommerferien über das Dossier beugen wird.
4 Kommentare
Womit wir nach 6 Monaten bei Punkt 12 der Liste bürgerlicher Unverschämtheiten angelangt wären:
Die Krankenkassen-Branchenverbände Santésuisse und Curafutura reichen beim Bundesrat ein Gesuch; Entmachtung der unabhängigen Beschwerdestelle, Streichung bei Provisionsobergrenze (Beobachter,2.7.24).
Punkte 1-11:
1. Wirtschaftskommission des Nationalrats fordert weitere Steuersenkung für Gutverdiener (NZZ,16.2.24).
2. Bürgerliche des Nationalrats fordern verbotene Stiftungen zur Vermögensweitergabe an Nachkommen zurück (watson,28.2.24).
3. Parlament heisst Lockerung der Zweitwohnungs-Beschränkungen gut, die am 11.3.12 vom Stimmvolk angenommen wurden (Watson,5.3.24).
4. Bürgerliche beschliessen Halbierung der Zollfreigrenze auf 150 Fr. - während...
5. diese sich selber Millionen zuschanzen & gleichentags von Erben Ergänzungsleistungen der Eltern zurückfordern, nachdem sie bereits jahrelang die Erbschaftssteuern senken (Tagi,7.3.24/Beobachter,2.7.20).
6. Bundesrat kürzt Geld für Bildung um 1 halbe Mia (Tagi,8.3.24).
7. Nationalrat will Lockerung des Arbeitsgesetzes, um Sonntagsarbeit zu "liberalisieren" & Ruhezeiten anders zu "regeln" (Watson,11.3.24/Tagi,12.3.24).
8. Bundesparlament hebelt kant. und städtische Mindestlöhne bei tieferen GAV-Löhnen aus (Watson,20.3.24,Tagi,5.5.24).
9. Wenn minimales soziales Mitverantwortungsbewusstsein gefragt ist, umgehend mit Wegzug drohen (Erbschaftssteuerinitiative;Tagi,23.6.24).
10. Die SVP will die Mindestfranchise erhöhen (Watson,10.7.24).
11. Der Zuger SVP-Finanzdirektor fordert andere Kantone zum Sparen auf, gräbt aber diesen das Steuersubstrat ab, indem man sich nur reiche Ausländer holt (Tagi,17.7.24).
Kurz: Jeden Monat 2 Forderungen nur für Reiche - dies in der Schweiz, wo es trotzdem Menschen gibt, die sich nicht einmal ein Weihnachtsgeschenk für ihr Kind leisten können und für Essen anstehen (watson, 20.12./16.10.23).
Danke dir Alex, super zusammengefasst.
Der Staat will keine Verantwortung übernehmen und die Privaten nicht auf Abschöpfen und unnötige Alibi - Werbekosten verzichten.
Wenn wir weiterhin, aus opportunistischer Gier und Eigennutz das narrative und Märchen vom preissenkenden Wettbewerb frönen, sind wir selber schuld.
Einheits Kasse mit Einheits Prämie, aber subito. Alles andere ist nur Geld verschleudern.
Das gesamte Gesundheitswesen könnte, mit klar definierten Leistungsauftrag, von einem den Bürger gehörenden Volksvermögen im Sonderrecht nach wirtschaftlichen Grundsätzen geführt werden, so dass der politische Verwaltungs schlendrian und Einflussnahme ausgeschaltet ist.
Arnaldo du sprichst mir mit der Einheitskasse aus der Seele. Vielen Dank.