Alles war gut – doch dann kamen die Behörden
Geflüchtete aus der Ukraine unterzubringen, fordert die Gemeinden heraus. Manche machen sich das Leben aber auch unnötig schwer. Zum Beispiel Sirnach TG.
Veröffentlicht am 12. Mai 2022 - 14:55 Uhr
Am 16. März klingelt bei Anwalt Markus Büchi das Telefon. Er und seine Frau besitzen eine Immobilienfirma, die in Busswil TG möblierte Zimmer vermietet. Der Anruf kommt von einem langjährigen Mieter, Roman Pylypchuk. Der gebürtige Ukrainer will wissen, ob Büchis noch ein freies Zimmer haben. Eine Bekannte von ihm sei mit ihrer Tochter hierhergeflüchtet und brauche dringend ein Dach über dem Kopf. «Wir haben ihnen, ohne lange zu fragen, einen Schlüssel gegeben», sagt Büchi.
Pylypchuk kümmert sich um Yuliia Bulat und die neunjährige Yana und hilft bei Behördengängen. Vermieter Büchi meldet Bulat für den Schutzstatus S an und sorgt dafür, dass Yana eingeschult wird. Am 19. April hat sie ihren ersten Schultag in Busswil.
Geflüchtete aus der Ukraine haben Anspruch auf Asylsozialhilfe. Die Kantone erhalten dafür vom Bund pauschal 1500 Franken pro Person. Der Kanton Thurgau überlässt es den Gemeinden, wie sie das Geld aufteilen. Busswil gehört zur Gemeinde Sirnach. Dort sprach Yuliia Bulat zusammen mit Roman Pylypchuk am 4. April vor. Doch sie passen in kein Schema.
Für Geflüchtete aus der Ukraine sind zwei Fälle vorgesehen: Sie kommen bei Gastfamilien unter, die dafür eine Entschädigung erhalten. Oder sie melden sich bei der Ankunft in einem Aufnahmezentrum und werden einer Gemeinde zugewiesen. Die ist von diesem Zeitpunkt an für die Unterbringung verantwortlich und mietet, falls nötig, Wohnraum an.
Nicht vorgesehen ist, dass Geflüchtete wie Yuliia Bulat selber einen Mietvertrag abschliessen und den Mietzins dann mit dem Geld aus der Asylsozialhilfe zahlen. Hinzu kam in ihrem Fall: Die Miete war zu hoch. Für Unterkünfte zahlt Sirnach höchstens 300 Franken pro Person. Das Zimmer in Busswil kostet aber 800 Franken.
Die Gemeinde bot an, es für 600 Franken zu mieten und die Miete direkt zu zahlen, wie das üblich sei. Vermieter Markus Büchi – er war mit dem Preis schon 150 Franken heruntergegangen – lehnte das ab. Ausserdem gab es bereits einen Mietvertrag mit Yuliia Bulat.
Die Situation schien verfahren, aber Roman Pylypchuk bot an, die Differenz von 200 Franken zu übernehmen. Die Gemeinde hätte zum Beispiel die 600 Franken fürs Wohnen an Yuliia Bulat überweisen können. Die fehlenden 200 Franken hätte Pylypchuk gezahlt.
Hätte. Denn die Gemeinde weigerte sich. «Dieses Vorgehen ist rechtlich nicht sauber», sagt Jeannine Kübler, Leiterin Soziale Dienste. «Im Asylbereich sind die Gemeinden für die Unterkunft zuständig und mieten sie selber an.» Die Gemeinde habe für ukrainische Flüchtlinge zusätzlichen Wohnraum gemietet und verfüge über genügend freie Zimmer. «Wir wurden vor vollendete Tatsachen gestellt. Wenn der Vermieter mit dem Preis genügend entgegengekommen wäre, wären wir bereit gewesen, dieses Zimmer ebenfalls zu mieten. Andere Lösungen widersprechen der Gleichbehandlung.» Pragmatische Lösung für einen speziellen Fall? Fehlanzeige.
«Da hilft man unbürokratisch und wird dafür abgestraft.»
Markus Büchi, Vermieter
Und so kam es, dass Yuliia und Yana Bulat quasi über Nacht in eine von der Gemeinde gemietete 2,5-Zimmer-Wohnung nach Sirnach umziehen mussten. Yana musste die Schule wechseln. Und Roman Pylypchuk war verzweifelt. Er befürchtete, dass er die beiden aus der Ferne nicht mehr so gut unterstützen kann. Das hatte er aber Yuliia Bulats Familie versprochen.
Die Gemeinde bot an, er könne in die gleiche Wohnung ziehen. Per sofort. Er müsse während der Kündigungsfrist keine Miete zahlen. Das stürzte ihn ins Dilemma: Entweder müsste er seinen hilfsbereiten Vermieter enttäuschen oder die Bekannte im Stich lassen. Aus einer Lösung, die für alle passte und die Gemeinde gleich viel gekostet hätte, wurde eine, die für niemanden stimmte. Für Vermieter Büchi unverständlich: «Da hilft man unbürokratisch und wird dafür abgestraft. Am Ende bleiben nur Ärger und Kosten.»
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4 Kommentare
Da bleiben Fragen offen! Aber nicht auf Seiten der Behörden: Was ist das genau für ein Wohnangebot, bei dem ein einzelnes Zimmer mehr als 800.- kostet? Ist das Umfeld geeignet für eine Frau mit einem 9-Jährigen Mädchen? Ist eine 2.5 Zimmerwohnung zum vergleichbaren Preis da nicht besser geeignet?
Welche Eigeninteressen stehen dahinter, wenn eine «Betreuung« bei 3km Distanz zur «Verzweiflung« (O-Ton Beobachter} des Betreuenden führt?
Die Behörden sind an die Schweigepflicht gebunden. Was für Überlegungen im Zusammenhang mit dieser Geschichte, vielleicht auch im Interesse der Schutzbedürftigen, getätigt wurden, dürfen sie nicht offen legen.
Was mir auch noch fehlt, ist die Stimme der hauptbetroffenen Frau.
Journalistische Qualität: ungenügend!
Ich verstehe die Haltung der Gemeinde, denn sonst würden andere Flüchtlinge ungleich behandelt werden. Ich begrüsse es, wenn Gemeinden sich an die Gesetze halten und nicht Willkür einkehrt. Jene die Geflüchtete unterstützen wollen, helfen am meisten, wenn die die Personen bei der Arbeitsintegration u/o beim Deutsch lernen unterstützen, dann können sie bald die Miete selber bezahlen.
Wenn die Unterbringung normalerweise über die Gemeinden läuft und diese bereits günstigen Wohnraum anbieten, ist das Verhalten der Gemeinde nachvollziehbar.
Wenn ich das verstanden habe, dann ging es schlussendlich nur noch um 50.-/Monat Mietmehrkosten, da der Vermieter von 800.- um 150.- entgegen gekommen sei. Kann so ein Problemchen tatsächlich nicht unbürokratisch lösbar sein unter vernünftigen Leuten ? Bestehender Vertrag hin oder her. Bedauerlich und gar nicht gut, was da abgegangen ist.