«Ritalin war das Einzige, das half»
Mal ist sie anhänglich und verspielt, mal unruhig und wuterfüllt: Bei der 9-jährigen Luisa* wurde die Aufmerksamkeits-Defizit-Störung (ADS) diagnostiziert. Im Interview erzählt ihre Mutter, mit welchen Vorurteilen sie konfrontiert wird und weshalb sie Ritalin gegenüber gemischte Gefühle hat.
aktualisiert am 30. März 2017 - 11:44 Uhr
Als bei Luisa* vor zwei Jahren ADS diagnostiziert wurde, war Victoria Bucher einerseits erleichtert. Endlich hatte sie eine Erklärung für die Konzentrationsprobleme, unruhige Art und Wutausbrüche ihrer Tochter. Andererseits veränderte die Diagnose kaum etwas. Luisas Verhalten in der Schule stört die anderen Kinder. Diese schliessen sie zwar nicht aus, sind aber distanziert. Hobbys hat das Mädchen kaum – sobald etwas zur Pflicht oder Regelmässigkeit wird, verliert sie das Interesse.
Beobachter: Es gibt viele Vorurteile über die Ursachen von ADS. So sollen zum Beispiel unausgewogene Ernährung, zu wenig frische Luft oder falsche Erziehung Auslöser sein.
Victoria Bucher: Wenn ich in Foren oder persönlich mit solchen Aussagen konfrontiert werde, macht mich das rasend! Ich habe schon immer gesund gekocht, der Fernseher läuft praktisch nie. Zu ADS und ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) hat jeder eine Meinung – ohne viel darüber zu wissen. Es handelt sich dabei weder um eine erfundene Krankheit noch um eine Folge von Erziehungsfehlern. Und doch werfen uns Fremde Blicke zu, wenn Luisa aus der Reihe tanzt.
Beobachter: Haben Sie ein konkretes Beispiel?
Bucher: Wenn sie zu wenig Aufmerksamkeit bekommt oder sich langweilt, folgen schlimme Wutanfälle. Auswärts kann sie sich gut zusammenreissen, aber wenn eine meiner Freundinnen zu Besuch kommt oder ich mich um Luisas jüngere Geschwister kümmere, will sie im Mittelpunkt stehen. Auch Hausaufgaben sind eine Tortur. Was 20 Minuten dauern könnte, zieht sich oft über Stunden. Luisa wirft ihre Sachen dann quer durch den Raum und verweigert sich komplett. Seit der Diagnose habe ich eine Erklärung für ihr Verhalten.
Beobachter: Warum haben Sie mit der Abklärung gewartet?
Bucher: Kinder sind verschieden. Nur weil Luisa lebhafter und lauter war als Nachbarskinder, wollte ich nicht gleich zum Psychiater rennen. Dieser diagnostizierte übrigens zuerst Unterforderung und meinte, das Problem sei gelöst, wenn ich Luisa stärker fördere. Erst der schulpsychologische Dienst sprach von ADS – einer Diagnose, die ich mir von zwei weiteren Ärzten bestätigen liess. Endlich hatte ich eine Erklärung für Luisas unruhige Art, ihre Mühe mit Veränderungen und die Konzentrationsprobleme.
Beobachter: Wie sah die Behandlung aus?
Bucher: Nach einer eingehenden Untersuchung wurde uns Ritalin empfohlen. Da ging ich auf die Barrikaden. Ich hatte so viel Schlechtes über das Medikament gehört und gelesen, dass ich total voreingenommen war. Als der Arzt mir die Wirkung erklärte, entschied ich mich dennoch für Ritalin. Luisa sollte die Chance haben, mit anderen Schülern mitzuhalten. Ausserdem beruhigte es mich, dass Gewicht und Blutwerte streng überwacht wurden.
«Mit Ritalin war sie ruhig und konzentriert, ohne Ritalin ein anderer Mensch.»
Victoria Bucher
Beobachter: Viele Eltern fürchten, dass Ritalin die Persönlichkeit ihrer Kinder verändern könnte.
Bucher: Das passiert höchstens, wenn das Medikament falsch dosiert oder angewendet wird. Bei Luisa war das nicht der Fall, ich erkannte in ihr noch immer meine Tochter. Nur konnte sie jetzt ein Buch lesen, ruhig spielen, Hausaufgaben erledigen und endlich etwas zu Ende führen. Auch in der Schule wurde sie ruhiger und konnte sich besser konzentrieren. Ich war überwältigt, wie toll Ritalin wirkte.
Beobachter: Und Luisa?
Bucher: Ein neunjähriges Kind kann mit dem Begriff ADS nicht viel anfangen. Ich habe ihr erklärt, dass ihr die Tabletten dabei helfen, sich besser zu konzentrieren – das hat sie dann auch gemerkt. Als wir Ritalin wieder absetzten, weinte sie oft und wollte die Tabletten zurück. Es fehlte ihr, eine erfolgreiche Schülerin zu sein.
Beobachter: Wieso setzten Sie das Medikament ab, wenn es so gut funktionierte?
Bucher: Kaum liess die Wirkung nach, war meine Tochter schlecht drauf – beinahe depressiv. Sie ass auch kaum noch etwas. Dieser Rebound-Effekt war entsetzlich! Ich konnte das nicht länger mit ansehen. Eine Weile probierten wir es mit dem schwächeren Präparat «Concerta», das aber kaum wirkte. Zuerst erzählte ich der Lehrerin nichts davon, es dauert aber nur kurze Zeit, bis ihr die krasse Verhaltensänderung auffiel.
Beobachter: Wie geht es jetzt weiter?
Bucher: Wir versuchen es gerade mit Sitzungen bei der Schulpsychologin. Während dieser geht es meiner Tochter gut, da sie spielen kann und viel Aufmerksamkeit erhält. In ihrem Verhalten zeigen sich aber keine Veränderungen. Wie es weitergeht, weiss ich nicht.
Beobachter: Vielleicht doch wieder mit Ritalin?
Bucher: Nein! Vielleicht... ich weiss es nicht. Ich frage mich manchmal, ob das Absetzen die richtige Entscheidung war. Nur stand die unbeschwerte Zeit im Vergleich zu den schlimmen Stunden danach in keinem Verhältnis. Vielleicht irgendwann wieder.
Beobachter: Fürchten Sie sich vor der Zukunft?
Bucher: Darf ich ehrlich sein? Sehr. Im Sommer steht der Wechsel in die 4. Klasse bevor. Trotz integrativer Förderung und Hausaufgabenhilfe wird es Monate dauern, bis Luisa sich an die Veränderungen gewöhnt.
Wir sind eine glückliche Familie. Trotzdem würde ich mir wünschen, dass Fremde uns nicht mehr so schnell verurteilen. ADS ist eine Krankheit – wer das nicht versteht, soll aus der Luft gegriffene Unterstellungen für sich behalten.
* Name geändert
ADS/ADHS
ADHS und ADS sind Aufmerksamkeitsstörungen. Betroffene mit ADHS können sich nur schwer konzentrieren und reagieren sehr impulsiv. Eine deutliche Überaktivität tritt nicht immer auf – daher die Unterscheidung des Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms mit Hyperaktivität (ADHS) vom Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom ohne Überaktivität (ADS).
Mehr zu den Störungen erfahren Sie hier.
Dieses Interview erschien im Mai 2016.
18 Kommentare
Ich bin Mutter von gleich 4 ADS Söhnen. Nur einer bekommt zur Zeit Medikinet. Er hatte besonders grosse Probleme und bei uns läuft es seit der Medikamenten Einnahme viel besser in der Schule aber auch Privat. Auch ich habe viel gelesen bevor ich mich dazu entschieden hab. Zu dem Reboundeffekt möchte ich folgendes sagen. Ich halte es für falsch das Medikament nur unter der Woche zu geben und am Wochenende auszusetzen. Den anders als oft beschrieben ist die Konzentration nur das Ergebnis der Wirkung. Vielmehr kann das Kind Reize besser filtern, dies hilft ihm auch ihm emotionalen Bereich. Anders gesagt weniger Reize weniger Stress ist gleich weniger Wutausbrüche bessere Selbsteinschätzung der Gefühle. Außerdem lässt der Rebound effekt nach ca. einem halben Jahr der dauerhaften Einnahme nach. Dann kann man wieder einen Auslassversuch starten. Leider wird das viel zu wenig erklärt. Auch die Dosierung ist ein wichtiger Faktor.
Liebe r RB, auch ich habe schon Omega3 + 6 bei meinen Kindern probiert. Ich kann bestätigen das es etwas Wirkung zeigt, aber es ist kein Wundermittel gegen ADS. Es hilft etwas aber eben nicht ausreichend. Im Grunde hilft alles was Energie gibt.