«Niemand sprach, die Babys bekamen Schlaftabletten»
Sattar Afzali ist aus Afghanistan in die Schweiz geflohen. Die traumatischen Erlebnisse hat er literarisch verarbeitet. Ein Gespräch über Flucht, Tod, Träume – und das Leben im Bündnerland.
Veröffentlicht am 25. Mai 2023 - 16:25 Uhr
Sein erster Traum rollte. So schnell, dass er vom Rasen abhob und durch die Lüfte schoss. Über Köpfe hinweg, am Torwart vorbei, unter der Latte ins Netz. Ein Kommentator schrie, die Menge tobte. «Goaaal!»
Als Bub kauerte Sattar Afzali vor dem Fernseher und träumte von Dingen, die es in seinem Dorf nicht gab. Dalkhak liegt in der zentralen Region Afghanistans, in einer kargen Ebene, umgeben vom Gebirge. Für Vorräte reiste der Vater einmal im Monat in ein anderes Gebiet. Strom gab es mal morgens, mal abends – wenn überhaupt. Oft blieb es finster, der Fernseher schlief. Dann dribbelten die Fussballer nur noch durch Sattars Gedanken.
Es gab eine Zeit, da machte ihm die Dunkelheit nichts aus. Das sollte sich ändern.
«Ich kann nicht mehr aus tiefstem Herzen glücklich sein, weil ein Stück meines Lebens nie zu mir zurückkehren wird und ich mein halbes Leben ohne dieses Stück verbringen muss.»
Alle Zitate stammen aus Sattar Afzalis Vertiefungsarbeit für die Berufsschule.
Zehn Jahre später ist ein riesiger Fernseher das Herzstück der Stube im Bündnerland. «Hier schaue ich mir die Tricks der Fussballer ab», sagt Sattar Afzali, heute 21, und lässt sich aufs Sofa fallen. Unter seinen Füssen spannen afghanische Teppiche, auf einem Glastisch liegen Früchte, Pistazien und Schokolade. «Gastfreundschaft ist meinen Eltern wichtig. Auch wenn sie selber nichts davon essen.» Der Fastenmonat Ramadan endet am nächsten Tag. Dann wird gekocht, gegessen, gefeiert.
2017 kamen die Afzalis als Geflüchtete in die Schweiz. Aufenthaltsstatus: F, vorläufig aufgenommen. Sechs Jahre lebten sie im Asylzentrum, dann zog die Familie in eine Altbauwohnung in Ilanz. Sattar bekam sein erstes eigenes Zimmer mit Blick auf verschneite Gipfel. «Sie erinnern mich an Dalkhak. Mit einem Unterschied: Hier gibt es selbst auf den entlegensten Bergen bessere Strassen als in afghanischen Städten.»
Der 21-Jährige spricht fast fehlerfreies Hochdeutsch, gesprenkelt mit Dialekt. Bald macht er die Lehrabschlussprüfung als Bodenleger, auf dem Bau nennen sie ihn Satti. Seine Vertiefungsarbeit für die Berufsschule trägt den Titel «Meine Flucht aus Afghanistan». «Ich bin Sattar, ein Kleinstadtjunge mit Grossstadtträumen», heisst es auf der ersten Seite. Dann beginnt Sattars Geschichte – «auf der dunklen Seite der Welt», wie er seine Heimat nennt.
«Ein Ort, wo die Sonne der Freiheit nicht aufgeht. Wo du morgens und tagsüber an den Tod denkst, wo du nur atmest, aber nicht lebst. Wo sie Frauen nicht respektieren. Ein Ort, an dem selbst Tiere keinen Frieden finden und viele Dinge ungesagt bleiben.»
In Dalkhak ist Bildung die wichtigste Ressource. Denn wer es zu etwas bringt, kann nach Kabul oder ins Ausland. Dahin, wo es Strom und Arbeit gibt. Also sparten auch die Afzalis für die Zukunft ihrer Kinder. Mit Erfolg: Der älteste Sohn wurde Professor an der Uni, die Tochter zog zum Studieren aus. Nur der Jüngste, Sattar, konnte nicht zur Schule – das Geld fehlte.
Also nahm sein Vater eine Stelle bei einem amerikanischen Fahrdienst an. Eine Weile verdiente er gutes Geld, doch dann erfuhren die Taliban vom Geschäft mit den ungläubigen Christen. Sie verwarnten die Sünder erst, drohten aber bald mit Mord am jüngsten Kind. Von da an stand fest: Ein Leben in Frieden würde nicht mehr möglich sein. Die Afzalis mussten weg. So schnell es ging, so weit sie konnten.
«Eines Nachts, als ich schlief, weckten meine Eltern mich. Wir passierten die Strasse in den Iran, und ich sah nichts als den Mond, den Himmel, die Sterne und die Ebene.»
Schlepper hatten der Familie einen Unterschlupf im Iran organisiert. Nach einigen Tagen fuhren sie in Autos mit verdunkelten Scheiben in die Nähe der türkischen Grenze. Die letzten Kilometer sollten sie zu Fuss gehen, um keine Aufmerksamkeit zu erregen – mit hundert anderen Geflüchteten.
«Wir liefen stundenlang. Niemand sprach, Babys wurden mit Schlaftabletten ruhig gestellt», erinnert sich Sattar. Und doch: Kurz vor dem Grenzpunkt weinte ein Kind. Scheinwerfer gingen an, die Polizei strömte aus, die Afzalis entkamen nur knapp. Ein Umweg führte über einen Berg, doch viele Flüchtende waren zu erschöpft für den Aufstieg. Auch Sattar legte sich für eine Weile hin – und war plötzlich allein.
«Als ich aufwachte, schaute ich überallhin, und da waren schneebedeckte Berge. Ich dachte darüber nach, wo meine Eltern sind, ob sie noch leben.»
Im Schneesturm traf er einen kleinen Buben, der weinte und schrie, der Hilfe brauchte. «Ich konnte ihn nicht mitnehmen. Ich war doch selber noch ein Kind», sagt Sattar. Die Szene verfolgt ihn, sobald er die Augen schliesst. «Manchmal bin ich verzweifelt. Es gab viele Nächte, da dachte ich an Suizid.» Eine Therapie habe er nie gemacht – niemand aus der Familie. Geld? Scham? Schulterzucken.
Während Sattar erzählt, setzen sich seine Eltern auf das zweite Sofa. Beide barfuss und einen Kopf kleiner als ihr Sohn. «Meine Mutter ist jeden Tag traurig, mein Vater will stark sein», sagt er. Die beiden lächeln, obwohl sie nur wenige Wörter Deutsch verstehen. Auf Sattars linkem Handgelenk stehen die persischen Worte für «Vater» und «Mutter».
«Meinen Eltern gefallen die Tattoos nicht», sagt er und zeigt seinen rechten Arm. «Anstrengung» steht da. Darüber: «I was born to win» – geboren, um zu gewinnen.
«Während ich tief in Gedanken versunken war, sah ich Leute von der Spitze des Bergs herunterkommen. Ich sah, dass zwei von ihnen meine Eltern waren. Ich rannte mit aller Kraft auf sie zu.»
Erst nach ein paar Stunden fand die Familie wieder zusammen. Die Flucht ging weiter, nächster Stopp: Istanbul, wo Sattar zum ersten Mal im Restaurant ass und Männer mit kleinen Plastikkarten bezahlten. Wo Frauen wie Bienen durch den Basar strömten und ein Leben nach der Flucht schon greifbar schien – bevor es weiter westwärts ging.
Ein Schlauchboot mit einem kleinen Motor sollte 70 Flüchtende nach Griechenland bringen.
«Gegen 3 Uhr nachts ging das Benzin aus, und wir steckten mitten im Meer fest. In diesem Moment dachten wir an nichts als den Tod.»
Polizeischiffe brachten die Gruppe nach Griechenland. Zwei Wochen lebten sie im Flüchtlingscamp Samos, danach ging es nach Idomeni an der mazedonischen Grenze. Erst nach Monaten im Zelt gelang die Weiterreise. Über Mazedonien, Serbien und Österreich bis in die Schweiz. In einem Bündner Asylzentrum fanden die Afzalis endlich eine Bleibe.
Und für Sattar erfüllten sich Träume: Zuerst trat er dem Fussballverein bei, für den er noch heute im Angriff spielt. Dann besuchte er zum ersten Mal eine Schule, wo er Deutsch und Rechnen lernte. Wo er immer besser wurde und die Oberstufe abschloss. Vor drei Jahren begann er seine Lehre, bald ist er fertig – und darf im Betrieb bleiben.
«Die Kollegen, mit denen ich zusammenarbeite, helfen mir alle entweder fachlich, schulisch oder sogar finanziell. Wir sind jetzt wie eine Familie.»
Es ist inzwischen Nachmittag, als Sattars Handy leuchtet. Er ist mit einem Freund verabredet – Claudio. Der 39-Jährige ist Lehrer und Fussballtrainer. Er war es, der Sattar eine Spielerlizenz besorgte. Der ihn immer wieder unterstützte, finanziell und mental. «Er ist wie ein grosser Bruder für mich. Immer, wenn ich Hilfe brauche, ist er für mich da.»
Bei einem Cappuccino erinnern sich die beiden zurück – für einmal an die schönen Momente. «Einmal hast du mit deinen Eltern gefastet, gäll?», fragt Claudio. – «Wir hatten ein Match, ich habe richtig schlecht gespielt!» – «Ich musste dir in der Pause ein Snickers holen.» – «Ein Twix! Dann habe ich fünf Tore geschossen.»
«Ich kenne jetzt viele Leute, und viele Leute kennen mich. Im Sommer gehe ich mit meinen Kollegen ins Schwimmbad, wir spielen Tennis und Beachvolleyball. Im Winter spielen wir in der Turnhalle und gehen zusammen ins Fitnesscenter.»
Sattar Afzali ist ein Kleinstadtjunge geblieben, aber seine Träume sind erwachsen geworden. Wenn er nachts die Augen schliesst, sieht er das schwarze Meer und die weissen Berge. Dann verfolgt ihn die Angst vor dem Ertrinken und Erfrieren.
Im Tageslicht wandeln sich die Träume: Da wünscht er sich einen Schweizer Pass, mit dem er verreisen kann. Nach Barcelona, ins Stadion seines Lieblingsvereins. In die Türkei oder den Iran, wo inzwischen viele seiner Freunde leben. Vielleicht sogar nach Afghanistan, irgendwann, wenn endlich Frieden herrscht.
Und dann? Zurück. Immer zurück in die Schweiz. Dahin, wo Strassen über die höchsten Berge führen und Träume über Wiesen rollen.
1 Kommentar
Beim lesen schossen mir Tränen in die Augen.