Die Schweiz will wieder nach Italien abschieben – trotz Kritik
Schon lange stehen Rückführungen von Asylsuchenden nach Italien in der Kritik. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe warnt vor prekären Zuständen und neuen Verschärfungen.
Veröffentlicht am 1. März 2023 - 11:43 Uhr
Seit Anfang Dezember 2022 sperrt sich Italien wegen «temporärer Überlastung» dagegen, Asylsuchende zurückzunehmen. Das gilt nicht nur für die Schweiz. Italien ist mit dem ganzen Dublin-Gebiet auf Konfrontationskurs, also mit der EU und den assoziierten Staaten Schweiz, Norwegen, Island und dem Fürstentum Liechtenstein. Gemäss Dublin-Abkommen müsste unser südlicher Nachbar eigentlich diejenigen Schutzsuchenden wieder bei sich aufnehmen, die dort zuerst ein Asylgesuch stellten, bevor sie in ein anderes Land weiterreisten.
Gerüchten zufolge steht die italienische Sperre kurz vor der Aufhebung. Das Staatssekretariat für Migration SEM sagt jedoch auf Anfrage, dass sie immer noch gilt.
Italien bricht damit seit drei Monaten einen geltenden Vertrag. Und das hat Konsequenzen: Die Schweiz kann deshalb momentan rund 170 Personen nicht nach Italien zurückführen. Das SEM sagt zwar, ein kurzfristiger Aufnahmestopp sei verkraftbar, weil die Frist für die Überstellung von Dublin-Fällen erst nach sechs Monaten ablaufe und man die Leute auch nachträglich überstellen könne. Doch jetzt ist schon Halbzeit. Die Europäische Kommission und die Schweiz stünden mit den italienischen Behörden in Kontakt. Der genaue Zeitpunkt für die Aufhebung sei noch nicht bekannt, man werde darüber informieren, sobald man ihn kenne.
Das Interesse ist klar – ganz Europa will seine Dublin-Fälle wieder zurück nach Italien liefern. Flüchtlingsorganisationen kritisieren diese Abschiebungen aber schon lange. Der Umgang mit Asylsuchenden in Italien lässt nämlich aufhorchen: So deckte SRF kürzlich auf, dass auf Touristenfähren Unmenschliches passiert: Unter Deck würden Flüchtlinge angekettet, in Schächten oder defekten Toiletten eingesperrt und so illegal nach Griechenland abgeschoben.
Verschärfungen in Aussicht
Italien ist für die Schweiz eines der wichtigsten Partnerländer in Asylfragen. Mit keinem anderen Land führt die Schweiz mehr Dublin-Verfahren als mit Italien. Im letzten Jahr betraf dies 1689 Personen, ein Fünftel aller Schweizer Fälle.
Auch wenn Italien dereinst wieder Dublin-Flüchtlinge aufnimmt – die Schweizerische Flüchtlingshilfe fordert, dass die Schweiz künftig von Überstellungen ins Nachbarland absieht. Die Zustände seien schlicht zu prekär. «Staaten, die Asylsuchende in andere Länder zurückschicken, haben diesen Menschen gegenüber eine Verantwortung», sagt Adriana Romer, Juristin und Italien-Expertin bei der Schweizerischen Flüchtlingshilfe. «Es geht nicht an, sie wissentlich in unwürdige Zustände abzuschieben. Wollen wir wirklich Leute zurück in eine Situation von Elend und Not schicken? Zum Beispiel eine Frau mit kleinem Kind in die Obdachlosigkeit?» Von der Regierung Meloni erwarte man dieses Jahr zudem weitere Verschärfungen. Diese Tendenz habe sich jüngst bereits bei den Seenotrettungen gezeigt.
Das Problem sei die schwierige Situation mit der Unterbringung der Asylsuchenden, sagt Adriana Romer. Es habe zu wenige und vor allem auch zu wenig spezialisierte Plätze für verletzliche Personen, wie zum Beispiel Familien mit Kindern, traumatisierte Menschen oder solche mit gesundheitlichen Problemen. Die Bedingungen in den Zentren seien enorm unterschiedlich und oft ungenügend. Da kaum finanzielle Mittel für die Unterbringung vorhanden seien, wolle kaum jemand diese Zentren führen. Geld gibt es gemäss einem Bericht der Flüchtlingshilfe nicht für die Anzahl zur Verfügung gestellter Plätze, sondern pro tatsächlich untergebrachten Asylsuchenden. Deswegen seien viele Zentren überfüllt, damit sie sich wirtschaftlich überhaupt lohnen.
Probleme mit der Mafia
Die Führung der Zentren wird alle sechs Monate neu ausgeschrieben, weil ein Grossteil von ihnen ursprünglich als Notfallzentren für eine kurze Zeit angedacht war. Von den 66’000 Plätzen im Jahr 2022 konnten laut einer Mitteilung des Innenministers nur 37’000 vergeben werden, also lediglich 57 Prozent. Und das, obwohl es keinerlei Vorgaben für die Qualifikation der Bewerber gibt, sagt die Italien-Expertin der Schweizerischen Flüchtlingshilfe. Komplett unqualifizierte Personen und Unternehmen können sich bewerben, was mitunter zu absurden Situationen führe: «In der Toskana hat einmal eine Müllfirma ein solches Zentrum übernommen. Klar, das ist ein Extrembeispiel. Aber solche Sachen passieren, weil es schlicht keine Ansprüche an die Leitung gibt.» Das sei verheerend. Natürlich gebe es aber auch viele gut geführte Aufnahmezentren, besonders dort, wo sich die Zivilgesellschaft engagiere.
Das Schwierige sei eben, dass die Qualität extrem variiere. Dazu kommen Probleme mit dem organisierten Verbrechen: Verbindungen zwischen der Mafia und den Organisationen, die die Zentren leiten, führten bereits 2014 zu Verhaftungen und einem internationalen Aufschrei. Trotzdem bestehen sie offenbar weiterhin.
Zusicherungen für verletzliche Personen
Dazu kommt: Personen, die von Italien in ein anderes Land weiterreisen, verwirken ihr Recht auf Unterbringung. Werden die Leute später nach Italien zurückgebracht, sind sie vom Unterbringungssystem gänzlich ausgeschlossen. Der ehemalige Innenminister Matteo Salvini verschärfte die Regelung 2018 sogar noch, weshalb das Bundesverwaltungsgericht 2019 strengere Vorgaben für die Überführung von Familien nach Italien erliess, die es 2021 jedoch wieder lockerte. In der Realität habe sich aber wenig geändert, sagen zivilgesellschaftliche Organisationen wie Humanrights.ch.
Müsste das SEM dem nicht auf den Grund gehen, bevor es Menschen nach Italien abschiebt? Teilweise verschafft man sich offenbar auch vor Ort einen Augenschein: «Das SEM besucht Aufnahmestrukturen in Partnerstaaten wie Italien, nimmt aber natürlich keine Inspektionen in souveränen europäischen Staaten vor», sagt ein Mediensprecher. Die Kritik der Flüchtlingshilfe sei dem SEM bekannt, werde aber weder von den nationalen noch den internationalen Gerichten geteilt. Die Behörde halte sich an die Rechtsprechung.
Für besonders Verletzliche, wie Familien mit Kindern, muss der Bund seit 2014 Zusicherungen von Italien einholen, dass sie dort eine altersgerechte Unterbringung erhalten und die Einheit der Familie gewährleistet ist. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte rügte die Schweiz nämlich wegen der geplanten Rückführung einer achtköpfigen afghanischen Familie. Die Schweiz würde das Verbot von unmenschlicher Behandlung verletzen, wenn man die Familie zurückschicke, ohne vorgängig Garantien einzuholen. Bis heute muss das SEM vor Abschiebungen solche Garantien von Italien anfordern – teilweise auch für Personen mit gesundheitlichen Problemen.
Auch wenn alles juristisch korrekt sei – von diesen Garantien hält die Flüchtlingshilfe nichts. Sie seien sehr allgemein gehalten. Im Prinzip sei das ein Brief, in dem steht, dass Italien eine adäquate Unterbringung beabsichtige. «Solche Zusicherungen sind nichts mehr wert, sobald die Person in Italien ankommt», sagt Adriana Romer. Die Erfahrung der Flüchtlingshilfe zeige, dass auch in Fällen, in denen die italienischen Behörden individuelle Garantien abgegeben haben, die überstellten Asylsuchenden nicht immer diesen Garantien entsprechend aufgenommen würden. «Sie werden – wenn überhaupt – häufig in grossen Kollektivzentren untergebracht, welche für verletzliche Personen ungeeignet sind und deren besonderen Bedürfnissen nicht Rechnung tragen.»
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Flüchtlingsmigration nach Europa: Erfolg für Meloni!
Laut der italienischen Zeitung Il Giornale ist der Rückgang teilweise auf den Flüchtlingsdeal zwischen Italien und Albanien zurückzuführen. Das Abkommen ermöglicht Italien den Betrieb von zwei Asylzentren auf albanischem Boden, um Asylverfahren dort abzuwickeln und schnelle Rückführungen von abgelehnten Asylbewerbern zu ermöglichen.
Zusätzlich spielt das 2023 geschlossene Abkommen zwischen der EU und Tunesien eine Rolle. Dieses zielt darauf ab, die irreguläre Migration durch erleichterte Rückführungen, verstärkten Grenzschutz und wirtschaftliche Unterstützung für Tunesien zu reduzieren.
Die italienische Premierministerin Giorgia Meloni sieht sich durch die Rückgangszahlen bestätigt. Gleichwohl fordert sie verstärkte Massnahmen dazu, die irreguläre Migration zu bekämpfen.