Leben mit dem Vergessen
Verwirrt, verloren, aggressiv: Die Zahl der Demenzkranken steigt rasant. Höchste Zeit, das Thema zu enttabuisieren. Und zu lernen, mit Betroffenen umzugehen.
Sandra Schäppi lacht. «Da haben wir ja einiges richtig gemacht, wenn dieses Tabuthema so ins Auge sticht.» Sie führt im Auftrag der Stadt die Infostelle Betreuung und Pflege – Anlaufstation für alle Fragen rund um Demenz. Schäppi ist charmant, voller Verve und Tatendrang. «Als Pflegefachfrau habe ich lange mit Demenzkranken gearbeitet. Ich habe keine Berührungsängste. Im Gegenteil: Das Thema ist mir eine Herzensangelegenheit.»
Dank dem Engagement der 47-Jährigen hat die Kleinstadt Ende 2016 das Projekt «Demenzfreundliche Gesellschaft Wädenswil» begonnen – breit abgestützt durch zahlreiche Organisationen von der Spitex über Pro Senectute bis zur Kantonspolizei.
Im Lauf von eineinhalb Jahren hat der Berner Fotograf Rob Lewis im Zentrum Schönberg Demenzkranke im Projekt «ich bin. bin ich?» porträtiert. Während sie ihr Spiegelbild betrachteten, fotografierte Lewis mit Einwilligung ihrer Familien durch einen Einwegspiegel. Diese hier im Text integrierten Fotos sind Teil des Projekts. Das Zentrum unterstützte den Bildband (siehe Buchtipp am Textende).
Demenz_Bieri
Demenz heisst übersetzt «Entgeistigung». Betroffene verlieren die Orientierung – räumlich, zeitlich und sozial. Mehr noch: Das Bewusstsein über die eigene Biografie kommt ihnen abhanden. Ihr Verhalten ist mitunter verstörend . Sie brauchen Hilfe im Alltag, die jeder leisten kann, der weiss, worauf zu achten ist. «Wissen über die Krankheit vermitteln und die Gesellschaft dafür sensibilisieren – das ist unser Ziel», sagt Fachfrau Schäppi. «Ein offener Umgang mit Demenz mindert die Isolation und ermöglicht Unterstützung auch von Freunden oder Nachbarn.»
«Demenz ist keine gute Krankheit, um damit allein zu sein.»
Christoph Held, Gerontopsychiater
Soziale Teilhabe ist sehr wichtig für Betroffene, sagt auch der Zürcher Gerontopsychiater Christoph Held (siehe Interview «Demenz ist nicht einfach langsames Vergessen und Erlösung»). «Demenzbetroffene sollen nicht unbegleitet sein im Erleben, dass sie es mit einer unheimlichen Krankheit zu tun haben.» Gerade in der Frühphase seien noch viele geistige Fähigkeiten vorhanden, die einen weitgehend normalen Austausch mit anderen ermöglichen. «Demenzkranke haben schon mit einer inneren Isolation zu kämpfen. Es ist fatal, wenn auch noch eine äussere dazukommt», so Held weiter. «Demenz ist keine gute Krankheit, um damit allein zu sein.»
Rund zwei Drittel der Erkrankten leben zu Hause. Sie brauchen Verständnis – in den eigenen vier Wänden wie im öffentlichen Raum. «Wädenswil leistet da vorbildliche Pionierarbeit», sagt Christina Krebs, Geschäftsleiterin von Alzheimer Zürich. «Es geht ums Vernetzen der wichtigen Player, nur so kann es funktionieren.» Aber es sei ein langer Weg zu einem demenzfreundlichen Umfeld. «Alle Akteure sind gefordert und müssen an einem Strick ziehen.»
Zurzeit gibt es rund 148'000 Personen mit Demenz, die meisten sind über 65, wie neue Erhebungen von Alzheimer Schweiz zeigen (siehe Infobox «Fakten zur Volkskrankheit» unten). Dazu kommen 444'000 Angehörige. Weil die Lebenserwartung steigt, dürften auch diese Zahlen weiter steigen – mit entsprechenden Anforderungen an Gesellschaft und Institutionen. Um besser gerüstet zu sein, lancierten Bund und Kantone die Nationale Demenzstrategie 2014–2019. Dazu gehört, was Wädenswil im Kleinen aufgleist: die verstärkte Sensibilisierung der Öffentlichkeit.
Jedes Jahr erkranken 28'000 Menschen in der Schweiz neu an Demenz – mehr, als Wädenswil Einwohner hat. Bis 2040 rechnet man mit knapp 300'000 Erkrankten, das entspricht etwa der Bevölkerung des Kantons Baselland. Es werden also immer mehr Demenzkranke unter uns leben, uns begegnen . In der Bäckerei oder im Bus, bei der Ärztin oder beim Coiffeur. Der alte Mann, der im Laden scheinbar sinnfrei Hundeguetsli-Packungen aufreisst, weil er nicht mehr weiss, welche die richtigen für seinen Dackel sind. Die Seniorin, die zum fünften Mal am Tag Butter kaufen kommt und wütend wird, wenn sie jemand darauf hinweist.
In Wädenswil verteilt die Altersbeauftragte Sandra Schäppi Flyer zu Veranstaltungen zum Thema Demenz, zu einer Lesung im Café oder einem Infoabend im Kirchgemeindesaal. Die Leute kennen sie. Sie lächelt, schüttelt Hände, «networkt». Das müsse sie tun, nur so erreiche sie die Bevölkerung. «Man muss rausgehen und dranbleiben.»
Unsicherheit und Angst prägen den Umgang mit Demenzkrankheiten. Angehörige übernehmen einen grossen Teil der Betreuung und Pflege – trotzdem steigen die Kosten jedes Jahr.
34%
der Schweizerinnen und Schweizer haben Angst, an Alzheimer oder einer anderen Form von Demenz zu erkranken. (Quelle: Demoscope/«Schweizer Illustrierte»)
2 von 3
Menschen mit Demenz leben zu Hause und werden von ihren Angehörigen betreut und gepflegt. Die anderen leben in Pflegeeinrichtungen. (Quelle: Alzheimer Schweiz)
43%
können sich vorstellen, den Freitod zu wählen, wenn sie an Demenz erkranken. (Quelle: Demoscope/«Schweizer Illustrierte»)
«Von wem möchten Sie im Fall einer Demenzerkrankung betreut werden?»
9.5 Mrd.
Franken kosteten Demenzkrankheiten 2017 gemäss einer groben Schätzung der Schweizerischen Alzheimervereinigung. Das ist etwa doppelt so viel, wie der Bund für die Landesverteidigung ausgibt.
Alter als grösstes Risiko
Lesebeispiel: 4 Prozent der 70- bis 74-jährigen Frauen und 3 Prozent der gleich alten Männer sind an Demenz erkrankt. Frauen sind öfter betroffen – unter anderem weil sie älter werden.
Alle drei Sekunden
erkrankt ein Mensch auf der Welt an Demenz. Die Anzahl Fälle wird künftig vor allem in Entwicklungs- und Schwellenländern schneller steigen.
Letztes Jahr wurden in der Zürichseegemeinde 120 Personen im Umgang mit Demenzkranken geschult. Freiwillige. «Ein schöner Erfolg», sagt Tom Waldis von der Home-Instead-Seniorenbetreuung, der die kostenlosen Schulungen durchführt.
Leider hätten sich kaum Busfahrer oder SBB-Mitarbeiter gemeldet, da müssten sie wirklich dranbleiben, der öffentliche Verkehr sei immens wichtig. Demenzkranke verlaufen sich oft und finden nicht zurück nach Hause. Wenn ein Zugbegleiter merkt, was los ist, und rechtzeitig die Polizei informiert, kann er viel Unheil verhindern.
«Unser Engagement beginnt zu fruchten.»
Sandra Schäppi, Verantwortliche der Wädenswiler Infostelle Betreuung und Pflege
Soeben hätten sich die Mitarbeiterinnen der Stadtbibliothek zu einer Schulung angemeldet, erzählt Schäppi. Sie strahlt: «Unser Engagement beginnt zu fruchten, das Bedürfnis wächst, mehr über die Krankheit zu wissen.» Sie berichtet auch von einer Rückmeldung des Betreibungsamts: Die Beamten seien seit der Schulung viel aufmerksamer im Umgang mit Personen, die Fristen nicht einhalten. Normalerweise gebe es eine Busse, wenn jemand nicht auf Vorladungen reagiere. Doch jetzt werde im Zweifel erst einmal abgeklärt, ob der Schuldner eventuell krank sei. Ein menschlicheres Vorgehen – und demenzfreundlich.
Ähnliches sagt Natascha Franssen von der städtischen Immobilienverwaltung. Sie ist die Anlaufstelle für Wohnungssuchende und verwaltet auch die Alterssiedlungen; daher hat sie auch oft mit Senioren zu tun. «Seit der Schulung bin ich viel sensibler und schicke nicht gleich eine Abmahnung, wenn etwas schiefläuft.»
Franssen erzählt von einer älteren Frau, die sich in der Wohnung verbarrikadiert hat. «Alles war voller Schimmelpilze.» Es stellte sich heraus, dass die Frau dement war, verstrickt in Wahnvorstellungen. Mit geeigneter Hilfe konnte sie noch mehrere Monate in der Wohnung bleiben, bevor sie in ein Heim übersiedelte .
«Ein völlig falsches Datum auf einem Anmeldeformular kann ein Anzeichen sein.»
Natascha Franssen, Immobilienverwaltung Stadt Wädenswil
Heute gehe sie auch mal mit einem Senior zur Bank und regle für ihn die Anpassung der Mietzinsüberweisung, wenn er das allein nicht mehr hinbekomme, erzählt Franssen. «Es ist gar nicht so schwer. Man muss einfach aufmerksam sein und Verständnis haben, wenn jemand zum Beispiel auf ein Anmeldeformular für eine Wohnung ein völlig falsches Datum schreibt.» Das könne ja auch ein Anzeichen einer beginnenden Demenz sein.
«Sie stand mitten in der Untersuchung auf, wollte wegrennen, fing an zu schreien.»
Zwei Dentalassistentinnen über eine demenzkranke Patientin
Zwei Dentalassistentinnen, ebenfalls geschult, berichten von einem betagten Mann, der jeweils seine Frau zum Zahnarzt begleitet. Stets habe er erzählt, sie wirke verwirrt, weil sie gestürzt sei. Die Assistentinnen vermuteten schon länger eine Demenz. Erst kürzlich habe er ihnen erzählt, was wirklich los ist.
«Wir waren erleichtert, denn es ging nicht mehr mit ihr. Sie stand mitten in der Untersuchung auf, wollte wegrennen, fing an zu schreien.» Für die Behandlung sei wichtig, zu wissen, ob jemand krank ist und welche Medikamente er nimmt – sonst könne es zu Unverträglichkeiten kommen oder gar zu lebensbedrohlichen Situationen. Seit der Schulung würden sie genauer hinschauen und versuchen, diskret zu erfahren, weshalb sich jemand auffällig verhalte.
Demenz ist der Überbegriff für Krankheitsbilder, die mit dem Verlust geistiger Funktionen einhergehen – Denken, Erinnern, Orientierung. So kann man immer mehr alltägliche Verrichtungen nicht mehr eigenständig ausführen. Das fortlaufende Wegfallen dieser Fähigkeiten geschieht meist nach einem Muster: Was man als Kleinkind zuletzt gelernt hat, geht bei Demenz zuerst verloren.
Es gibt über 70 Formen der Krankheit. Am stärksten verbreitet ist die Alzheimer-Demenz; rund 60 Prozent der Betroffenen leiden daran. Die zweithäufigste Form ist die vaskuläre, also gefässbedingte Demenz. Sie entsteht aufgrund von Durchblutungsstörungen. Das kann beeinflusst werden, indem man hohen Blutdruck oder Herzrhythmusprobleme behandelt.
Ansonsten existieren bis heute keine Medikamente oder erfolgreichen Therapien gegen Demenz – die Forschung tappt im Dunkeln. Deshalb gibt es auch nur ganz allgemeine Präventionsregeln, die das Risiko mindern sollen: ausreichend Bewegung, vitaminreiche, fettarme Ernährung, Übungen fürs Gehirn und soziale Kontakte.
Vergesslichkeit und zunehmende Sprachschwierigkeiten sind erste Anzeichen einer Erkrankung. Die Symptome verstärken sich in einem fort, durchlaufen drei Stadien (siehe Infobox am Textende «Demenz: Drei Phasen»). Die letzte Phase macht eine umfassende stationäre Betreuung in einem Heim nötig; dieses Stadium kann sich über zwei oder mehr Jahre hinziehen. Im Schnitt dauert eine Demenzerkrankung acht bis zehn Jahre. Dabei gilt: Je früher man erkrankt, desto schneller verläuft der ganze Prozess.
Es ist nicht einfach, mit Demenzkranken zu kommunizieren. Katijana Harasic ist darin eine Meisterin. Die 62-jährige gelernte Pflegefachfrau arbeitete 15 Jahre auf der Demenzstation eines Pflegezentrums. Sie ist ausgebildet in der sogenannten integrativen Validation, einer wertschätzenden Umgangs- und Kommunikationsform. Harasic erteilt Kurse zum Thema. Sie hat auch das Personal des Wädenswiler Alterszentrums Frohmatt geschult.
«Gewohnheiten, Antriebe und Gefühle bleiben bei Demenzkranken noch sehr lange lebendig. Dort muss man sie abholen.»
Katijana Harasic, Pflegefachfrau
Harasic, eine warmherzige Frau mit kurzem Haar, auffälliger Brille und viel Silberschmuck, trägt das Herz auf der Zunge. Grundregeln der Kommunikation mit Demenzkranken seien: nah an die kranke Person herangehen, Blickkontakt halten, langsam und deutlich sprechen, kurze und einfache Sätze verwenden. Fragen vermeiden, nur eine Mitteilung aufs Mal geben und das Gesagte mit Gesten und Mimik unterstützen. Dabei stets freundlich und respektvoll bleiben. Katijana Harasic ergänzt: «Gewohnheiten, Antriebe und Gefühle bleiben bei Demenzkranken noch sehr lange lebendig. Dort muss man sie abholen.»
Ein Beispiel: Eine alte Frau weigert sich zu duschen. Sie schreit und beisst, lässt sich kaum beruhigen. Da wäre es gut, zu wissen, dass die Frau früher immer abends geduscht hat. Ihr Leben lang, das ist so in ihr drin. Wenn nun jemand von der Spitex sie morgens weckt und sofort ins Bad bringen will, ist das aus ihrer Sicht eine Frechheit. Nur deshalb regt sie sich so auf, kann das aber aufgrund der Erkrankung nicht mitteilen. Viele solche Missverständnisse wären einfach zu vermeiden, wenn man die Biografien besser kennen würde, sagt Harasic. «Niemand reagiert grundlos aggressiv.»
«Es braucht noch sehr viel Aufklärung, sowohl beim Fachpersonal als auch bei der breiten Bevölkerung», sagt Christina Krebs von Alzheimer Zürich. Nur 35 Prozent der Bevölkerung fühlen sich gut über Demenz informiert, zeigte unlängst eine Studie. Die Unsicherheit im Umgang mit den Betroffenen ist gross (siehe Infobox unten «So reagieren Sie richtig»). «Wir müssen Hemmnisse abbauen», sagt Krebs. Die Zahl der Erkrankten nimmt zu, das fordere die ganze Gesellschaft. «Darauf müssen sich das Gesundheitssystem, das Sozialsystem sowie die Politik in der Schweiz besser einstellen und lernen, zusammenzuarbeiten.»
Im Zug: Ausrasten
Ein Senior und seine Tochter sitzen im Zug. Der Mann ist unruhig, will immer wieder weglaufen. Der Kondukteur verlangt barsch die Billette. Der Mann schreit: «Da kann ja jeder kommen. Hauen Sie ab. Eine Frechheit!»
Situation: Der Kranke weiss nicht, wo er ist, merkt nur, dass der Kondukteur unfreundlich ist und etwas von ihm will, das er nicht versteht.
Reaktion: Dem Mann erklären, dass der Kondukteur von Berufs wegen die Billette kontrollieren muss. Das sei seine Pflicht. Oft helfen Sprichwörter: «Tut mir leid, dass der Mann Sie verstört hat. Es ist sein Beruf, Billette anzuschauen. Sie wissen ja: ohne Fleiss kein Preis.»
Im Laden: Vergessen
Eine Frau nimmt sich eine Packung Milch, verstaut sie umständlich in der Tasche und geht, ohne zu zahlen.
Situation: Die demente Frau hat vergessen, dass zum Einkaufen das Zahlen gehört.
Reaktion: Die Frau freundlich ansprechen und ihr erklären, sie habe wohl vergessen, zur Kasse zu gehen. Ihr dann dabei helfen. Kein Aufheben machen, nicht blossstellen, Hektik und Lärm vermeiden. «Bitte kommen Sie zur Kasse. Sie haben wohl das Portemonnaie nicht gefunden. Das kann passieren, ich helfe Ihnen beim Zahlen.»
Auf dem Dorfplatz: Kleider
Ein älterer Herr geht in Hemd, Krawatte und Jackett über den Platz. Die Beine stecken in einer Pyjamahose, die Füsse in Finken. Er verlangt ein Taxi in die Stadt.
Situation: Der Senior hat sich feingemacht, um den Sohn zu besuchen. Er hat aber die untere Körperhälfte vergessen. Den Rückweg ins Heim fände er nicht allein.
Reaktion: Wer den Mann kennt, sagt ihm, er könne nicht in Finken in die Stadt. «Ich bringe Sie nach Hause.» Wer ihn nicht kennt, spricht ihn an und versucht herauszufinden, wo er wohnt. Vielleicht hat er einen Zettel mit der Adresse in der Jacke oder im Portemonnaie. Wenn das misslingt, muss man die Polizei verständigen.
Im Bus: Flirten
Ein betagtes Ehepaar sitzt im vollen Bus in einem Viererabteil, eine junge Frau steht daneben. Er sagt schelmisch zu ihr: «Setzen Sie sich doch auf meinen Schoss.» Seine Gattin schämt sich.
Situation: Der demente Mann fühlt sich in diesem Moment wie ein 25-Jähriger. Viele Demenzkranke halten sich für viel jünger, als sie sind.
Reaktion: Mit einfachen Worten freundlich ablehnen. Den Mann anschauen. «Merci vielmals, Sie sind ein Kavalier, aber ich musste schon den ganzen Tag sitzen.»
Aber auch die Dementen selber sind gefordert. Sie sollten offen zu ihrer Krankheit und den damit verbundenen Einschränkungen stehen – den Mut aufbringen, sich zu outen. Eben weil Demenz bei Kranken wie Gesunden immer noch stark mit Scham und Angst behaftet ist, will Sandra Schäppi in Wädenswil auf niederschwellige Angebote setzen und so das Verständnis fördern. «Wir planen zum Beispiel im Sommer ein gemeinsames Musizieren auf dem Seeplatz, einen sogenannten Drumcircle.» Musik verbinde, davon könne man gegenseitig profitieren.
Kommunikationsexpertin Katijana Harasic hätte ein Demenzrestaurant eröffnet, wenn sie noch jünger wäre. «Einen Ort für alle, einfach mit der Besonderheit, dass Menschen mit Demenz willkommen wären und das Personal geschult wäre.» In den Niederlanden gibt es das.
Und in Wädenswil auch fast: Das Café City, im Zentrum, sei so etwas wie ein Treffpunkt für Betroffene, Angehörige und alle anderen geworden, nachdem dort einige Infoveranstaltungen zum Thema stattgefunden hätten, sagt Sandra Schäppi. Auch damit ist Wädenswil dem Ideal einer demenzfreundlichen Gesellschaft ein Stückchen näher gerückt. «Honig im Kopf» können schliesslich alle bekommen.
Eine Demenzerkrankung durchläuft drei Stadien. Die Einteilung dient als Massstab dafür, wie viel Betreuung Betroffene brauchen.
- Einsam: Im frühen Stadium zeigen sich erste Einschränkungen in der Sprach-, Merk- und Organisationsfähigkeit. Betroffene versuchen, zu Hause und in der Öffentlichkeit ihren Alltag normal zu leben, scheitern ohne Hilfe aber immer öfter dabei. Als Folge ziehen sie sich vermehrt aus dem sozialen Leben zurück.
- Ziellos: Im mittleren Stadium verlieren Betroffene zunehmend ihre Alltagskompetenz; ein Leben zu Hause ist ohne Hilfe und Aufsicht kaum noch möglich. Das Handeln ist nicht mehr überlegt und von Absicht bestimmt, die Betroffenen lassen sich durch alles Mögliche ablenken. Oft erkennen sie Orte, Gegenstände und Personen nicht wieder.
- Schutzlos: Das späte Stadium ist gekennzeichnet durch weitgehenden Sprachverlust, Immobilität, Schluckstörungen und Inkontinenz. In dieser Phase sind Betroffene Aussenreizen schutzlos ausgeliefert. Eine kontinuierliche Betreuung in einem Heim ist unerlässlich.
Wer an sich oder bei einem Angehörigen Warnzeichen entdeckt, die auf eine Demenzerkrankung hindeuten, kann mit einem Onlinetest herausfinden, ob eine ärztliche Abklärung angezeigt ist.
Den Demenz-Test bietet die Plattform www.memo-info.ch an.
Rob Lewis: «ich bin. bin ich? Ein fotografischer Blick hinter den Spiegel» Stämpfli-Verlag, 2016, zirka 39 Franken.
Demenz ist viel mehr als als allmähliches Vergessen, warnt Psychiater Christoph Held. Angehörige sollten sich früh vom Wunsch befreien, möglichst lange zu Hause zu pflegen.
Laut einer Studie verursacht Demenz jährliche volkswirtschaftliche Kosten von 11,8 Milliarden Franken. Fast die Hälfte, nämlich 5,5 Milliarden, sind indirekte Kosten, die die Angehörigen tragen, indem sie Betroffene unentgeltlich betreuen und pflegen.
Die Studie, die das Forschungsbüro Ecoplan im Auftrag des Vereins Alzheimer Schweiz erstellt hat, zeigt, dass 60 Prozent der 155'000 Demenzkranken zu Hause leben. «Aus gesellschaftlicher Sicht ist es von Vorteil, wenn Menschen mit einer leichten Demenz zu Hause betreut werden», schreibt der Verein – gemäss dem Grundsatz «ambulant vor stationär». Bereits bei einer mittleren Demenz sei ein Heim aber kostengünstiger als die Pflege zu Hause, wenn man die unentgeltlichen Leistungen der Angehörigen mitrechnet. Diese sind beträchtlich: Wird ein Betroffener einer mittelschweren Demenz in den eigenen vier Wänden betreut, hat die Gratisarbeit der Angehörigen laut Alzheimer Schweiz einen Wert von rund 80'000 Franken pro Jahr. Die direkten Kosten für das Gesundheitssystem sind dagegen deutlich tiefer: weniger als 13'000 Franken.
Alzheimer Schweiz fordert, Angehörige stärker zu entlasten, da sie die Betreuung und Pflege Dementer oft allein bewältigen müssten und sie ein hohes Risiko hätten, selbst krank zu werden. Der Verein verlangt ausserdem, den Betreuungsaufwand der Angehörigen zu bezahlen.
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3 Kommentare
Ich bin Beiständin einer stark demenzkranken Person (97 Jahre alt), die sich seit mehr als 5 Jahren in einer für betroffene Personen gedachten Institution befindet. Ich kenne sie seit mehr als 40 Jahren und weiss genau, dass es nie ihrem Wunsch entsprach, das Ende ihres Lebens so zu erleben. Leider hat sie es verpasst, dies rechtzeitig schriftlich in einer Patientenverfügung festzuhalten. Nach einem Sturz ist sie nun zusätzlich an einen Rollstuhl gebunden und grösstenteils bettlägerig. Sie reagiert auf jegliche pflegerischen Masnahmen agressiv und möchte einfach nur in Ruhe gelassen werden. Die Pflegeleitung der Institution verlangt von den Pflegenden trotzdem, dass ihr das Essen angeboten wird, notfalls mit sanftem Druck oder durch Ueberlistung, weil sie Bedenken hat, dass die betreffende Person sonst eventuell zu wenig Nahrung und Flüssigkeit zu sich nimmt. Ist es unethisch, einer demenzkranken Person nur noch soviel zu essen und zu trinken zu geben, wie sie selber möchte? Muss eine an Demenz erkrankte Person um alles in der Welt so lange als möglich am Leben erhalten werden, obwohl dies nie ihr Wille war?