In der Schweiz erledigen nicht Richterinnen, sondern Staatsanwälte 92 Prozent aller Strafverfahren. Tendenz steigend. Mit sogenannten Strafbefehlen können Strafverfolger Beschuldigte ohne Gerichtsverfahren selbst verurteilen. Allein im Büro. Das geht kostensparend und schnell.

Doch dieses Verfahren hat grosse rechtsstaatliche Mängel: Beschuldigte werden selten angehört und die Strafbefehle fiktiv zugestellt, wenn der Wohnort der Beschuldigten nicht bekannt ist. So kam es vor, dass Menschen im Gefängnis sassen, ohne zu wissen, wieso überhaupt (siehe «Die grosse Macht der Staatsanwälte»). 

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Eine Fehlerquote von 20 Prozent

Gemäss einer Studie des Nationalfonds werden bloss 5 bis 13 Prozent aller Strafbefehle angefochten (variiert von Kanton zu Kanton). Ein gutes Zeichen, könnte man meinen, denn wenn keine Einsprachen eingehen, sind die Strafbefehle ja gut und werden akzeptiert. 

Mitnichten! Recherchen des Beobachters zeigen nämlich: Wenn Beschuldigte Strafbefehle anfechten, werden bis zu 20 Prozent aufgehoben, und das Verfahren wird eingestellt. Das ist eines Rechtsstaats nicht würdig. Man stelle sich vor, der Beobachter müsste 20 Prozent seiner Texte löschen, wenn Betroffene reklamieren.

Ein wesentlicher Grund dafür, dass so wenig Strafbefehle angefochten werden: Beschuldigte haben bloss zehn Tage Zeit, Einsprache zu erheben. Zudem dürften viele den Strafbefehl gar nicht recht verstehen, weil er nicht in ihrer Muttersprache verfasst oder weil das Juristendeutsch schlicht unverständlich ist. 

Was hat nun das Parlament nachgebessert bei der aktuellen Revision des Strafprozessrechts, die 2024 in Kraft tritt? Verlängert es die Einsprachefrist, damit Beschuldigte genug Zeit haben, um einen Anwalt zu konsultieren und den Strafbefehl anzufechten, damit Fehlentscheide erkannt und korrigiert werden? Verpflichtet es zu einer Übersetzung in die Muttersprache des Beschuldigten? Untersagt es fiktive Zustellungen? Nein, Fehlanzeige. Das Parlament hat nichts davon umgesetzt. 

Der Grund: Das Parlament will den Strafverfolgern nicht noch mehr Arbeit aufhalsen. Längere Einsprachefristen – so die Angst – würden zu mehr Einsprachen führen. Korrekt. Aber völlig zu Recht! Wie ja die Erfolgszahlen von Einsprachen belegen. Das Parlament nimmt bewusst Fehlurteile in Kauf. 

Die Salamitaktik der Staatsanwaltschaften

Der Beobachter berichtet seit 15 Jahren über die Mängel des Strafbefehlsverfahrens. Er erzwingt mit Pilotprozessen wie im Fall des Armeechefs Nef oder im Fall von Korruption im Umfeld der Fifa, dass die Staatsanwaltschaften keine Geheimjustiz betreiben können, sondern Strafbefehle und Einstellungsverfügungen öffentlich machen müssen. 

Und mit dem Negativpreis «Fehlbefehl des Jahres» bringt er Staatsanwaltschaften dazu, endlich mit Stichproben die Qualität der Strafbefehle zu prüfen und öffentlich zu machen, wie viele Strafverfahren eingestellt werden, wenn sich Beschuldigte mit Einsprachen wehren. 

Es bewegt sich also erst etwas, wenn man Druck macht – juristisch oder publizistisch. Salamitaktik nennt man das. Auf dem Buckel des Rechtsstaats. Auf dem Buckel von zu Unrecht Verurteilten. 

PS: Wenn Parlamente und Verwaltungen Staatsanwaltschaften tatsächlich nicht mehr Arbeit aufhalsen wollen, sollten sie aufhören, immer neue Straftatbestände zu erlassen. Was sollen etwa Strafen für die unterlassene Kennzeichnung von Stand-up-Paddel-Booten? Fürs gewaltsame Aufstossen des Drehkreuzes beim zahlungspflichtigen Bahnhof-WC (geringfügiges Erschleichen einer Leistung)? Oder für einen Deutschen Wachtelhund, der in Nachbars Garten eine schlafende Katze anfiel (wobei diese unverletzt blieb)? Um nur drei zufällig herausgepickte Strafbefehle aus dem Kanton Solothurn zu nennen.