Kommentar zu Strafbefehlen
Das Parlament gefährdet den Rechtsstaat
Bei der Revision des Schweizer Strafprozessrechts hätte das Parlament handeln können – und versäumt es trotzdem. Ein Kommentar unseres Chefredaktors.
Veröffentlicht am 18. Juli 2023 - 16:29 Uhr
In der Schweiz erledigen nicht Richterinnen, sondern Staatsanwälte 92 Prozent aller Strafverfahren. Tendenz steigend. Mit sogenannten Strafbefehlen können Strafverfolger Beschuldigte ohne Gerichtsverfahren selbst verurteilen. Allein im Büro. Das geht kostensparend und schnell.
Doch dieses Verfahren hat grosse rechtsstaatliche Mängel: Beschuldigte werden selten angehört und die Strafbefehle fiktiv zugestellt, wenn der Wohnort der Beschuldigten nicht bekannt ist. So kam es vor, dass Menschen im Gefängnis sassen, ohne zu wissen, wieso überhaupt (siehe «Die grosse Macht der Staatsanwälte»).
Eine Fehlerquote von 20 Prozent
Gemäss einer Studie des Nationalfonds werden bloss 5 bis 13 Prozent aller Strafbefehle angefochten (variiert von Kanton zu Kanton). Ein gutes Zeichen, könnte man meinen, denn wenn keine Einsprachen eingehen, sind die Strafbefehle ja gut und werden akzeptiert.
Mitnichten! Recherchen des Beobachters zeigen nämlich: Wenn Beschuldigte Strafbefehle anfechten, werden bis zu 20 Prozent aufgehoben, und das Verfahren wird eingestellt. Das ist eines Rechtsstaats nicht würdig. Man stelle sich vor, der Beobachter müsste 20 Prozent seiner Texte löschen, wenn Betroffene reklamieren.
Ein wesentlicher Grund dafür, dass so wenig Strafbefehle angefochten werden: Beschuldigte haben bloss zehn Tage Zeit, Einsprache zu erheben. Zudem dürften viele den Strafbefehl gar nicht recht verstehen, weil er nicht in ihrer Muttersprache verfasst oder weil das Juristendeutsch schlicht unverständlich ist.
Was hat nun das Parlament nachgebessert bei der aktuellen Revision des Strafprozessrechts, die 2024 in Kraft tritt? Verlängert es die Einsprachefrist, damit Beschuldigte genug Zeit haben, um einen Anwalt zu konsultieren und den Strafbefehl anzufechten, damit Fehlentscheide erkannt und korrigiert werden? Verpflichtet es zu einer Übersetzung in die Muttersprache des Beschuldigten? Untersagt es fiktive Zustellungen? Nein, Fehlanzeige. Das Parlament hat nichts davon umgesetzt.
Der Grund: Das Parlament will den Strafverfolgern nicht noch mehr Arbeit aufhalsen. Längere Einsprachefristen – so die Angst – würden zu mehr Einsprachen führen. Korrekt. Aber völlig zu Recht! Wie ja die Erfolgszahlen von Einsprachen belegen. Das Parlament nimmt bewusst Fehlurteile in Kauf.
Die Salamitaktik der Staatsanwaltschaften
Der Beobachter berichtet seit 15 Jahren über die Mängel des Strafbefehlsverfahrens. Er erzwingt mit Pilotprozessen wie im Fall des Armeechefs Nef oder im Fall von Korruption im Umfeld der Fifa, dass die Staatsanwaltschaften keine Geheimjustiz betreiben können, sondern Strafbefehle und Einstellungsverfügungen öffentlich machen müssen.
Und mit dem Negativpreis «Fehlbefehl des Jahres» bringt er Staatsanwaltschaften dazu, endlich mit Stichproben die Qualität der Strafbefehle zu prüfen und öffentlich zu machen, wie viele Strafverfahren eingestellt werden, wenn sich Beschuldigte mit Einsprachen wehren.
Es bewegt sich also erst etwas, wenn man Druck macht – juristisch oder publizistisch. Salamitaktik nennt man das. Auf dem Buckel des Rechtsstaats. Auf dem Buckel von zu Unrecht Verurteilten.
PS: Wenn Parlamente und Verwaltungen Staatsanwaltschaften tatsächlich nicht mehr Arbeit aufhalsen wollen, sollten sie aufhören, immer neue Straftatbestände zu erlassen. Was sollen etwa Strafen für die unterlassene Kennzeichnung von Stand-up-Paddel-Booten? Fürs gewaltsame Aufstossen des Drehkreuzes beim zahlungspflichtigen Bahnhof-WC (geringfügiges Erschleichen einer Leistung)? Oder für einen Deutschen Wachtelhund, der in Nachbars Garten eine schlafende Katze anfiel (wobei diese unverletzt blieb)? Um nur drei zufällig herausgepickte Strafbefehle aus dem Kanton Solothurn zu nennen.
4 Kommentare
Musste selber mal so einen Strafbefehl anfechten. Für jemand der überhaupt keine Ahnung hat, ein Ding der Unmöglichkeit. Und finde in 10 Tagen einen Anwalt.
Der Strafbefehl war lausig verfasst und der Staatsanwalt konnte nicht einmal meinen Namen richtig schreiben (habe einen Schweizer Namen). Musste vor Gericht und am Schluss wurde ich freigesprochen.
Diese Recherchen des Beobachters würde ich gerne mal einsehen. Wenn eine belastbare Studie von 20% aufgehobenen Strafbefehlen spricht, dann können wir weiterdiskutieren.
Und lediglich am Rande sei nochmals (der Beobachter hat es sich ja offensichtlich auf die Fahne geschrieben, gegen den ach so schröcklichen Strafbefehl zu Felde zu ziehen) darauf hingewiesen, dass jedermann, der einen Strafbefehl erhält, kann diesen mit dem einfachen Satz "ich erhebe Einsprache" anfechten! Die Behauptung, die Frist sei zu kurz, die Betroffenen verstünden das Juristendeutsch nicht etc., ist schlicht aus den Fingern gesogene Meinungsmache! Einmal abgesehen davon, dass von jemandem, der in der Schweiz lebt, erwartet werden kann, dass er sich bemüht, hiesige Behördenpost zu lesen und zu verstehen, oder jedenfalls jemanden kennt, der ihm dabei hilft!
Vor allem aber: wie kommen Sie eigentlich auf die Idee, von Ihrer Recherche ausgehend einfach zu extrapolieren? Dies ist eine völlig unwissenschaftliche Herangehensweise! Wer sagt Ihnen denn, dass nicht nur überwiegend diejenigen den Strafbefehl anfechten, welche tatsächlich einen guten Grund haben, während 99% von denjenigen, die ihn akzeptieren, genau wissen, dass er zurecht ergangen ist?
Guten Tag Karl A., die Recherchen des Beobachters stützen sich auf Auskünfte der zuständigen Behörden (Staatsanwaltschaften, resp. Oberstaatsanwaltschaften der Kantone Zürich, Zug und Basel-Land https://www.beobachter.ch/gese…). Die Gründe für eine Einsprache wurden erforscht (ContraLegem | 2019 /2 | David Studer, Die Beschuldigten- Einsprache im Strafbefehls verfahren) und sind weit komplexer als Sie sie schildern. So hängt die Einsprachequote auch von den Sprachkenntnissen ab, vom Alter und ob jemand anwaltschaftlich vertreten ist. Freundliche Grüsse, Dominique Strebel
Ich begrüsse es sehr, dass der Beobachter dieses Thema immer wieder aufgreift. Für mich fehlt resp. fehlte in diesem Bereich eine angemessene Qualitätskontrolle.
Ein unberechtigter Strafbefehl kann viel unnötigen Ärger auslösen, sei es, dass man komisch angeschaut wird, wenn man am Postschalter einen Brief von einem "Strafbefehlsdezernat" abholt, oder dass man darüber eine Meldung an eine amtliche Stelle machen muss, weil man einen Beruf ausübt, für den ein guter Leumund erforderlich ist.