Kinder – von der Justiz benachteiligt
Weil das Justizsystem zu wenig kindgerecht ist, suchen Kinder oft selber nach Hilfe. Doch eine dringend benötigte Ombudsstelle wird von der Politik blockiert.
Veröffentlicht am 8. März 2019 - 15:51 Uhr,
aktualisiert am 8. März 2019 - 13:16 Uhr
Die Kinder riefen einfach an. Und es wurden immer mehr. Als der Verein Kinderanwaltschaft Schweiz seine Tätigkeit 2008 aufnahm, war er darauf gar nicht vorbereitet. Denn sein eigentlicher Zweck ist es, Anwälte und Fachpersonen für eine kindgerechte Justiz zu sensibilisieren. Kinder direkt zu beraten war damals nicht das Ziel.
Dass diese trotzdem von sich aus den Kontakt suchten, offenbart ein drängendes Bedürfnis. «Die Kinder suchten wohl Hilfe von einer Anwältin oder einem Anwalt und landeten bei uns», vermutet die Geschäftsführerin Irène Inderbitzin. «Sie haben mit ihren Anrufen die Kinderanwaltschaft erst zu einer Beratungsstelle gemacht.»
Ein typischer Fall: Ein Mädchen kommt ins Heim, weil die alleinerziehende Mutter psychisch erkrankt ist . Über Jahre hat sich das Kind um die Mutter gekümmert, bevor es ihr radikal entzogen wird. In den folgenden Jahren eskaliert die Situation: Das Mädchen rebelliert, wird durch mehrere Heime gereicht. Ein Problemfall. Die Lösung war am Ende denkbar einfach: ein Gespräch mit dem Kind offenbarte, dass es mit einem Heim in der Nähe der Mutter und regelmässigen Besuchen bei ihr einverstanden war. Die Situation beruhigte sich merklich.
Typisch ist dieses Beispiel, weil es zeigt, wo die Fehler im Justizsystem liegen. Das Kind wurde eher als Schutzobjekt behandelt denn als Partei mit eigener Meinung. Doch darauf hat es ein Recht.
In Berührung mit einer nicht auf sie ausgerichteten Justiz zu kommen, kann für Kinder sehr unangenehm – ja traumatisch – sein. Doch wie können Kinder ihre Rechte einfordern? In einer kindgerechten Justiz hätten Kinder bei zentralen Entscheiden, wie bei einer Fremdplatzierung, bei strittigen Scheidungen oder als Opfer selber einen Anwalt oder eine Anwältin, vom Staat an ihre Seite gestellt. Das ist in der Schweiz aber nicht obligatorisch. Die Eltern vertreten aber häufig ihre eigenen Interessen, zum Beispiel in einer Scheidung. Oder es ist der Staat selber, der als Partei auftritt und Entscheide fällt, die die Zukunft des Kindes massgeblich beeinflussen, ohne aber das Kind gebührend in den Prozess miteinzubeziehen.
2010 verfasste der Europarat Leitlinien für ein kindgerechtes Rechtssystem. Denn er erkannte: «Auch wenn die wichtigsten Grundsätze auf internationaler und europäischer Ebene erfolgreich festgelegt wurden, kann man nicht sagen, dass die Justiz mit Kindern und Jugendlichen stets freundlich umgeht.» Die Leitlinien sollen dabei helfen, alle involvierten Stellen dafür zu sensibilisieren, dass Kinder als eigene Partei wahrgenommen und behandelt werden.
Doch nicht immer geschieht das. Der beste Beweis dafür ist, dass Kinder in schwierigen Situationen auf eigene Faust aktiv werden müssen und sich bei verschiedenen Organisationen melden. 2018 führte beispielsweise die Kinderanwaltschaft 834 Gespräche mit Kindern, Jugendlichen oder involvierten Personen und unterstützte 424 Buben und Mädchen aus 319 Familien. In einem Fünftel der Fälle meldeten sich die Kinder selbst.
Aber die Finanzierung dieser Beratungstätigkeit ist nicht langfristig gesichert, wie Geschäftsführerin Inderbitzin sagt. Per Ende 2020 laufe die Unterstützung von Stiftungen mit privaten Mitteln aus. Nicht nur deshalb müsse die öffentliche Hand dringend eine nationale Ombudsstelle als niederschwelliges Angebot für Kinder schaffen. Zentral sei nämlich, dass diese Stelle die nötigen Befugnisse wie ein Auskunftsrecht und eine öffentlich-rechtliche Legitimation für Gespräche mit den Kesb oder anderen Involvierten habe. Diese Rechte hat die Kinderanwaltschaft nicht.
Auch die UNO fordert eine Ombudsstelle. Der UN-Kinderrechtsausschuss formuliert regelmässig Empfehlungen an alle Länder, wo sie nachzubessern haben. «Eindringlich» empfahl der Ausschuss im letzten Bericht von 2015, die Schweiz müsse «unverzüglich» eine unabhängige Institution «zur Überwachung der Menschenrechte mit einem spezifischen Überwachungsmechanismus für die Kinderrechte» schaffen. Doch auch im jüngsten Bericht des Bundesrats vom Dezember 2018 ist keine nationale Ombudsstelle für Kinder geplant. Wieso?
Die rund 120 Einzelempfehlungen der UNO unterzog das Bundesamt für Sozialversicherungen BSV – das hierbei die Koordinationsrolle innehat – einem Selektionsprozess, um zu prüfen, welche Massnahmen erarbeitet werden können. Diejenigen, die sich bereits andernorts im politischen Prozess in Prüfung befanden oder deren Umsetzung schon geplant ist, wurden ausgemustert. «Denn Doppelspurigkeiten können wir uns nicht leisten», erklärt Sabine Scheiben, Co-Leiterin des Bereichs Kinder- und Jugendfragen beim BSV. «Die wichtigsten Fragen waren: Was ist machbar? Wo hat man politisch schlicht keine Chance in der Schweiz? Stehen Aufwand und Ertrag im Verhältnis?»
Die Ombudsstelle fiel im Auswahlverfahren heraus, weil der Bundesrat derzeit prüft, ob sie bei der geplanten nationalen Menschenrechtsinstitution angehängt werden könnte. 2017 führte er eine Vernehmlassung zum Gesetzesentwurf durch, bei der zahlreiche Kinderrechtsorganisationen und insbesondere Mitteparteien wie EVP, CVP und BDP aber auch die eidgenössische Kommission für Kinder- und Jugendfragen sich explizit für die Erweiterung der Menschenrechtsinstitution um eine Ombudsstelle stark machten. Seither ist nichts geschehen.
Der Bundesrat müsste das Gesetz als nächstes ins Parlament geben. Aber auch auf mehrmalige Nachfrage des Beobachters beim zuständigen Departement für auswärtige Angelegenheiten EDA gibt sich dieses zugeknöpft: «Wir prüfen verschiedene Varianten und werden diese zu gegebener Zeit kommunizieren.» Doch schon jetzt ist klar: Dem Anliegen, die Ombudsstelle an diese Institution zu knüpfen, bläst sowohl von bürgerlicher als auch linker Seite ein rauer Gegenwind entgegen. Die FDP lehnt die Menschenrechtsinstitution in seiner Gesamtheit ab, weil sie keinen Mehrwert darin sieht. Die SP unterstützt zwar grundsätzlich die Schaffung einer Ombudsstelle für Kinder, findet es aber falsch, sie bei der nationalen Menschenrechtsinstitution anzuhängen.
Die Kinderberatungsstelle droht also zwischen Stuhl und Bank zu fallen. Und viele Kinder werden weiterhin auf eigene Faust nach Hilfe suchen müssen.
Geschätzte 100'000 Kinder kommen jedes Jahr in Berührung mit dem Schweizer Rechtssystem. Sie sind betroffen von Scheidungen, häuslicher Gewalt, von Asylverfahren, von Fremdplatzierungen oder Konflikten in der Schule. Und sie haben spezielle Rechte. Noch bis in die Neuzeit galten Kinder als Eigentum ihrer Eltern, respektive des Vaters. Dann begann sich die Sicht auf junge Menschen zu verändern.
Mit der UNO-Kinderrechtskonvention von 1989 wurden die Rechte von Kindern schliesslich erstmals weltweit und völkerrechtlich verbindlich festgelegt. «Das Übereinkommen schützt und anerkennt Kinder als eigenständige Personen mit eigenen Zielen und eigenem Willen und fordert, dass das Wohl des Kindes bei allen Entscheidungen, die es betreffen, vorrangig berücksichtigt wird. Damit wird das Kind auch als Rechtspersönlichkeit anerkannt», schreibt der Bund. 1997 ratifizierte die Schweiz diese Kinderrechtskonvention, die die bislang erfolgreichste Konvention der UNO ist. Alle Staaten der Welt – ausser die USA – haben sie inzwischen amtlich anerkannt.
Von den 54 formulierten Rechten gelten vier Artikel als Grundprinzipien, die für die Umsetzung aller anderen Kinderrechte zentral sind:
- Das Recht auf Nicht-Diskriminierung.
Kein Kind darf aufgrund seines Geschlechts, seiner Herkunft, seiner Sprache, seiner Religion oder seiner Hautfarbe benachteiligt werden. (Art. 2 UNO-KRK) - Das Kindeswohl / das übergeordnete Kindesinteresse.
Bei jeder hinsichtlich des Kindes getroffenen Entscheidung soll das Kindeswohl / Kindesinteresse vorrangig berücksichtigt werden. (Art. 3 UNO-KRK) - Das Recht auf Leben, Überleben und eine optimale Entwicklung.
Das Kind soll in seiner Entwicklung gefördert werden und Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung haben. (Art. 6 UNO-KRK) - Das Recht auf Mitwirkung.
Das Kind soll seine Meinung zu allen seine Person betreffenden Fragen oder Verfahren äussern können. Seine Meinung soll bei Entscheidungen mitberücksichtigt werden. (Art. 12 UNO-KRK)
Viele Kinderrechtsorganisationen und Fachstellen veröffentlichen kindgerecht formulierte Dokumente oder Ratgeber.
- Wie zum Beispiel der Leiter der Basler Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde Kesb, der jüngst das Büchlein «Der kleine Advokat: Juris erklärt dir deine Rechte» herausgegeben hat. Es soll Kindern die wichtigsten Begriffe und Abläufe zu Scheidungen oder Trennungen nahebringen.
- Unicef hat zudem eine kindgerechte Erklärung der UN-Kinderrechtskonvention publiziert.
- Oder die Organisation Pro Juventute, die im Juni ein neues spezifisches Kinderrechts-Unterrichtspaket für den Lehrplan 21 herausgeben wird.
- Bestehende Lehrmittel zum Thema sind auf der Webseite des Netzwerks Kinderrechte Schweiz zusammengestellt.
Kinder kommen sich bei einer Trennung oder Scheidung der Eltern häufig verlassen vor. Im Merkblatt «Trennung und Scheidung aus Sicht der Kinder» erfahren Eltern, was in ihren Kindern – je nachdem, in welchem Alter sie sich befinden – vorgeht und wie sie rechtlich im Trennungsprozess eingebunden werden.