Kreatives Schlupfloch im neuen Gesetz
Der Zweitwohnungsanteil in den Gemeinden steht jetzt exakt fest. Und plötzlich ist er an bestimmten Orten stark gesunken. Das ist kein Zufall.
aktualisiert am 21. Juni 2017 - 11:22 Uhr
Vom Massentourismus ist Aeschi bisher verschont geblieben. In der Berner Gemeinde oberhalb des Thunersees machen Familien und Rentner Urlaub – entsprechend viele Ferienwohnungen gibt es. Ende 2014 betrug der Anteil nach offizieller Zählung 30,2 Prozent. Damit fiel Aeschi unter das Zweitwohnungsgesetz, das am 1. Januar 2016 in Kraft getreten ist. Es verbietet den Bau von neuen Zweitwohnungen, wenn ihr Anteil in einer Gemeinde mehr als 20 Prozent ausmacht. Die Gemeindebehörden fielen erst einmal aus allen Wolken.
Nie und nimmer habe man erwartet, dass mehr als ein Fünftel der Wohnungen Ferienwohnungen seien, sagt Gemeindeschreiber Lukas Berger. Nach einem Ferienwohnungsboom in den 1970er Jahren seien in Aeschi fast nur noch Erstwohnungen gebaut worden. Nicht wenige ehemalige Feriengäste hätten ihren Wohnsitz mittlerweile in die Gemeinde verlegt, und so seien aus vielen Zweit- mit der Zeit Erstwohnungen geworden. Die ständige Wohnbevölkerung jedenfalls sei in 13 Jahren von 1900 auf 2200 Personen gewachsen.
Ende 2016 weist Aeschi denn auch nur noch einen Ferienwohnungsanteil von 20,34 Prozent aus. «Mittlerweile konnten wir dem Bundesamt für Raumentwicklung (ARE) nachweisen, dass wir nur bei rund 15 Prozent liegen», freut sich Berger. Es bestehe kein Bedürfnis mehr nach neuen Ferienwohnungen.
Der Beobachter hat die Daten der Kantone Bern, Graubünden und Wallis ausgewertet. Wie in Aeschi ist die Zweitwohnungsquote in den letzten drei Jahren demnach in zahlreichen Gemeinden gefallen, und dies teilweise massiv. Auf den ersten Blick gibt es dafür eine plausible Erklärung. Sie kommt von ARE-Sprecher Lukas Kistler: «Früher benutzte das ARE für die Bestimmung der Zweitwohnungsanteile die weniger detaillierte Gebäude- und Wohnungsstatistik», erklärt er. «Heute sind die Gemeinden verpflichtet, detaillierte Angaben über die Nutzung von Wohnungen im eidgenössischen Gebäude- und Wohnungsregister GWR einzutragen.» Diese genaueren Zahlen des GWR wurden Ende März erstmals veröffentlicht.
«Schlupflöcher finden sich immer. Aber wir können nicht überall Anwälte losschicken.»
Vera Weber, Initiantin der Zweitwohnungsinitiative
Der Schritt von der Statistik zum Register bringt den Gemeinden zwar mehr Aufwand, unter Umständen aber auch beträchtlichen Nutzen. Das detaillierte GWR, das mit dem Zweitwohnungsgesetz eingeführt wurde, sieht neben normalen Erstwohnungen eine spezielle Kategorie von Domizilen vor: «Erstwohnungen gleichgestellte Wohnungen». Darunter fällt alles Mögliche: Dienstwohnungen, Unterkünfte für Asylbewerber, an Diplomaten vermietete Villen, Wohnungen, die seit höchstens zwei Jahren leer stehen, oder nicht ganzjährig genutzte Alphütten.
Eine Pflicht, «gleichgestellte» Wohnungen zu melden, gibt es nicht, aber für Gemeinden, die im Bereich von 20 Prozent Zweitwohnungen liegen, ist die Information hochinteressant: Indem sie die «gleichgestellten» Wohnungen erfassen und melden, können sie ihren Zweitwohnungsanteil unter Umständen stark senken. So finden sich denn im GWR Gemeinden, die bis zu 35 Prozent «gleichgestellte» Wohnungen aufweisen – mit positiven Auswirkungen auf ihre Zweitwohnungsziffer.
Zum Beispiel Bitsch. In der Walliser Gemeinde im Aletschgebiet fiel der Zweitwohnungsanteil innert dreier Jahre von 33,6 auf 20,1 Prozent. Geschuldet ist dies zu einem guten Teil den 40 «gleichgestellten» Wohnungen. «Wer sein GWR bereinigt und die Wohnungen erfasst, die den Erstwohnungen gleichgestellt sind, kann den Zweitwohnungsanteil nach unten korrigieren», erklärt Vizegemeindepräsident Ivo Nanzer. Dies werde in einem Merkblatt des ARE auch so empfohlen. Das Amt überprüft die Angaben – stichprobenweise.
Ein genaueres Register und die Möglichkeit, gewisse Unterkünfte als «gleichgestellte» Wohnungen zu melden, erklären aber nicht alles. Es gibt ein statistisches Phänomen, das diejenigen bestätigt, die behaupten, die Gemeinden würden ihre Zweitwohnungsanteile schönrechnen. In den Gemeinden, die wegen der vielen Ferienwohnungen sowieso nie unter die gesetzlich festgelegte 20-Prozent-Marke kommen können, sank der Zweitwohnungsanteil weniger stark als in denen, die möglicherweise unter 20 Prozent gelangen.
Die Auswertung des Beobachters ergab, dass das Phänomen am stärksten im Wallis auftritt. Dort wiesen Gemeinden mit einem Zweitwohnungsanteil von über 50 Prozent durchschnittlich bloss eine Reduktion um 0,1 Prozentpunkte aus. Ganz anders Gemeinden, deren Anteil an Feriendomizilen vor drei Jahren zwischen 15 und 50 Prozent lag: Deren Zahlen sanken um stattliche 22 Prozentpunkte.
Alles Zufall? Beim ARE kommentiert man die Zahlen nicht. «Wir haben die Verteilung der Zweitwohnungsanteile nicht analysiert», sagt Sprecher Kistler. Vera Weber, Initiantin der Zweitwohnungsinitiative, will den Gemeinden keinen bösen Willen unterstellen. Das Gesetz sei halt ein Kompromiss und alles andere als perfekt. «Schlupflöcher finden sich immer.»
Momentan macht ihr ein anderes Phänomen weit grössere Sorgen: der erstaunliche Bauboom von Erstwohnungen in touristischen Gebieten. Der Grund dafür dürfte wiederum im Gesetz zu finden sein. In Artikel 14: Wenn eine neu erstellte Erstwohnung eine gewisse Zeit erfolglos ausgeschrieben wird, darf sie als Zweitwohnung verkauft oder vermietet werden. Zwar mache ihre Organisation Helvetia Nostra gegen verdächtige Baugesuche entsprechende Einsprachen, sagt Weber. «Aber wir können nicht überall Anwälte losschicken.» Fortsetzung folgt.
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