Sie haben genug von den steigenden Prämien
In der Romandie gehen die Leute wegen Prämienerhöhungen auf die Strasse. Hinter den Demos stecken zwei kämpferische Frauen, die eine Lawine lostreten wollen.
Veröffentlicht am 5. März 2019 - 22:00 Uhr,
aktualisiert am 5. März 2019 - 14:57 Uhr
Joëlle Combremont haut mit der Faust auf den Tisch. Ihre Krankenkassenprämie ist schon wieder um 30 Franken gestiegen. Genau wie in den beiden Jahren zuvor. «Das kann doch nicht immer so weitergehen!» Was, wenn sie die Miete ihres Ateliers nicht mehr zahlen kann? «Dann habe ich keine Arbeit mehr.» Ihrer Freundin Patricia Léoz geht es nicht besser. Die Prämien machen nach der Miete den zweithöchsten Posten im Budget der Verwaltungsassistentin und Masseurin aus. «Das macht mich krank.»
Um die beiden Genferinnen Combremont, 53, und Léoz, 51, ist eine kleine Bürgerbewegung entstanden, «eine Revolution», wie sie gern sagen. Sie organisieren sich über die Facebook-Gruppe lutte contre l’augmentation des primes d’assurance maladie, kurz LCAPAM. 10'500 Mitglieder hat die Gruppe. Ihren Kampf tragen sie auf der Strasse aus: In Genf demonstrierten im November rund 1000 Leute, auch in Lausanne, Monthey, Biel, Bern, Neuenburg und Bellinzona kam es zu Kundgebungen.
Auf das Jahr 2019 hin sind die Prämien durchschnittlich nur um 1,2 Prozent gestiegen. Alarmierend ist aber der längerfristige Trend: Seit 1996 das Krankenversicherungsgesetz eingeführt wurde, hat sich die Prämienlast verdoppelt. Die Westschweiz ist besonders betroffen, aber auch in der Deutschschweiz können immer mehr Personen die Prämien nicht mehr zahlen. Nach den Steuern sind sie die zweithäufigste Ursache für Schulden.
«Die Krankenkasse ist ein korruptes System» sagt Combremont und schenkt Tee aus, der so gar nicht zu ihrer kämpferischen Stimmung passen will. Regelmässig hört sie von Leuten, die in der Apotheke Medikamente nicht kaufen, wenn sie sehen, wie teuer sie sind. «Wer etwa bei der Assura versichert ist, muss ärztlich verordnete Medikamente erst selber bezahlen und dann um Rückerstattung bitten. Dass dann viele verzichten, gehört zum Geschäftsmodell.»
«Alle reden von Wettbewerb. Aber die Versicherten sollen geknebelt werden.»
Joëlle Combremont
Ein Skandal sei auch, dass ärmere Leute von den Rabatten durch hohe Franchisen
nicht profitieren können, sagt Léoz. «Das kann nur, wer die ersten 2500 Franken im Krankheitsfall aus der eigenen Tasche bezahlen kann.» Bürgerliche Politiker wollen neu den Wechsel der
Franchise nur noch alle drei Jahre erlauben, um Kosten zu sparen. Léoz’ Antwort: «Alle reden von Wettbewerb. Aber die Versicherten sollen geknebelt werden.»
Sie ärgert sich über die acht Milliarden Franken Reserven, die die Krankenkassen angehäuft haben. Von Gesetzes wegen sind sie für Notfälle da, zum Beispiel für eine Pandemie . Heute sind sie aber fast doppelt so hoch wie vorgeschrieben. Combremont und Léoz fordern deshalb: «Die überzähligen Reserven müssen den Prämienzahlern zurückerstattet werden.»
Vor einem Jahr konnten die beiden Frauen Gesundheitsminister Alain Berset im Westschweizer Fernsehen eine Frage stellen. Tagelang diskutierten sie. Schliesslich wollten sie wissen, ob der Kanton Genf eine Einheitskrankenkasse als Pilotprojekt lancieren könne. Berset habe sie mit Allgemeinplätzen abgefertigt, nachher aber immerhin an eine nationale Konferenz eingeladen.
Dabei wurde ein Expertenvorschlag mit 38 Massnahmen gegen die Kostenexplosion diskutiert. Die Konferenz sei ernüchternd gewesen, erzählt Combremont. «Alle Akteure des Gesundheitswesens waren da. Aber jeder verteidigte bloss seine Interessen.»
Natürlich können auch die beiden Freundinnen keine einfache Lösung präsentieren. Sie wissen aber: So kann es nicht weitergehen. Um endlich gehört zu werden, lancierten sie eine Petition. Sie fordern: Prämienerhöhungen sollen nur noch toleriert werden, wenn «der Bundesrat entschiedene und notwendige Massnahmen zur Kontrolle aller Akteure im Gesundheitswesen getroffen hat».
Am 7. März wird die Petition eingereicht. Ein Meilenstein für die junge Bürgerbewegung – dennoch droht das Engagement in Frustration zu kippen. «Wir haben gedacht, dass wir eine Revolution anzetteln können», sagt Joëlle Combremont. «Aber die Realität ist wie eine Mauer», macht Patricia Léoz den Satz fertig. Sie habe realisiert, wie mächtig die Gesundheitsindustrie sei.
«In der Nacht träume ich von unserem Kampf», sagt Combremont. «Und am Morgen ist mein erster Gedanke: Was können wir noch tun?» In der Deutschschweiz ankommen, das steht derzeit ganz oben auf der Prioritätenliste. Nadia Bianco, 29, soll das richten. Die Biologin aus Bern niest in ein Taschentuch. Sie hat Fieber, vielleicht ist es die Grippe. Zum Arzt geht sie nicht. Sie hat die höchste Franchise gewählt und möchte, damit die Rechnung aufgeht, pro Jahr nicht mehr als 1500 Franken für medizinische Leistungen ausgeben.
Im November hat sie auf einen Hilferuf auf Facebook reagiert. Dort stand: «Hallo, gibt es in der Deutschschweiz auch jemanden, der ein Problem hat mit den Prämien?» Bianco meldete sich bei Joëlle Combremont. Bald darauf organisierte sie die erste Kundgebung in Bern. Nur fünf Leute kamen.
Durch den Fehlstart lässt sich Nadia Bianco nicht unterkriegen. Sie ist eine Kämpferin. Schon als Jugendliche war sie in ihrer Familie für die Krankenkasse zuständig. Jahr für Jahr habe sie versucht, die Versicherung für ihre Eltern zu optimieren – bis mit Kassenwechsel
nicht mehr viel herauszuholen war. «Man gaukelt den Leuten vor, Sparen sei möglich», sagt sie.
«Dieses perfide System verhindert, dass die Menschen zusammenstehen und sich wehren.»
Nadia Bianco, Biologin
Sparmodelle, Prämienverbilligungen
und die kantonal festgelegten Prämien machten das System völlig unübersichtlich, so Bianco. «Es drückt zwar allen irgendwie der Schuh. Aber bei jedem ein bisschen anders. Dieses perfide System verhindert, dass die Menschen zusammenstehen und sich wehren.»
Die Revolution wird nicht ganz einfach werden, das wissen die Aktivistinnen. Zwei Gesundheitsinitiativen aus der Romandie sind kürzlich gescheitert. Die eine wollte den Einfluss der Krankenkassenlobby im Parlament beschränken, die andere kantonale Einheitskrankenkassen ermöglichen. Trotzdem ist Biologin Nadia Bianco guten Mutes. «Die Politiker haben bislang nichts erreicht. Deshalb glauben die Leute ihren Versprechen nicht mehr», sagt sie. «Wir hingegen sind eine Bürgerbewegung.»
Das wollen die Parteien:
- Die SP will mit ihrer «Prämienentlastungsinitiative» sicherstellen, dass kein Haushalt mehr als zehn Prozent des Einkommens für die Krankenkasse ausgeben muss.
- Die CVP-Volksinitiative für eine «Kostenbremse im Gesundheitswesen» will, dass Bund und Kantone eingreifen, wenn die Gesundheitskosten im Vergleich zur Lohnentwicklung zu stark steigen.
- Die FDP fordert von den Patienten mehr Eigenverantwortung. Harmlose Erkrankungen und kurze Spitalaufenthalte soll jeder selbst bezahlen.
Den Aktionismus der Politik kritisiert Felix Schneuwly, Krankenkassenexperte beim Vergleichsdienst Comparis: «Verbesserungen auf der Ebene des Mikromanagements führen hauptsächlich zu mehr Bürokratie.» Hauptkostentreiber im Gesundheitssystem seien die Alterung und der medizinische Fortschritt.
«Wer die Kosten nachhaltig dämpfen will, muss den Mut haben, die Mengen an Leistungen zu beschränken», sagt Schneuwly. Zudem sollen die Kassen nur noch wirksame, zweckmässige und wirtschaftliche Medizin vergüten. Er fordert ausserdem mehr Wettbewerb. «Die Qualität der medizinischen Leistungen von Spitälern und Ärzten muss endlich vergleichbar werden.»
Weigert sich die Krankenkasse, eine Kostengutsprache zu erteilen? Welche Zusatzversicherungen gibt es überhaupt? Beobachter-Mitglieder erfahren, welche Kosten die Krankenversicherung übernimmt und wo sich eine Zusatzversicherung lohnt. Eine weitere nützliche Hilfestellung: ein Kündigungsschreiben als Mustervorlage.
1 Kommentar
JA zur Kostenbremse-Initiative: Es gibt viele Hebel!
Die Kostenbremse funktioniert wie die bewährte Schuldenbremse des Bundes. Steigen die Gesundheitskosten jährlich 20% stärker als die Löhne, ergreift der Bund in Zusammenarbeit mit allen Akteuren Massnahmen zur Kostensenkung. Zwischen 2010 und 2020 sind die Gesundheitskosten in der Grundversicherung um durchschnittlich 3% pro Jahr gestiegen, während die Löhne sich nur um 0,7% erhöht haben. Die Kosten sind also 400 % stärker gestiegen als die Löhne und betragen heute im obligatorischen Bereich über 30 Milliarden Franken pro Jahr. Laut eines Expertenberichts des Bundes könnten im obligatorischen Bereich heute bereits 6 Milliarden Franken pro Jahr ohne Qualitätsverlust eingespart werden.