«Ein Armutszeugnis für eines der reichsten Länder»
Die abtretenden Co-Präsidenten der Skos, Therese Frösch und Felix Wolffers, befürchten das Schlimmste: dass die Sozialhilfe nicht mehr reicht, um sich richtig zu ernähren.
Veröffentlicht am 4. Januar 2019 - 15:41 Uhr,
aktualisiert am 3. Januar 2019 - 14:57 Uhr
Beobachter: Ihr Start an der Spitze der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe fiel 2014 in eine Phase, in der «Skos» ein Reizwort war. Es hagelte Kritik, Gemeinden traten mit Getöse aus. Davon hört man heute nichts mehr. Wo ist die ganze Aufregung hin?
Therese Frösch: Die Empörung ist nicht verschwunden. Die Kritik an der Sozialhilfe zielt aber heute weniger auf die Skos. Wir spüren eine bessere Akzeptanz. Dazu beigetragen hat, dass die Skos-Richtlinien neu von den kantonalen Sozialdirektoren beschlossen werden.
Die NZZ lobte, Sie hätten es verstanden, die Diskussion zu versachlichen. Finden Sie, dass Sozialhilfe und Bezüger sachlicher beurteilt werden?
Felix Wolffers: Nur teilweise. Die Vorstösse in einzelnen Kantonen, die enorme Kürzungen beim Grundbedarf fordern, entbehren jeder sachlichen Grundlage
. Schon bei den heutigen Ansätzen steht für eine vierköpfige Familie pro Kopf und Tag nur ein Fünfliber für Ernährung und Getränke zur Verfügung. Weitere Kürzungen sind da einfach verantwortungslos. Die Diskussion um die Höhe der Sozialhilfe ist nicht faktenbasiert, sondern nur noch polemisch.
Im Baselbiet und neu auch im Kanton Zürich verlangt die SVP, die Bezüger sollen generell 30 Prozent weniger Sozialhilfe erhalten. Nur wer integrationswillig sei, soll im bisherigen Umfang unterstützt werden. Ist das sinnvoll?
Frösch: Diskussionen um die Sozialhilfe hat es immer gegeben. Deshalb wurden die Richtlinien auch immer wieder angepasst. Man hat Anreiz- und Sanktionsmechanismen geschaffen, macht jungen Bezügern strengere Auflagen. Aber bisher war immer klar, dass die Sozialhilfe eine menschenwürdige Existenz sichern soll. Dieser Konsens besteht nicht mehr. Die radikalen Kürzungen führen dazu, dass Bedürftige verelenden und ausgegrenzt werden
– ein Frontalangriff auf die Grundwerte der Schweiz.
«Ausgeblendet wird, dass ein Drittel der Unterstützten Kinder sind.»
Felix Wolffers, Leiter Sozialamt Stadt Bern
Treten Sie deshalb vorzeitig zurück?
Wolffers: Die Angriffe sind ein Faktor, der mitgespielt hat. Sie sind belastend, weil in einer unverantwortlichen Weise auf dem Buckel der sozial Schwächsten Politik gemacht wird. Dabei wird ausgeblendet, dass ein Drittel der unterstützten Personen Kinder sind und dass viele Sozialhilfebezüger gesundheitliche Probleme
haben. Der Arbeitsmarkt will diese Personen mit Leistungseinschränkungen einfach nicht mehr. Viele Kritiker weigern sich, sich mit den Ursachen von Armut auseinanderzusetzen, und betreiben stattdessen sozialpolitische Brandstiftung. Sie vergessen, dass die Sozialhilfe ein wichtiges Instrument ist, um den sozialen Frieden zu sichern.
2015 liess die Skos abklären, wie viel Geld man minimal braucht zum Leben
. Ergebnis: monatlich 1076 Franken. Trotzdem wurde der Grundbedarf bei 986 Franken belassen. Ist die Skos vor der Politik eingeknickt?
Frösch: Das war nicht direkt der Politik zuzuschreiben, sondern unseren Mitgliedern. Sie haben sich in den Vernehmlassungen mehrheitlich für eine Beibehaltung der Ansätze entschieden. Dabei hat aber die politische Grosswetterlage eine entscheidende Rolle gespielt.
Sagen wir: Sie ist indirekt eingeknickt.
Wolffers: Eine Erhöhung der Leistungen war zwar statistisch ausgewiesen, aber politisch nicht durchsetzbar. Das mussten wir akzeptieren. Zumindest konnte sichergestellt werden, dass die Sozialhilfe weiterhin existenzsichernde Leistungen ausrichtet. Mit den Angriffen auf den Grundbedarf
läuft jedoch eine ganz andere Debatte. Eine, bei der die rote Linie überschritten wird. Weitere Kürzungen führen dazu, dass Personen von der Sozialhilfe nicht mehr anständig leben und sich nicht mehr gesund ernähren können. Das ist ein Armutszeugnis für eines der reichsten Länder der Welt.
Die einst sakrosankten Skos-Richtlinien sind verhandelbar geworden. Bereitet Ihnen das Sorge?
Frösch: Die Richtlinien waren immer ein Stück weit verhandelbar. Wenn die Ansätze neu justiert wurden, wenn etwa der Grundbedarf gekürzt und im Gegenzug Anreizleistungen eingeführt wurden, war das auch das Ergebnis von gesellschaftlichen Entwicklungen und Wertvorstellungen. Grosse Sorge bereitet uns aber, dass heute die Diskussion nicht mehr darüber geführt wird, wie die Sozialhilfe sinnvoll reformiert werden kann, sondern dass nur noch radikale Abbauforderungen zur Debatte stehen.
Wolffers: Die Leistungen der Sozialhilfe sollen politisch diskutiert werden, aber die Kantone dürfen die Leistungen nicht beliebig tief ansetzen. Denn die Menschenwürde und damit ein soziales Existenzminimum sind von der Bundesverfassung gewährleistet. In den Städten werden heute zehn Prozent aller 15-Jährigen von der Sozialhilfe unterstützt. Das zeigt doch, dass wir ein grundlegendes Problem haben.
Wie lässt es sich lösen?
Wolffers: Sicher nicht, indem man denen, die schon wenig haben, noch weniger gibt. Das blendet die Ursachen von Armut komplett aus. Lösungsansätze sind etwa Ergänzungsleistungen für Familien, wie sie einige Kantone eingeführt haben. Man müsste auch über die Höhe der Kinderzulagen im Tieflohnbereich reden und sich fragen, wie man die Belastungen durch Krankenkassenprämien und hohe Mieten in den Griff bekommt. Und wie mehr Stellen in der Sozialhilfe geschaffen
werden können. Es braucht eine Diskussion über mehr soziale Gerechtigkeit und Integration.
Die rote Linie sei überschritten, sagen Sie. Warum ruft die Skos dann nicht lautstark «Stopp!»?
Frösch: Die Skos ist in erster Linie ein Fachverband. Sie sorgt dafür, dass die Sozialhilfe wirksam und kostengünstig ist. Mit Studien liefern wir zudem Grundlagen für die öffentliche Diskussion. Wir sagen auch klar, dass weitere Leistungskürzungen unverantwortlich sind. Aber: Die Skos hat keine Macht, entscheiden kann nur die Politik. Die Sozialhilfe und ihre Bezüger haben keine Lobby, das ist eines der grossen Probleme.
«Man darf nicht vergessen, dass wir von kleinen Beträgen reden.»
Therese Frösch, Ex-Nationalrätin
Von wem soll das «Stopp!» denn sonst kommen?
Wolffers: Am Schluss müssen wohl die Gerichte einschreiten, wenn die Leistungen nicht mehr reichen, um würdig zu leben. Weil der Bund bei der Sozialhilfe keine Regelungskompetenz hat, sind die Kantone zuständig. Dank der Skos-Richtlinien gibt es einen bewährten Rahmen für die Höhe der Leistungen. Wenn sich einzelne Kantone aber nicht mehr daran halten und ein Wettrennen um die tiefsten Sozialhilfe-Ansätze entsteht, droht ein Versagen der Politik.
Frösch: Bei all dem darf man ja nicht vergessen, dass wir im Grunde von kleinen Beträgen reden, die wir uns leisten könnten. Die Aufwendungen für die soziale Sicherheit betragen 170 Milliarden Franken pro Jahr. Die Sozialhilfekosten liegen bei 2,7 Milliarden – gerade einmal 1,6 Prozent der Gesamtkosten. So günstig ist kein anderes soziales Sicherungssystem. Wir sollten stolz darauf sein, wie gut wir das hinkriegen. Stattdessen führen wir diese beschämende Spardebatte.
Aufwendige Sozialhilfefälle können aber kleine Gemeinden in Schieflage bringen.
Wolffers: Stimmt. Deshalb braucht es einen besseren Lastenausgleich. Ich verstehe die Sorgen von kleineren Gemeinden, die zum Beispiel indirekt Kosten des Bürgerkriegs in Syrien tragen, weil sie syrische Familien unterstützen müssen. Wir haben heute globale Erscheinungen, die am Schluss auf kommunaler Ebene bezahlt werden müssen. Das zeigt die Notwendigkeit, das Finanzierungssystem der Sozialhilfe grundsätzlich zu überdenken – auch die Rolle des Bundes.
Inwiefern?
Wolffers: Wir haben immer mehr Personen aus dem Asylbereich, die in die Sozialhilfe kommen, weil sie im Arbeitsmarkt nicht Fuss fassen können
. Der Bund bezahlt die Sozialhilfe nur für die ersten Jahre. Bald werden die Gemeinden neu für viele dieser Personen zuständig sein. Dadurch werden die kommunalen Sozialhilfekosten stark ansteigen. Man weiss seit langem um dieses Problem. Für die Sozialhilfe ist das eine tickende Zeitbombe.
Wohin muss sich die Sozialhilfe bewegen, damit sie in Zukunft Armut wirksam bekämpfen kann?
Wolffers: Die Sozialhilfe ist eine Volksversicherung für alle Risiken, die nicht durch die Sozialversicherung gedeckt werden. Das Problem ist, dass die Risiken zunehmen: Es gibt mehr Scheidungen, mehr Alleinerziehende, mehr Langzeitarbeitslose, mehr Behinderte, die keine IV-Rente erhalten, und mehr Migration als früher. Diese Risiken sollten nicht alle von der Sozialhilfe getragen werden, sonst wird sie überfordert. Deshalb hat die Skos beispielsweise kürzlich vorgeschlagen, dass Langzeitarbeitslose über 55 Ergänzungsleistungen statt Sozialhilfe erhalten sollen, wenn sie nicht mehr in den Arbeitsmarkt vermittelt werden
können.
Zeigt dieses Beispiel nicht auch, dass die Sozialhilfe Probleme auffangen muss, vor denen sich andere Sozialversicherungen drücken?
Wolffers: Tatsächlich hätte in diesem Fall die Arbeitslosenversicherung sagen müssen: Wir haben immer mehr ältere, ausgesteuerte Arbeitslose, was tun wir dagegen? Aber darum kümmert sich kaum jemand. Deshalb landen diese Leute als Bedürftige in der Sozialhilfe, nachdem sie zuerst ihr Vermögen aufbrauchen mussten. Das ist unfair und für die Betroffenen unwürdig.
Frösch: Es ist eine Stärke der Skos, dass sie gesellschaftliche Probleme früh erkennt, Lösungsvorschläge erarbeitet und aufs politische Parkett bringt. Diese Rolle als Vernetzerin wird die Skos noch verstärkt wahrnehmen müssen.
Was muss der künftige Skos-Präsident besonders gut können?
Wolffers: Er oder sie muss immer darauf drängen, dass soziale Probleme sachlich angegangen und dass nicht populistische Scheinlösungen beschlossen werden. Das Präsidium der Skos muss sich an der sozialpolitischen Diskussion glaubwürdig beteiligen und sich dagegen wehren, dass die Sozialhilfe schlechtgeredet wird.
Ihr Vorgänger Walter Schmid hat nach seinem Abgang im Beobachter gesagt: «Wer sich für Schwache einsetzt, tut sich mit dem Zeitgeist nicht leicht.» Würden Sie das unterschreiben?
Frösch: 100-prozentig. Der Zeitgeist steht für Steuersenkungen für Reiche und einen Abbau bei den sozial Schwächsten. Die Aussage unterschreibe ich deshalb sogar zu 150 Prozent.
- Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (Skos) ist ein Fachverband, der Empfehlungen für die Ausgestaltung der Sozialhilfe formuliert. Für die Umsetzung zuständig sind die Kantone und Gemeinden, sie orientieren sich an den Skos-Richtlinien. Diese dienen auch als Referenz für die Rechtsprechung.
- Die Skos geht auf die Schweizerische Armenpflegerkonferenz zurück. Sie tagte ab 1905 und legte den Grundstein dafür, dass Bedürftige Zugang zu staatlichen Leistungen erhalten.
- Weil es kaum Normen für die Sozialhilfe gab, begann man ab den sechziger Jahren Empfehlungen zu formulieren, um die Praxis in den Kantonen und Gemeinden zu vereinheitlichen. Diese Standards wurden seither regelmässig revidiert, zuletzt 2016/17.
- In den letzten zehn Jahren schwand die Akzeptanz der Skos zusehends. Die Sozialhilfe wurde zum politischen Zankapfel. 2013 traten erste Gemeinden unter Protest aus dem Verband aus, weil sie eine restriktivere Praxis verlangten.
- Seit 2015 müssen die Skos-Richtlinien von der Konferenz der kantonalen Sozialdirektoren genehmigt werden. Das soll mehr Verbindlichkeit schaffen, unterstreicht aber auch den verstärkten Einfluss der Politik auf die Sozialhilfe.
Wer Sozialhilfe beantragt, hat sowohl Rechte als auch Pflichten. Beobachter-Mitglieder erhalten darüber Auskunft, ob Sozialhilfe später zurückerstattet werden muss. Musterbriefe liefern zudem Unterstützung, wenn Beschwerde gegen einen Entscheid eingelegt wird.
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