Beobachter: Barbara Gysi, wir stellen eine Diskrepanz fest: Im Volk haben die Anliegen der Pflegenden viel Rückhalt, aber die Politik schiebt das Dossier seit Jahren vor sich her. Warum?
Barbara Gysi: Die Politik hat manchmal Mühe, zu verstehen, wie bedeutend die Rolle der Pflege im Gesundheitswesen ist. Dass man nicht bereit ist, die Arbeitsbedingungen zu verbessern, ist für die Pflegenden ein Schlag ins Gesicht. Dennoch läuft aber auch einiges: Der indirekte Gegenvorschlag zur Pflegeinitiative wurde in beiden Kammern verabschiedet. Er ist vor allem eine Ausbildungsoffensive, in die eine Milliarde Franken gesteckt werden soll, sowie eine Aufwertung des Berufs mit eigenverantwortlicher Abrechnungsmöglichkeit. Dass mehr Geld in die Ausbildung von Pflegepersonal fliesst, ist begrüssenswert. Wichtig ist aber, dass wir Leute nicht nur ausbilden, sondern sie auch zu fairen Bedingungen anstellen. Es braucht bessere Löhne und mehr Personal, sonst wird die Pflegekrise immer grösser.

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Die Pflegeinitiative will aber mehr?
Sie ist ein Massnahmenpaket gegen den drohenden Pflegenotstand. Bessere Arbeitsbedingungen und mehr Autonomie für Pflegende sind zentrale Forderungen. Ebenso soll mehr Personal ausgebildet werden. Es geht um eine generelle Aufwertung des Berufs. Der Selbstwert der Pflege wird gesteigert, schliesslich sind es nicht mehr Ordensschwestern, die zu Gottes Lohn arbeiten. Es ist ein eigenständiger Beruf mit viel Verantwortung. Die heute noch gültige Bezeichnung «Hilfsberuf» ist eine Zumutung. Jetzt entscheidet das Volk über den Stellenwert der Pflege.


Welche Argumente zählen im Parlament?
Das Kostenargument zieht natürlich gut. Es wurde mit horrenden und abstrusen Zahlen von Seiten der Kassen Angst gemacht, wie teuer eine Annahme der Pflegeinitiative käme. Die Krankenkassenlobby, allen voran der zweitgrösste Verband Curafutura, ist gut vernetzt und hat stark lobbyiert. Dessen Präsident, FDP-Ständerat Josef Dittli, der auch in der Gesundheitskommission sitzt, oder auch sein Vorgänger im Präsidium, der heutige Bundesrat Ignazio Cassis, sind dabei wichtige Figuren. 


Weshalb können die Pflegefachkräfte in diesem Kräftemessen nicht mithalten?
Sie sind per se nicht sehr politisch. Die Pflegelobby ist sehr klein im Vergleich zur Pharmalobby, den Krankenkassen und den Leistungserbringern wie Spitälern und Heimen. Es hat nur wenige Personen mit pflegerischem Hintergrund im Parlament, und nicht alle politisieren in ihren Themen. Im Gegensatz zu den Juristinnen und Bauern.

«Das Pflegepersonal kompensiert sehr viel, indem es unheimliche Lasten auf sich nimmt.»»

Barbara Gysi, SP-Nationalrätin

Wenn Pflegefachkräfte berichten, wie es in Heimen, Spitälern oder bei der Spitex zugeht, bekommt man Angst.
Viele Pflegende sind unter Druck, haben wenig Zeit für die Patienten, und oft sind Stationen unterbesetzt, das stimmt. Zur Care-Arbeit gehört ja gerade auch, dass man sich hinsetzt, zuhört und auf die Fragen und Sorgen der Patientinnen eingeht. Wenn das nicht mehr möglich ist, ist das ein Alarmsignal. Trotzdem habe ich insgesamt ein gutes Gefühl unseren Gesundheitseinrichtungen gegenüber. Das Personal kompensiert sehr viel, indem es unheimliche Lasten auf sich nimmt.


Ein grosser Teil des Pflegepersonals steigt irgendwann aus dem Beruf aus. Was läuft falsch?
Wir haben es verpasst, klare Standards für die Personaldotation sicherzustellen. Der Pflegenotstand ist schon da, er kommt nicht erst 2030, wie oft gesagt wird. Schon heute werden fast 40 Prozent des Pflegepersonals aus dem umliegenden Ausland rekrutiert. Das ist einerseits egoistisch, schliesslich fehlt es auch im Ausland an Fachpersonal. Andererseits wird es wegen des demografischen Wandels nicht reichen. Wir brauchen mehr und gut qualifiziertes Personal aus der Schweiz. Die Corona-Pandemie hat deutlich gezeigt, wie immens wichtig gutes Fachpersonal ist.


Das weiss man ja nicht erst seit Corona. Was muss sich ändern?
Ich wünsche mir eine deutlich vom Bund bestimmte Gesundheitspolitik. Im Gesundheitswesen ist sehr vieles kantonalisiert. Der Bund ist zwar für das Krankenversicherungsgesetz zuständig, die Umsetzung aber liegt bei den Kantonen. Die Langzeitpflege ist sogar oft auf Gemeindeebene angesiedelt. Es gibt sehr viele Akteure, die mitreden und oft nur ihre eigenen Interessen vertreten. Das alles führt zu Versplitterungen.

«Die hohen Kosten im Gesundheitswesen kommen icht von der Pflege. Sondern von unnötigen Operationen, falschen Anreizen, horrenden Honoraren von Chefärzten.»

Barbara Gysi, SP-Nationalrätin

Was könnte der Bund besser?
Der Zugang zum Gesundheitswesen ist sehr unterschiedlich, das ist nicht fair. Es kommt darauf an, wo man lebt und welche Krankenkasse man hat. Je nachdem sind die Leistungen deutlich besser oder schlechter, das ist nicht in Ordnung. Der Bund müsste verbindliche Vorgaben zu den Arbeitsbedingungen machen, Personalschlüssel festsetzen und dafür sorgen, dass alles überall vergleichbar umgesetzt wird. Das ist im föderalistischen Schweizer System aber kaum umsetzbar. Es brauchte eine Verfassungsänderung.


Es kommt immer das Killerargument der hohen Kosten, der steigenden Prämien. Wie sehr leidet die Pflege darunter?
Die hohen Kosten im Gesundheitswesen kommen nicht von der Pflege. Sondern von unnötigen Operationen, falschen Anreizen, horrenden Honoraren von Chefärzten. Die Technisierung spielt auch eine Rolle, teure Geräte müssen ausgelastet werden. Wenn alle unnötigen Untersuchungen und Operationen vermieden würden, würde sehr viel gespart. Auf der anderen Seite will man, sobald man dann selbst krank ist – oder eine nahestehende Person –, einfach nur die bestmögliche Behandlung, die Kosten sind plötzlich nicht mehr relevant. Klar ist: Investitionen in die Arbeitsbedingungen steigern die Qualität und verhindern damit Fehler und schliesslich Kosten.


Wie wollen Sie klarmachen, dass es um die Patientensicherheit geht und nicht um zusätzliche Kosten?
Das Gesundheitswesen muss klarer als Service public verstanden werden, und es müssen mehr öffentliche Gelder fliessen, damit das nicht die Bürgerinnen und Bürger allein tragen müssen. Unser Kopfprämiensystem ist nicht fair: Wenn die mit dem dicken Portemonnaie auch eine dicke Prämienrechnung hätten, sähe vieles anders aus.

Zur Person

Barbara Gysi, 57, ist SP-Nationalrätin, St. Gallen, Mitglied der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit (SGK) und sitzt im Initiativkomitee der Pflegeinitiative.

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