«Weiss die Kesb eigentlich, in welchem Zustand mein Bruder ist?», fragt Sofia Sarikakis* in ihrer Beschwerde an den Bezirksrat. «Dass er weder selbständig essen noch trinken kann? Dass er Windeln braucht? Dass er nicht sprechen kann, weder lesen noch schreiben?» Sie fragt, was sich die Behörde gedacht habe, als sie ihren «Beschluss» nicht nur der Mutter, sondern auch dem zerebral gelähmten 33-jährigen Bruder geschickt hat? «Sollen wir es ihm zu lesen geben?» Geschmacklos sei das und unmenschlich.

Die Familie Sarikakis lebt im Kanton Zürich. Der Entscheid der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) betraf das Vermögen von Sofias Bruder Alexis. Die Kesb hatte das von der 41-jährigen KV-Angestellten und ihrer Mutter erstellte Inventar genehmigt. Hintergrund: Die Mutter als Beiständin muss über Alexis’ Einnahmen und Ausgaben Buch führen sowie regelmässig Bericht erstatten.

Dem Beschluss lag ein vierseitiges Merkblatt bei, das selbst für geübte Leser schwer verständlich ist. Ein Tipp darin: Man soll ein zweites Konto eröffnen für allfällige überschüssige Einnahmen, über die dann die Kesb mitverfügen könne. «Eine Frechheit», findet Mutter Helena Sarikakis. «Was meinen Sie, wie viel übrig bleibt, wenn man von einer IV-Rente mit Ergänzungsleistungen lebt?»

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Belege sammeln, Tabellen ausfüllen

Die Schweizerin mit griechischen Wurzeln sorgt seit 33 Jahren Tag und Nacht für ihren Sohn. An einen Job ausser Haus ist daneben nicht zu denken. Tochter Sofia hilft ihr in jeder freien Minute, seit sie neun ist. «Wir haben keine Zeit, Quittungen zu sammeln und Excel-Tabellen auszufüllen», sagt sie. Der Mutter jagte all das Angst ein: «Uns wurde nicht einmal erklärt, was das alles soll. Es hiess nur, man müsse verhindern, dass mein Sohn ausgenützt werde – von mir, seiner eigenen Mutter, die ihn seit 33 Jahren umsorgt!»

Eltern von erwachsenen Behinderten, die zuvor die erstreckte elterliche Sorge innehatten, wurden 2013 mit dem neuen Erwachsenenschutzrecht zu Beiständen. Das Gesetz verpflichtet die Kesb, sie zu kontrollieren – zum Schutz der Betroffenen.

«Die Kesb schrieb, sie müsse verhindern, dass mein Sohn ausgenützt werde - von mir, seiner eigenen Mutter, die ihn seit 33 Jahren umsorgt!»

Helena Sarikakis, Mutter des schwer behinderten Alexis

Die zuständige Kesb darf aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes keine Stellung nehmen. Sie hält aber fest, die Führung einer Beistandschaft sei anspruchsvoll. Deshalb investiere man viel in die Gespräche mit Angehörigen von Betroffenen, um ihre Aufgaben als Beistände zu klären. In ihrer Beschwerde verlangen die Sarikakis, dass sämtliche Beschlüsse aufzuheben und der Fall der Kesb zu entziehen seien. Teilweise haben sie vom Bezirksrat Recht erhalten. Die Kesb hatte zu Unrecht verlangt, dass die Sarikakis mit der Bank einen Vertrag abschliessen und die Krankenkasse überprüfen müssen, sie kann dies nur empfehlen. Im Kern handelt die Kesb aber korrekt, wenn sie eine genaue Buchhaltung verlangt. Das Gesetz verpflichtet sie dazu.

Trotzdem kritisieren Behindertenorganisationen das Vorgehen der Kesb. «Es braucht mehr Augenmass», findet Christa Schönbächler von Insieme. Die Möglichkeit dazu hätte die Kesb. Wenn die Eltern erwachsener Behinderter als Beistände eingesetzt werden und die Vermögensverhältnisse nicht kompliziert sind, könnte die Kesb sie von der Pflicht zur Buchhaltung und Berichterstattung befreien. Manche Kesb tut das, andere nicht.

Mehr Feingefühl, weniger Probleme

Ziel der Schaffung der Kesb sei gewesen, die familiäre Solidarität zu fördern, sagt Christa Schönbächler. Doch wenn man gleich hohe Anforderungen an Eltern stelle wie an professionelle Beistände, bewirke man am Ende das Gegenteil. Eltern brüten über Formularen oder formulieren Beschwerden, statt Zeit mit ihren Kindern zu verbringen. «Die Kesb, die ja immer wieder klagen, wie überlastet sie seien, könnten sich mit etwas Empathie und mehr Sinn für die Verhältnismässigkeit viel Arbeit sparen», findet auch Jean-Jacques Bertschi, Präsident des Kantonalzürcher Insieme-Dachverbands. «Viele Probleme würden gar nicht entstehen, wenn die Kesb feinfühliger ans Werk gingen.»

Zündstoff birgt die Abklärung, ob die Eltern sich als Beistände eignen. Das ist nötig, wenn behinderte Kinder volljährig werden. «Viele Eltern haben Mühe damit, dass sie plötzlich Rechenschaft ablegen müssen über einzelne Pflegeleistungen, nachdem sie jahrzehntelang für ihre Kinder gesorgt haben und sich kaum jemand dafür interessiert hat», sagt Ursula Diethelm von der Stiftung Cerebral.

«Es klang wie ein Vorwurf, dass ich meine Tochter mit Down-Syndrom zur Welt gebracht habe.»

Anita Birrer, Mutter einer 30-Jährigen

Hinzu kommt bisweilen mangelndes Fingerspitzengefühl. Anita Birrer*, Mutter einer 30-jährigen geistig Behinderten aus dem Aargau, berichtet vom «Eisregen», der über sie niedergegangen sei, als sie die Kesb-Mitarbeiterin fragte, welche Unterlagen benötigt würden. «Schicken Sie erst mal einen Betreibungs- und einen Strafregisterauszug», habe sie kühl gesagt. «Später wollte sie wissen, ab wann ich denn gewusst habe, dass meine Tochter das Down-Syndrom hat», erzählt Birrer. «Es klang wie ein Vorwurf, dass ich sie zur Welt gebracht habe.»

Auch die Juristensprache der Kesb-Profis kommt nicht immer gut an. Die Behörde schrieb etwa an Gottfried Winiger*, Vater einer geistig behinderten 23-Jährigen, man müsse gerade Angehörige genau kontrollieren, da bei ihnen durch die fehlende professionelle Distanz die Gefahr von Missbrauch und Ausbeutung besonders gross sei. So steht es auch in der Botschaft des Bundesrats zum Erwachsenenschutzgesetz. «Eine Frechheit!», empört sich der Zürcher Unternehmer.
Winiger ist geübt im Umgang mit Zahlen und Behörden, die Buchführung wäre für ihn keine grosse Sache. Doch weigert er sich, dieser Pflicht nachzukommen, und überlegt sich, seine vom Bezirksrat abgelehnte Beschwerde weiterzuziehen. Ihm geht es ums Prinzip: «Uns sagte die Kesb, sie werde uns auf keinen Fall von der Rechnungslegung befreien. Das ist nicht im Sinn des Gesetzes.»

Ein Vertrag mit geistig Behinderten

Ruedi Winet, Präsident der Zürcher Kesb-Präsidienvereinigung, hat Verständnis für den Ärger mancher Eltern und bestätigt den unterschiedlichen Umgang der Zürcher Kesb mit ihnen. Eine Vereinheitlichung sei aber schwierig. «Die Frage liegt im Ermessen der Behörde.»

Ähnlich klingt es im Kanton Aargau, wo die Kesb Familiengerichte sind. Man strebe eine einheitliche, unkomplizierte Praxis an, sagt Oberrichter Jürg Lienhard, Chef der Kesb des Kantons Aargau. «Mit einem Leiturteil haben wir bewirkt, dass Eltern mit ihren Kindern keine Betreuungsverträge abschliessen müssen.» Im Einzelfall sollten die Familiengerichte aber unabhängig entscheiden können. Gemäss Ruedi Winet braucht es eine landesweite Lösung. Eine Arbeitsgruppe der Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz arbeite nun einen Vorschlag aus.

«Wir haben bewirkt, dass Eltern mit ihren Kindern keine Betreuungsverträge abschliessen müssen.»

Jürg Lienhard, Chef der Kesb des Kantons Aargau

Der Obwaldner CSP-Nationalrat Karl Vogler ist ebenfalls aktiv geworden. Ende April verlangte er in einer parlamentarischen Initiative die Änderung des betreffenden Gesetzesartikels. Statt alle Eltern zur Rechnungslegung zu verpflichten und sie nur in Ausnahmefällen davon zu entbinden, soll künftig das Umgekehrte gelten. In einem ersten Gesetzesentwurf war das sogar so vorgesehen. Bis es so weit ist, schauen viele Betroffene neidisch in den Kanton Bern. Dort haben die Kesb und Insieme eine Vereinbarung ausgehandelt, wonach Eltern grundsätzlich keine Buchhaltung führen müssen – wenn sie das beantragen.

*Name geändert