Viele Geschädigte, viele mehr oder weniger kleine Schäden. Für Einzelne ist es meist finanziell zu riskant, die ganze Maschinerie mit teuren Anwälten und jahrelangen Gerichtsverfahren in Gang zu setzen. Recht haben, aber kein Recht bekommen: Das ist ein Problem für den Rechtsstaat. Profitieren tun Unternehmen und Konzerne, die sich nicht an die Spielregeln halten und dadurch unter Umständen viel sparen. Denn in der Summe können die Schäden in die Millionen gehen.

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Eines der aktuell bekanntesten Beispiele für Massenschäden ist VW. Nachdem die Dieselaffäre 2015 öffentlich wurde, waren viele Kunden vor den Kopf gestossen: sie hatten einst für vermeintlich besonders umweltfreundliche Autos zu viel bezahlt, die betroffenen Fahrzeuge waren auf einen Schlag viel weniger wert.

Inzwischen hat VW in den USA insgesamt für Strafen und Entschädigungen mehr als 20 Milliarden Dollar zahlen müssen. In Deutschland hat der Verbraucherzentrale Bundesverband, eine Konsumentenschutzorganisation, mit einer Musterfeststellungsklage einen Vergleich mit VW erzielen können. Mindestens 200'000 geprellte Kunden kriegen eine Entschädigung.

Ende Mai bestätigte zudem der deutsche Bundesgerichtshof eine Einzelklage gegen VW, ein wegweisendes Signal in der Dieselaffäre. Er stellte fest, dass VW vorsätzlich getäuscht hatte und dem Kläger einen grossen Teil des Kaufpreises rückerstatten muss. Neben dem mit der Verbraucherzentrale bereits geschlossenen Vergleich sind in Deutschland nämlich noch 60'000 Klagen hängig. Für diese hat das oberste Gericht nun eine klare Leitlinie geschaffen. Betroffene können sich darauf beziehen und ihre Chance auf Schadenersatz ist dadurch markant gestiegen. 

Kein Geld für Schweizerinnen und Schweizer

Und in der Schweiz? Hier schauen Betroffene in die Röhre. Deshalb setzt sich die Stiftung für Konsumentenschutz SKS mit einer Schadenersatzklage im Namen von rund 6000 Betroffenen Abgasskandal Tausende klagen gegen VW und Amag dafür ein. Nachdem das Handelsgericht Zürich dem Konsumentenschutz absprach, in dieser Sache überhaupt klageberechtigt zu sein, ist der Fall beim Bundesgericht hängig. 

Wieso bekommen Geschädigte in den USA und in Deutschland Geld, in der Schweiz aber nicht? Die manipulierten Motoren sind überall dieselben. Aber das Rechtssystem nicht. 

Neben dem spektakulären VW-Fall gibt es im In- und Ausland für sogenannte Streu- und Massenschäden viele Beispiele. Etwa falsche Berechnungsmethoden von Krankenkassen für Spitalbeiträge, wegen denen Patientinnen zu hohe Kosten aufgebürdet wurden. Oder das versehentliche Löschen von Daten hunderter Swisscom-Kunden aus der Cloud. 

Auch Retrozessionen Kickbacks Das Geld gehört den Kunden  sind ein Beispiel, also Provisionen, die Banken von Anbietern von Anlagefonds erhalten. Diese gehören gemäss einem Bundesgerichtsurteil eigentlich den Kunden, aber viele Banken lassen es darauf ankommen, dass die das entweder nicht wissen oder die Beträge je nach Fall zu klein sind, um sich die Mühe zu machen, sie einzufordern. Kumuliert geht es aber um Riesenbeträge, die zu Unrecht bei den Banken bleiben.

Wieso sträubt sich die Schweiz gegen Sammelklagen?

In der Schweiz gibt es im Gegensatz zu anderen Ländern keinen echten kollektiven Rechtsschutz. Keine Möglichkeit, eine grosse Zahl gleicher Delikte gebündelt und gemeinsam anzuklagen. Keine Sammelklagen.

Der Bundesrat stellte zwar bereits 2013 in einem Bericht fest, dass die bestehenden Instrumente im Schweizer Rechtssystem unbefriedigend, gar ungenügend, seien und eine Lücke zur effektiven Durchsetzung von Massen- und Streuschäden bestehe. Namentlich im Finanz- und Kapitalmarkt, im Konsumentenschutz, im Kartellrecht, im Persönlichkeits- und Datenschutz sowie im Gleichstellungsrecht. Zu oft sei dadurch der Zugang zum Gericht in Frage gestellt.

Eine Verbesserung der Situation sei nicht nur für der Einzelnen sondern auch im allgemeinen öffentlichen Interesse eines effizienten und funktionierenden Justizsystems. Wieso sträubt sich also die Schweiz so sehr gegen Sammelklagen?

Schon verschiedentlich hat der Bundesrat versucht, die Gesetzeslücke zu schliessen. Zuerst sollten im Nachgang zur Lehman-Pleite Anlegerschutz Als hätte es nie eine Finanzkrise gegeben und Finanzkrise im Finanzdienstleistungsgesetz Sammelklagen gegen fehlbare Anlageberater ermöglicht werden.

Wegen heftiger Opposition zog der Bundesrat diesen Vorschlag wieder zurück, um wenigstens den Rest des massiv abgeschwächten Gesetzes Finanzdienstleistungsgesetz Die gedemütigten Anleger zu retten. Stattdessen wollte man das Thema in der Revision der Zivilprozessordnung aufnehmen. Ende Februar 2020 dann beiläufig die Nachricht: die Botschaft zur Zivilprozessordnung geht ohne Vorschlag zur kollektiven Rechtsdurchsetzung ins Parlament, das Thema habe in der Vernehmlassung zu viel Kritik geführt. «Um den weitgehend unumstrittenen Teil nicht zu gefährden, hat der Bundesrat deshalb entschieden, die Frage des kollektiven Rechtsschutzes aus dieser Vorlage herauszulösen und separat zu behandeln», heisst es jetzt.

Die Mühlen in Bundesbern mahlen langsam, damit ist eine echte Lösung für zahlreiche Geschädigte in der Schweiz also erneut gescheitert und auf die lange Bank geschoben. 

Dabei ist es nicht nur der Bundesrat, der das Justizsystem in dieser Hinsicht überarbeiten will. Eine von der SP-Nationalrätin Prisca Birrer-Heimo 2013 eingereichte Motion wurde von beiden Räten angenommen, womit der Bundesrat den Auftrag des Parlaments hätte, Massnahmen zu treffen oder einen Entwurf für einen Erlass vorzulegen.

Konkret fordert das Parlament mit der Motion, die «notwendigen Gesetzesänderungen auszuarbeiten, welche es einer grossen Anzahl gleichartig Geschädigter erleichtern, ihre Ansprüche gemeinsam vor Gericht geltend zu machen». Einerseits sollten demnach die bereits bestehenden Instrumente ausgebaut und andererseits auch neue Instrumente des kollektiven Rechtsschutzes geschaffen werden. Die Ausgestaltung solle den spezifisch schweizerischen Gegebenheiten Rechnung tragen und Missbräuche verhindern. Und sich an den Erfahrungen europäischer Länder orientieren, die bereits solche Modelle eingeführt haben. 
 

Büchse der Pandora nicht öffnen

Gescheitert ist das Vorhaben bisher primär an der Opposition der Wirtschaft. Der Verband Economiesuisse argumentiert in einem umfassenden Dossier, dass Sammelklagen kaum Nutzen, aber dafür viele Gefahren mit sich bringen würden. Sandrine Rudolf von Rohr, Rechtsanwältin und stellvertretende Leiterin Wettbewerb und Regulatorisches bei Economiesuisse, sagt, dass Sammelklagen zudem ein hohes Missbrauchsrisiko bergen. «Unternehmen, insbesondere auch KMU, die sich keine teuren Anwälte leisten können, kämen dadurch stark unter Druck. Ein langwieriger Prozess könnte kleinere Betriebe in ihrer Existenz bedrohen. Sie wären daher gezwungen, sich schon in einem frühen Stadium auf einen unter Umständen unvorteilhaften Vergleich einzulassen, auch wenn sie in der Sache inhaltlich Recht haben. Einfach, weil sie sich lange Prozesse nicht leisten können», sagt Rudolf von Rohr.

«Ausserdem wollen wir keine Klageindustrie nach US-Vorbild in der Schweiz. Anwälte, auch solche, die aus dem Ausland auf den Schweizer Markt drängen, haben ein Interesse daran, ihre Geschäftspraxis hier hochzufahren, da sie grosse Gewinne erwarten. Davon profitieren weder die Konsumenten noch die Wirtschaft, sondern nur die Anwälte, die sich immer wieder neue Möglichkeiten zum Klagen suchen.»

Sie gibt auch zu bedenken, dass wegen einem solchen Systemwechsel die Preise für Konsumenten steigen könnten, da die höheren Risikokosten auf sie überwälzt würden. Schliesslich könnte es wegen langen Prozessen zu einer Mehrbelastung für die Justiz kommen.

«Dass man keine amerikanischen Verhältnisse will, ist ein schwaches Argument. Für die exzessive Situation in den USA sind verschiedene rechtliche Umstände mitverantwortlich, die es in der Schweiz nicht gibt.»

Philipp Haberbeck, Wirtschaftsanwalt

Sandrine Rudolf von Rohr warnt davor, die Büchse der Pandora zu öffnen: «Vielfach wird behauptet, dass man hierzulande ja kein amerikanisches System einführen würde, sondern eine schwächere Form. Und vielleicht wäre es am Anfang auch so. Aber wenn man dann nicht wie gewünscht zum Erfolg kommt, wäre es politisch ein kleiner Schritt, das bereits bestehende System einfach zu verschärfen. Deshalb: wehret den Anfängen». Nicht zuletzt würde die Einführung eines kollektiven Rechtsschutzes hierzulande bewährte Grundprinzipien des Justizsystems missachten. Damit meint sie zum Beispiel, dass jede Partei das Recht darauf hat, vor Gericht angehört zu werden.

Das sieht der Bundesrat anders und findet, das wäre mit dem geltenden Recht durchaus kompatibel. «Die Idee einer kollektiven Rechtsdurchsetzung mittels eigentlicher Gruppenklagen ist dem Schweizerischen Recht keinesfalls fremd», hält er im Bericht fest. Und sorgt sich nicht darum, dass die Gerichte wegen allfälliger neuer Instrumente zu viel zu tun hätten. Vielmehr sieht er mit den jetzt geltenden Regeln die Gefahr, dass bei Massenschäden und vielen einzelnen und gleichgelagerten Gerichtsverfahren das Justizsystem ineffizient und überlastet wird.  

Präventive Wirkung

Der Bundesrat befand 2013, dass die Systeme in den Niederlanden, in Österreich und in Deutschland für die Schweiz berücksichtigt werden sollten. Dort kennt man teilweise bereits seit Jahren verschiedene Ansätze wie gebündelte Ansprüche durch Organisationen, Musterverfahren sowie Gruppenvergleichsverfahren. Die EU-Kommission will europaweit ein kohärentes System. Sie hatte vor einigen Jahren all ihren Mitgliedsstaaten die Einführung von Instrumenten zum kollektiven Rechtsschutz empfohlen und legte 2018 mit einem Richtlinienentwurf nach. Diesen nahmen die Mitglieder an, nun muss das EU-Parlament sich noch dafür aussprechen.

Der auf Prozessführung spezialisierte Wirtschaftsanwalt Philipp Haberbeck findet es enttäuschend, dass der Bundesrat bisher alle Verbesserungsvorschläge in «vorauseilendem Gehorsam» aus den Vorlagen gestrichen hat. Er hatte in seinen früheren Tätigkeit, insbesondere bei der internationalen Kanzlei Curtis Mallet-Prevost, auch praktisch viel mit Sammelklagen zu tun. Er sagt: «Dass man keine amerikanischen Verhältnisse will, ist ein schwaches Argument und es sticht nicht für die Schweiz. Für die exzessive Situation in den USA sind verschiedene rechtliche Umstände mitverantwortlich, die es in der Schweiz nicht gibt und deren Einführung hierzulande vom Gesetzgeber nicht einmal ansatzweise diskutiert wird.» Dazu gehöre zum Beispiel, dass in den USA reine Erfolgshonorare für die Anwälte gängig sind, was in der Schweiz verboten sei. Auch müsse man dort keine hohen Gerichtsgebühren zahlen, wenn man unterliegt, was das Prozessieren attraktiver mache als hier. 

Konsumentenschutz-Geschäftsleiterin Sara Stalder, die mit der VW-Schadenersatzklage versucht, für geschädigte Autobesitzer in der Schweiz zu erreichen, was mit den bestehenden Instrumenten möglich ist, sagt: «Alleine ist man auf verlorenem Pfad in der Schweiz. Der Rechtsstaat funktioniert nicht.» Die heisse Kartoffel werde von einem Gesetz ins nächste geschoben. Dabei sei der Auftrag des Parlaments klar.

Mit Economiesuisse geht sie hart ins Gericht und sagt, der Verband fördere, dass sich Industrie und Anbieter nicht rechtskonform verhalten müssten. Die Unternehmen, die sich an die Regeln hielten, seien dann die Dummen. «Dabei hat kollektiver Rechtsschutz auch eine präventive Wirkung, die nicht unterschätzt werden darf. Die Erfahrung zeigt: Gibt es eine gesetzliche Grundlage, wird deutlich schneller miteinander geredet und um eine Lösung gerungen», sagt Stalder. Zudem sei eine solche Reform nicht nur für Konsumenten wichtig, sondern auch für Unternehmer, Pensionskassen und die öffentliche Hand. Mangelhafter Rechtsschutz treffe jeden und es sei absurd, wenn man ein unbestrittenes Unrecht wegen einer Lücke im Prozessrecht nicht bestrafen könne.

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Tina Berg, Redaktorin
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