Sie kommt soeben aus dem Gefängnis. Dort hat sie einen 25-jährigen Afghanen besucht, der einen Suizidversuch beging und nun im Basler Bässlergut auf die Ausschaffung wartet. Anni Lanz hat ihm einfach zugehört. «Ich frage sie nicht aus. Sie erzählen meistens von selbst», sagt die 76-Jährige am Esstisch ihrer Dreizimmerwohnung in Basel.

Der Afghane will unbedingt in der Schweiz bleiben, weil seine ganze Familie hier lebt. Seine Eltern und Geschwister wurden vorläufig aufgenommen. Er nicht. Denn einen Familiennachzug gibts bei vorläufiger Aufnahme nur für Minderjährige – und erst noch nach langer Wartefrist.

«Der Afghane hat in einem Bundesasylzentrum mit einer Ukrainerin gesprochen. Er kann nicht verstehen, dass sie problemlos bei ihrer Familie bleiben darf, er aber in ein EU-Land ausgeschafft wird.» Grund ist der Status S, der Ukrainerinnen und Ukrainer schützt, nicht aber Menschen wie ihn, die aus dem falschen Land kommen, zum Beispiel eben aus Afghanistan.

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Gegen solche Widersprüche kämpft Anni Lanz seit fast 40 Jahren. In dieser Zeit hat sie viele Flüchtlinge kommen sehen – die Kurdinnen und Tamilen in den Achtzigerjahren, die Bosnierinnen, Serben, Kosovo-Albanerinnen in den Neunzigern, die Afghanen, Syrerinnen zu Beginn des neuen Jahrtausends – und jetzt die Ukrainerinnen.

Der Sinn des Lebens

Sie hat nicht einfach zugeschaut, sondern gehandelt. Sie hat abgewiesene Menschen versteckt, sie begleitet und ermutigt, sie immer wieder im Gefängnis besucht, Hunderte Rekurse geschrieben und Dutzende politische Kämpfe ausgefochten. Und fast immer verloren. 14 Abstimmungen und unzählige Asylverfahren. «Ich bin stur», sagt sie. Stur, wenn sie etwas nicht richtig finde. Anni Lanz ist eine unerbittliche Kämpferin für Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Solidarität.

Darum erteilte ihr die Juristische Fakultät der Universität Basel 2004 die Ehrendoktorwürde, wurde sie 2005 als eine von fünf Schweizerinnen beim Projekt «1000 Friedensfrauen» für den Friedensnobelpreis nominiert, erhielt sie 2007 den Fischhof-Preis der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus und der Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz. Und deshalb verleiht die Redaktion des Beobachters Anni Lanz jetzt den Lifetime Award 2022 des Prix Courage.

Lifetime Award Gewinnerin: Anni Lanz

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Anni Lanz ist stur, hat Herz und Köpfchen. Seit bald 40 Jahren kämpft sie für Menschen auf der Flucht.
 Dafür verleiht ihr der Beobachter den Prix Courage Lifetime Award 2022.
Quelle: Beobachter Bewegtbild

«Als junges Mädchen habe ich immer nach dem Sinn des Lebens gesucht», erzählt Anni Lanz. «Dann habe ich gemerkt: Wenn ich etwas für andere mache, gibt mir das Lebenssinn.» Und sagt in ihrer Stube, in der im Lauf der Jahrzehnte über 100 Geflüchtete gelebt haben: «Genau diese inspirierende Wirkung von Hilfe entdecken im Moment gerade alle Menschen, die sich für Flüchtlinge aus der Ukraine einsetzen.»

Wieso aber die grosse Solidarität mit Ukrainern, nicht aber mit Afghanen? Weil Ukrainerinnen uns näherstehen? Den Unterschied erklärt sich Anni Lanz anders: mit dem David-gegen-Goliath-Effekt. Dass ein grosses, starkes Land ein kleineres Land überfällt, habe grosse Solidarität ausgelöst. Genauso brutale Kriege etwa in Syrien und Afghanistan würden von Behörden und Medien aber als interne Angelegenheit dargestellt, obwohl auch da Grossmächte involviert seien. «Für die einzelnen Menschen ist die Situation immer dieselbe: Ein Krieg verursacht grosse Not, Angst und Lebensgefahr. Egal, ob Angriffs- oder Bürgerkrieg.»

Oft vor die Tür gestellt

Anni Lanz wurde 1946 in Basel in gutbürgerlichen Verhältnissen geboren. Schon früh eckte sie an, glaubte, mit ihr stimme etwas nicht. «Ich wäre gern wie alle andern gewesen, aber ich war einfach nicht so.»

Während der Schulzeit wurde Anni oft vor die Tür gestellt, weil sie vorlaut war. Das Lehrerinnenseminar wies sie ganz von der Schule. Da war sie 22. Eine so magere Frau könne man nicht vor eine Klasse stellen – sie litt an Magersucht –, und sie sei zu wenig autoritär aufgetreten.

«Das stimmte natürlich», lacht sie mit der befreiten Art eines Menschen, der auf sein Leben zurückblickt. «Wenn die Schüler keine Lust aufs Zeichnen hatten, sagte ich: Wenn ihr nicht wollt, dann wollt ihr halt nicht.» Und fügt bei: «So kann man natürlich nicht Zeichenlehrerin sein.»

«Mach etwas aus deinem Leben!»

Lanz heiratete einen Mitstudenten an der Kunstgewerbeschule, wurde Hausfrau, aber unglücklich. Bis ihr Mann meinte: Mach etwas aus deinem Leben, geh studieren! Während sie an der Uni Basel Soziologie studierte, kam die vorher unpolitische Lanz mit der 68er- und der Frauenbewegung in Kontakt. Eine entscheidende Begegnung.

«Vorher dachte ich immer, ich sei keine richtige Frau, weil ich den Rollenerwartungen nicht entsprach.» Die Frauenbewegung war für sie eine grosse Befreiung. «Endlich konnte ich sein, wie ich war, musste zum Beispiel keine Nylonstrümpfe mehr anziehen», darüber amüsiert sie sich noch heute. «Da musste die Naht immer genau in der Mitte des Beins liegen. Aber die blöden Nähte verrutschten ständig.»

Nach dem Soziologiestudium machte sie das Wirtepatent und wurde Mitgründerin der selbstverwalteten Basler Beiz Hirscheneck. Dann kam die Nacht ihres 40. Geburtstags. Sie sei mit Freundinnen um ein Feuer gesessen, sie hätten sich stundenlang Geschichten erzählt. Da habe sie eine plötzliche Erkenntnis gehabt: Jetzt bin ich alt. «Das hat mich unheimlich befreit. Ab da konnte ich tun, was ich wollte. Ich hatte eine völlige, innere Narrenfreiheit.»

Auch einmal auf die Nase gefallen

Im gleichen Jahr begann sie, sich für Geflüchtete einzusetzen. Damals waren Menschen aus Zaire in die Schweiz gekommen, die vor dem Diktator Mobutu geflüchtet waren. Es kamen Kurden, die nach dem Militärputsch in der Türkei nicht mehr sicher waren, und Tamilen, die vor dem Bürgerkrieg gegen die Singhalesen aus Sri Lanka geflüchtet waren.

Anni Lanz versteckte erstmals Geflüchtete, die ausgeschafft werden sollten. Und fiel damit auf die Nase. Ein Flüchtling, für den sie sich voll und öffentlich einsetzte, log sie an. Die Geschichte machte Schlagzeilen – der Flüchtling, der die Flüchtlingshelferin verarschte. «Das war mir eine Lehre. Seither studiere ich immer zuerst die Akten, bevor ich einen Flüchtling verteidige», erzählt sie.

Anni Lanz ist ständig erreichbar für hilfesuchende Flüchtlinge, Sans-Papiers, Helferinnen und Helfer.

Voller Einsatz: Anni Lanz ist ständig erreichbar für hilfesuchende Flüchtlinge, Sans-Papiers, Helferinnen und Helfer.

Quelle: Christian Schnur

Bei Asylbefragungen protokollierte Lanz als Vertreterin der Hilfswerke. Auch da eckte sie bald an: «Ich habe realisiert, dass man bei Ehepaaren nur die Männer befragte, die Frauen kaum. Dabei haben sie oft schlimmere Fluchtgründe als die Männer – etwa Vergewaltigungen.» Als sie das kritisierte, wurde sie vom Hilfswerk entlassen.

Doch sie wäre nicht Anni Lanz, wenn sie nicht einen Weg gefunden hätte, sich noch mehr einzubringen. Sie arbeitete sich ins Ausländer- und Asylrecht ein, übernahm Rechtsvertretungen, schrieb Rekurse und konnte so wieder an den Befragungen teilnehmen.

Sie war aber nicht nur Rechtsvertreterin, sondern blieb eine Frau der Tat. So sagt sie: «Nur auf zwei Beinen kann man gehen.» Man müsse in der Theorie sattelfest sein und genauso in der Praxis. Und die Geflüchteten und ihre Schicksale persönlich kennen. Politikerinnen und Politiker seien oft rein theoretisch mit der Sache befasst, viele hätten wenig Ahnung von der Praxis.

«Dauernd Flüchtlinge angeschleppt»

Im Lauf der Jahre beherbergte sie unzählige Flüchtlinge bei sich zu Hause in der Dreizimmerwohnung in Kleinbasel, wo sie seit Ende der Siebzigerjahre wohnt. Ihr Mann finanzierte und erduldete das. Sie habe dauernd Flüchtlinge angeschleppt. Immer war jemand im Bad oder in der Küche. «Mein Mann war ein unglaublicher Mensch, sehr bescheiden.» Zugleich sei er sehr belesen gewesen, auch in juristischen Fragen lange besser als sie. Solidarisch an ihrer Seite, starb er vor sechseinhalb  Jahren.

Anni Lanz erlebte die Veränderung des Asylrechts hautnah mit. In den Achtzigerjahren profilierte sich das Parlament weniger mit Flüchtlingsabwehr als später. Es gab eine breite Flüchtlingsbewegung und mit Peter Arbenz und später mit Jean-Daniel Gerber Asyldirektoren des Bundes, die zuweilen menschlich  reagierten. Später hätten nach und nach die Legalisten übernommen, wie Anni Lanz sie nennt.

«Ein Legalist klammert sich an den Text eines Gesetzes, kennt aber den Geist der Gesetze nicht, die umfassende Rechtsprechung und die Grundprinzipien des Rechts – etwa die Menschenrechte und das Völkerrecht. Legalisten sind weit weg von Menschlichkeit und übergeordneter Gerechtigkeit.»

Gewisse Kriterien, die eigentlich wenig zentral waren, seien immer wichtiger geworden. Etwa dass man nachweisen musste, dass man gezielt verfolgt wurde. Nur dann erhielt man Asyl. «Alle Kriegsflüchtlinge, die nicht nachweisen können, dass sie persönlich verfolgt werden, hatten kaum mehr eine Chance auf Asyl, obwohl sie einer Bevölkerungsgruppe angehören, die massakriert wird», beschreibt Lanz die Entwicklung. Und da schliesse sich der Kreis zum Afghanen, der jetzt im Ausschaffungsgefängnis Bässlergut auf seine Ausschaffung wartet: «Die Taliban stellen keine Strafbefehle aus. Wie sollen dann Menschen beweisen, dass gezielt sie verfolgt werden?»

Rettung bei minus zehn Grad

Anni Lanz richtet ihr Engagement ganz auf den Menschen aus. Dafür stellt sie sich notfalls auch gegen das Gesetz. So auch Ende Februar 2018. Damals hört sie von einem Afghanen, der aus der Schweiz nach Italien ausgeschafft worden war, vom zugewiesenen Heim in Mailand abgewiesen wurde und nun in Domodossola bei minus zehn Grad herumirrte.

Sie weiss, dass der Mann gemäss Arztgutachten als suizidgefährdet gilt und ambulant sowie teils stationär behandelt wurde. Sein Vater, seine Frau und sein Kind waren von den Taliban ermordet worden. Sie nimmt auch an, dass das Asylverfahren in der Schweiz noch nicht abgeschlossen ist. Lanz versucht, die Caritas in Domodossola telefonisch zu erreichen. Erfolglos.

Es ist bereits Abend, niemand mehr im Büro. So fährt sie mit dem Schwager des Afghanen nach Domodossola, findet den Gesuchten am Bahnhof, ohne Gepäck und unterkühlt. «So konnten wir ihn doch nicht zurücklassen», erzählt sie. Sie wollen ihn in die Schweiz mitnehmen, werden aber am Grenzposten Gondo von Grenzpolizisten angehalten. Der 30-jährige Afghane wird nach Domodossola zurückgeschickt, Anni Lanz wird gebüsst.

Wegen «Förderung der rechtswidrigen Einreise» – zuerst mit einer bedingten Geldstrafe, dann milderte das Bezirksgericht Brig die Geldstrafe in eine Busse von 800 Franken. Das Urteil wird im August 2020 vom Bundesgericht bestätigt. Anni Lanz könne diese Tat weder mit Notstandshilfe noch mit Wahrung berechtigter Interessen rechtfertigen, argumentiert das Gericht. Sie hätte die Gefahr für den Afghanen auch anders abwenden können – etwa indem sie ihm eine Notschlafstelle in Domodossola oder eine Behandlung in einem Spital verschafft hätte.

Proteste gegen das Urteil

«Das ist doch reine Spekulation», sagt Lanz. «Es war Wochenende. Die Grenzpolizei hat dem Mann nicht geholfen, ihm bloss einen windgeschützten Platz im Bahnhof zugewiesen. Ich konnte nicht anders handeln.» Der Entscheid des Bundesgerichts löst Proteste aus. Amnesty International schreibt von einer «Kriminalisierung der Solidarität».

Ein Vorstoss scheitert im Parlament nur knapp. Er sollte den Strafartikel ändern, der sich eigentlich gegen Schlepper richtet, aber oft gegen solidarische Helferinnen und Helfer wie Anni Lanz angewandt wird.

«Es ist immer wichtiger, das Leben eines Menschen zu schützen, als ein Gesetz buchstabengetreu einzuhalten.»

Anni Lanz

«Das Bundesgericht warf mir vor, dass ich unbekümmert Gesetze übertrete», sagt Lanz. «Das finde ich frech. Und es stimmt nicht. Natürlich nehme ich die Gesetze ernst. Wenn man zusammenlebt, muss man Regeln haben. Und natürlich bemühe ich mich, sie einzuhalten, obwohl ich gewisse Bestimmungen mühsam finde. Aber es ist immer wichtiger, das Leben eines Menschen zu schützen, als ein Gesetz buchstabengetreu einzuhalten.»

So, genau so, hat Anni Lanz immer ihr Engagement und ihre Solidarität begründet, mit Kopf und Herz den «Legalisten» Paroli zu bieten. Bis ihr Herz fast bricht. Im Juni 2022 kann sie plötzlich kaum mehr atmen. Die Notfallärzte diagnostizieren einen Takotsubo, das Syndrom des gebrochenen Herzens. Eine Erkrankung, die durch emotionalen oder physischen Stress ausgelöst wird. Nach einem kurzen Spitalaufenthalt ist sie wieder munter auf den Beinen. «Ich muss jetzt einfach ein Leben lang Medikamente nehmen.»

Anni Lanz bot schon unzähligen Geflüchteten Unterschlupf in ihrer Dreizimmerwohnung in Basel

Für alle da: Anni Lanz bot schon unzähligen Geflüchteten Unterschlupf in ihrer Dreizimmerwohnung in Basel.

Quelle: Christian Schnur

Anni Lanz war immer Minderheit und eckte an. Auch innerhalb der Flüchtlingsbewegung. «Ich bin halt stur», sagt sie. «Das ist Teil meines Naturells, aber auch meine Kraft.» Sie müsse nicht geliebt werden. Die Minderheit zeige der Mehrheit, wo es zu arbeiten gilt, wo es ungelöste Probleme gibt, über die man nicht einfach hinwegsehen dürfe.

Ihr Leitstern sind die Grund- und Menschenrechte. Es brauche den Respekt vor den Menschen. Respekt aber auch vor der anderen Meinung eines Menschen. «Ich muss ja immer auch mit Behörden verhandeln, die nicht meiner Meinung sind. Und ich muss eingestehen können, wenn ich falschliege. Darum ist mir die Auseinandersetzung so wichtig.»

Alle Kriegsflüchtlinge schützen

Der Ukrainekrieg biete der Schweiz die Chance, das Asyl- und Ausländerrecht wieder besser zu regeln. Was man den Ukrainerinnen und Ukrainern gewährt, müsste eigentlich allen Kriegsflüchtlingen offenstehen. Anni Lanz geht noch einen Schritt weiter: «Es braucht für alle Kriegsflüchtlinge einen Status, der völkerrechtlich schützt.» Vorläufig Aufgenommene und Menschen mit Status S können jederzeit wieder abgeschoben werden. «Das ist nicht völkerrechtskonform», sagt Lanz.

Da ist sie wieder, die Kämpferin für Solidarität, Gerechtigkeit und Menschlichkeit. Auf zwei Beinen. Mit Köpfchen. Und einem ungebrochenen Herzen.

Prix Courage Lifetime Award: Die bisherigen Gewinnerinnen und Gewinner
Prix Courage 2022 – Die Nominierten im Porträt
  • Aileen Lakatos
    ... kämpft gegen sexuelle Übergriffe bei Film und Theater.
     
  • Meinrad Furrer
    ... segnete homosexuelle Paare – gegen den Willen der Kirche.
     
  • Natallia Hersche
    ... ging für die Demokratie in Belarus 17 Monate ins Gefängnis.
     
  • Gabriella Hagger
    ... wurde als Satanistin bezeichnet – und ging an die Öffentlichkeit.
     
  • Daniel Juzi
    ... evakuierte 21 Angehörige eines fliegenden Hilfswerks aus Afghanistan.

 

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