«Wozu im Vergangenen leben?»
Ist antiquiert, wer in Erinnerungen schwelgt? Oder kann das Zurückschauen auf die eigene Geschichte Antrieb für die Zukunft sein?
Veröffentlicht am 18. Dezember 2012 - 08:42 Uhr
Rita W.: «Mein Mann liebt es, in Erinnerungen zu schwelgen. Ich finde, man sollte vorwärtsschauen. Was bringt es, sich über Schnee von gestern zu ärgern?»
«Schau vorwärts, Werner, und nicht hinter dich», sagt die Stauffacherin in Schillers «Wilhelm Tell» zu ihrem Mann. Ich kann ihr und Ihnen allerdings nur bedingt zustimmen: Wenn man an der Vergangenheit derart haften bleibt, dass man der damaligen Umwelt oder sich selbst immer wieder dieselben Vorwürfe machen muss, dann ist das zweifellos unfruchtbar. Das liegt aber nicht am Zurückschauen an sich, sondern daran, dass da unerledigte seelische Geschäfte sind, die den Betroffenen nicht loslassen.
Will man sich aber mit jemandem oder einer Sache versöhnen, ist es unumgänglich, sich der Person oder dem Bereich auch zuzuwenden. Das spricht bereits für den Wert einer Rückschau. Rückblick und Vorwärtsschauen schliessen sich nicht gegenseitig aus. Aus einer fruchtbaren Beschäftigung mit der Vergangenheit blitzen meist unerwartet neue Impulse für die Zukunft auf.
Die Schweizer Psychoanalytikerin und Autorin Verena Kast hat ein Buch zur Kraft des Lebensrückblicks geschrieben. Sie hat dabei eher die ältere Generation im Auge, die auf ein längeres Leben zurückblicken kann. Es ist aber genauso sinnvoll, im jungen Erwachsenenalter auf die Kindheit zurückzuschauen oder in der Mitte des Lebens auf die erste Hälfte.
In der Hektik des Alltags fehlt uns dazu meist die Zeit. Wünsche und Pläne in Bezug auf Liebe, Partnerschaft, Beruf und Familie dominieren unser Bewusstsein. Vielleicht wenden sich Menschen im Rentenalter einfach deshalb vermehrt ihrer Vergangenheit zu, weil sie die Zeit dafür haben. Hilfreich ist es für uns alle.
Im Unterschied zu Tieren, die von Moment zu Moment auf Reize reagieren, haben wir Menschen das Bedürfnis, unser Leben als ein zusammenhängendes sinnvolles Ganzes zu sehen. Wenn wir uns erinnern, was wir alles erlebt haben, wie wir auf all die Herausforderungen reagiert haben, erkennen wir, wer wir sind. Im Netz unserer Erinnerungen, schreibt Verena Kast, wird unsere Identität sichtbar.
Fruchtbar wird diese Rückschau aber nur, wenn wir sie in der richtigen Haltung unternehmen. Es braucht einen ruhigen Blick, der wahrnimmt, was war, ohne zu verurteilen und ohne die begleitenden Gefühle zu unterdrücken. Misslungenes und Verlorenes kann nochmals betrauert und damit endgültig losgelassen werden. Die Rückschau hat also durchaus auch einen psychohygienischen Effekt.
Wenn wir genau hinschauen, werden wir mit Sicherheit Zeiten finden, in denen wir Krisen bewältigt haben. Darauf dürfen wir stolz sein. Einiges hat uns Freude gemacht, anderes traurig. Sich dessen zu erinnern, vervollständigt das Bild, das wir von uns selber haben. Man kann einer solchen Rückschau noch mehr Kraft geben, wenn man einem interessierten Menschen Stationen aus seinem Leben erzählt, wenn man den Rückblick schriftlich festhält oder die Lebensphasen grafisch darstellt.
Wie von selbst werden sich aus der intensiven Beschäftigung mit dem Gewesenen Ideen für die Zukunft entwickeln. Das sind – im Unterschied zu den herkömmlichen guten Neujahrsvorsätzen – dann aber Pläne, die in der eigenen Geschichte einen soliden Boden haben.
- Unter welchem Motto stand mein bisheriges Leben?
- Was ist mir in der letzten Lebensphase zum ersten Mal begegnet?
- Was ist endgültig zu Ende gegangen?
- Worauf kann ich besonders stolz sein?
- Was gibt es Beschämendes, Misslungenes oder Bedrückendes, das ich jetzt loslassen will?
- Was alles hat mir Freude bereitet?
Verena Kast: «Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben. Die Kraft des Lebensrückblicks»; Kreuz-Verlag, 2010, 180 Seiten, CHF 29.90