Stalking, Krieg und Emmentaler
Wurde die Schweiz diese Woche gerechter, transparenter, fortschrittlicher? Und wo gings rückwärts? Der Nachrichtenüberblick des Beobachters für die Woche vom 2. Juni 2024.
Veröffentlicht am 7. Juni 2024 - 15:00 Uhr
Liebe Leserinnen und Leser
Willkommen zu «Das war richtig wichtig». Hier ordnen wir immer freitags die wichtigsten Nachrichten der vergangenen Woche für Sie ein. Es sind diesmal mehr als gewohnt, denn gerade tagt das Parlament zur Sommersession. Wir haben Ihnen am Schluss dieses Überblicks eine Handvoll weiterer wichtiger Nachrichten aufgelistet.
Diesmal:
- Krieg in Europa: Die Schweiz zögert, zaudert und feilscht
- Klimaschutz: Warum der Ständerat das Strassburger Urteil nicht umsetzen will
- Stalking: Wie der Nationalrat die Opfer besser schützen will
- Referenzzinssatz: Die Mieten bleiben stabil
Sie können diese Nachrichtenübersicht auch als E-Mail abonnieren. Damit haben Sie «Das war richtig wichtig» immer pünktlich im Postfach.
Melden Sie sich doch gleich an:
Das Zitat der Woche
Früher war sicher nicht alles besser. Aber Tatsache ist: Der Emmentaler war löchriger. Darüber sind sich die beiden Parteien einig, die Anfang Woche vor dem Bundesverwaltungsgericht die Käsemesser kreuzten.
«Die Beschwerdeführerin [argumentiert, dass] gestiegene Hygienestandards bei der Milchgewinnung heute die Lochbildung erschwerten.»
– Öffentliche Parteiverhandlung im Verfahren B-6947/2023
Auf der einen Seite: die Sortenorganisation Emmentaler Switzerland. Sie will Heublumenpulver in den Käse mischen, um die Löcher künstlich zu vergrössern. Es gehe darum, die Tradition der charakteristischen Löcher zu erhalten: «Denn wenn wir nichts tun, werden sie verschwinden.» Auf der anderen Seite: das Bundesamt für Landwirtschaft. Es fürchtet, mit der Zugabe von Zusatzstoffen rücke der Emmentaler zu nahe an den «industrialisierten Grosslochkäse» vom Schlage eines Edamers. Das Gericht hat noch nicht entschieden. Wir halten Sie auf dem Laufenden.
Krieg in Europa: Die Schweiz zögert, zaudert und feilscht
Darum gehts: Am Montag hat der Ständerat den Antrag für einen 15-Milliarden-Spezialfonds seiner sicherheitspolitischen Kommission abgelehnt. 10 Milliarden Franken wären dem zusätzlichen Finanzbedarf für die Aufrüstung der Armee zugutegekommen. Die weiteren 5 der Ukraine – für den Wiederaufbau. Eine deutliche Erhöhung der Armeeausgaben ist zwar schon seit längerem geplant und laut Bundesrat auch nötig, aber auch er war dagegen, dafür die Schuldenbremse auszuhebeln.
Warum das wichtig ist: Zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts – so viel sollten die Nato-Staaten eigentlich jährlich für die Verteidigung ausgeben. Tatsächlich nahm das seit dem Ende des Kalten Kriegs kaum je ein Bündnispartner ernst. Dann überfiel Putin die Ukraine. Und plötzlich wirken die zusammengeschrumpften Armeen angesichts der russischen Aggression hoffnungslos unterdotiert. Doch Aufrüstung kostet enorm viel Geld. Und das führt jetzt zu heftigen Verteilkämpfen – auch in der Schweiz.
Das sagt der Beobachter: Die Schweiz will die Ausgaben für die Armee bis 2030 fast verdoppeln. Gleichzeitig prognostiziert der Bund schon jetzt Milliardendefizite für die kommenden Jahre. Früher oder später wird sich das Parlament entscheiden müssen: Entweder man generiert neue Einnahmen (etwa über Steuern), fährt die Ausgaben massiv zurück (allerdings: wo denn genau?) – oder man macht halt neue Schulden. Letzteres wäre weniger dramatisch, als es manche Politiker darstellen. Das hat sich beim letzten grossen Schock gezeigt.
⇒ Jetzt lesen: «Deswegen sparen wäre töricht»
Über «Das war richtig wichtig»
Was hat die Schweiz diese Woche gerechter, transparenter, fortschrittlicher gemacht? Und wo gings eher rückwärts? Wo weiterlesen, wenn Sie es genauer wissen möchten? Wir liefern Ihnen immer freitagmittags drei bis vier wirklich wichtige Nachrichten – kompakt, verständlich und mit Haltung aufgeschrieben. Auch als E-Mail abonnierbar.
Klimaschutz: Warum der Ständerat das Strassburger Urteil nicht umsetzen will
Darum gehts: Der Ständerat beriet am Mittwoch mehrere Stunden darüber, wie die Schweiz mit dem Klimaurteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) umgehen solle. Anfang April hatte der EGMR die Schweiz verurteilt; sie unternehme zu wenig gegen die Klimaerwärmung und verletze so das Recht auf Privatleben der Klägerinnen. Der Ständerat entschied schliesslich, dass er keine zusätzlichen Massnahmen für den Klimaschutz wolle.
Warum das wichtig ist: In der Debatte des Ständerats ging es nicht nur um den Inhalt des Urteils, sondern auch um die Frage, ob der EGMR sich mit dem Urteil selbst zum Gesetzgeber aufgeschwungen hat – eigentlich eine Aufgabe des Parlaments –, statt nur dafür zu sorgen, dass die Bürgerinnen zu ihrem Recht kommen.
Das sagt der Beobachter: Die Grünen-Präsidentin Lisa Mazzone brachte es jüngst in einem Interview mit dem «Blick» wieder auf den Punkt: Das bisherige Engagement der Schweiz reicht nicht, um die Ziele des Pariser Klimaabkommens zu erreichen. Das EGMR-Urteil zugunsten der Klimaseniorinnen war wegweisend und lenkte international grosse Aufmerksamkeit auf die Schweiz. Entsprechend gut überlegen sollte sich nun der Nationalrat, wie er in der Frage entscheidet, ob keine zusätzlichen Massnahmen erforderlich sind. Wenn er das Begehren ablehnt, würde sich das EGMR-Urteil einfügen in eine Reihe von Entscheiden, die die Schweiz in der Vergangenheit verändert haben.
⇒ Jetzt lesen: Wie Strassburg die Schweiz beeinflusst
Stalking: Wie der Nationalrat die Opfer besser schützen will
Darum gehts: Der Nationalrat hat am Donnerstag einer Vorlage zugestimmt, die einen eigenen Straftatbestand gegen Stalking einführen will. Damit soll künftig mit bis zu drei Jahren Gefängnis oder einer Geldstrafe bestraft werden können, wer eine andere Person beharrlich verfolgt, belästigt oder bedroht und diese in der Gestaltung ihres Lebens einschränkt.
Warum das wichtig ist: Die bisherige Rechtslage ermöglicht es zwar, jemanden wegen Drohung, Nötigung oder Missbrauch einer Fernmeldeanlage anzuzeigen. Doch wenn ein Täter beispielsweise einem Opfer «nur» immer wieder auflauert, können die Strafverfolgungsbehörden heute zu wenig tun, denn der Täter zwingt das Opfer damit nicht.
Das sagt der Beobachter: Es ist richtig und wichtig, dass Stalkingopfer sich endlich angemessen wehren können. Denn auch die zunehmende Bedeutung von sozialen Medien macht es immer schwieriger, Tätern rechtzeitig einen Riegel vorzuschieben. Maya Bally (Mitte, AG) kritisierte im Rat: «Es musste immer zuerst etwas passieren, damit es zum Straftatbestand wurde.» Beat Flach (GLP, AG) ergänzte, Stalking sei oft eine Vorstufe zu Gewaltdelikten. Welche Möglichkeiten Stalkingopfer heute haben, haben wir hier zusammengefasst:
⇒ Jetzt lesen: Verfolgt und belästigt – was tun?
Referenzzinssatz: Die Mieten bleiben stabil
Darum gehts: Das Bundesamt für Wohnungswesen hat diese Woche den neusten Referenzzinssatz bekanntgegeben. Gute Neuigkeiten für Mieterinnen und Mieter: Der Zins bleibt unverändert bei 1,75 Prozent. Eine Mieterhöhung ist damit – zumindest mit dieser Begründung – nicht möglich. Wie der Referenzzinssatz genau funktioniert, wie er Sie betrifft und was gilt, erklärt das Beobachter-Beratungszentrum hier.
Warum das wichtig ist: Nachdem der Referenzzins jahrelang gesunken und tief geblieben war, hat er sich im letzten Jahr schnell und stark erhöht. Das lag vor allem an der Inflation und der damit verbundenen Zinspolitik der Nationalbank. Für Mieterinnen und Mieter war das genauso unangenehm wie für die Mietschlichtungsstellen. Sehr viele Haushalte erhielten eine Mietzinserhöhung, und viele haben diese als überhöht angefochten. Die Schlichtungsstellen wurden deshalb regelrecht überschwemmt – wie der Beobachter hier berichtete.
Das sagt der Beobachter: In Zeiten, wo die Lebenshaltungskosten für viele immer noch steigen, ist es ein Lichtblick, wenn zumindest die Mieten nicht noch mehr zur Belastung werden. Aber auch von Zinserhöhungen abgesehen, bleibt die Wohnungsnot in Städten ein grosses Problem. Woher dieses kommt und was es für Lösungsvorschläge gibt, hat der Beobachter hier diskutiert:
⇒ Jetzt lesen: Uns gehen die Wohnungen aus
Auch sonst war diese Woche viel los. So hat das Parlament unter anderem diese Entscheide gefällt, die uns wichtig erscheinen:
- Eheleute und eingetragene Partner sollen künftig wieder einen Doppelnamen führen können. So will es der Nationalrat. Ausgenommen davon sind Kinder. Als Nächstes geht die Reform der Reform an den Ständerat.
- Das Parlament will keine systematische Verwahrung von Wiederholungstätern bei schweren Verbrechen. Eine Mehrheit im Nationalrat argumentierte, dass ein solcher Automatismus nicht mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar wäre.
- Der Bund soll gemeinsam mit den Kantonen eine Strategie und einen Aktionsplan gegen Rassismus ausarbeiten. Der Bundesrat hat zudem zu prüfen, ob zusätzlich ein Beauftragter für Rassismus- und Antisemitismusbekämpfung eingesetzt werden soll.
- Der Nationalrat will Palästina nicht als eigenständigen Staat anerkennen. Er hat am Dienstag einen entsprechenden Vorstoss aus den Reihen der SP abgelehnt.
Geschrieben haben diesen Überblick diesmal Riana Engeli, Oliver Fuchs, Andri Gigerl und Chantal Hebeisen.
Bis nächste Woche. Wir bleiben für Sie dran.
3 Kommentare
Armeeausgaben: Mehr Pazifismus wagen!
Orthodoxer Pazifismus ist blauäugig. Und ein von blindem Idealismus und dem Rausch moralischer Rechthaberei getriebener Bellizismus ist brandgefährlich. Wie immer, so gilt auch hier: Differenziert zu denken, kann nicht schaden. Wehrhaft sein ist gut. Doch im richtigen Moment muss man auch den Mut haben, mehr Pazifismus zu wagen.
Mit Ausgabenreferendum die Schuldenbremse unterstützen
Wie die Marktwirtschaft vor dem Marktversagen bewahrt werden muss, so muss auch der Staat vor dem Staatsversagen geschützt werden. Dies ist ordnungspolitisch eine zentrale Aufgabe jeder Gesellschaft. Der Staat muss vor den übergriffigen Ansprüchen der Interessengruppen geschützt werden. Diese werden immer mächtiger, je stärker der Staat wächst. Es entsteht eine Asymmetrie zwischen Ausgaben- und Einnahmenverantwortung, bei der starke Anreize bestehen, eigene Projekte durch andere (mit)finanzieren zu lassen.
Viele empirische Untersuchungen insbesondere auf Ebene der Schweizer Kantone zeigen, dass die Übernutzung des Staats durch die Interessengruppen mit einem Ausgabenreferendum effektiv unterbunden werden kann. Das Volk als Vetospieler übt eine disziplinierende Funktion auf den Ausgabenappetit der politischen Elite aus. Das Ergebnis: geringere Staatsausgaben, geringere Staatsverschuldung.
Ein Ausgabenreferendum würde es auch gestatten, eine redliche Debatte über Kosten und Nutzen der Subventionen zu führen und auch deren periodische Überprüfung durch den Souverän zu erlauben. (Auszug aus Ch. Schaltegger: „Es braucht ein Finanzreferendum auf Bundesebene“ in Finanz und Wirtschaft vom 2.8.2024)
Es gibt auch immer wieder politische Anläufe, die bestehende Schuldenbremse unter verschiedenen Titeln zu umgehen oder gar ausser Kraft zu setzen. Mit einem Ausgabenreferendum könnte die Schuldenbremse durch das Volk unterstützt werden.
Friedensgespräche statt Kriegs-Eskalation
Die implizite tollkühne Logik des Westens war die seit Jahren, Jahrzehnten übliche: «Bislang hat Putin unser schrittweises Überschreiten sämtlicher russischen roten Linien stets stillschweigend hingenommen. Ergo können wir fröhlich weitereskalieren. Ist ja bis jetzt noch immer alles gut gegangen!» – Stimmt nicht: Es ist schon einmal, eben mit der Invasion russischer Truppen in die Ukraine vom 24. Februar 2022, dramatisch schiefgegangen! In der Vorkriegszeit hatte der Westen das gleiche Katz-und-Maus-Spiel mit den russischen Sicherheitsinteressen gespielt – bis es zu spät war.