Alte am Steuer – wer hat die Kontrolle?
Ab 70 müssen Autofahrerinnen und Autofahrer alle zwei Jahre zum Fahrtauglichkeitstest. Ist das angemessen? Experten haben Zweifel.
Veröffentlicht am 19. März 2013 - 08:54 Uhr
René Schaffhauser bezweifelt, dass es heute noch sinnvoll ist, Senioren ab 70 zur Kontrolluntersuchung zu schicken. Der Verkehrsjurist von der Uni St. Gallen argumentiert, 70-Jährige seien im Vergleich zu früher wesentlich gesünder. «Darauf sollte sich der Gesetzgeber einstellen, wie auch auf die Tatsache, dass die rasante demographische Entwicklung neue Formen der Begutachtung erforderlich macht.» So solle zunächst untersucht werden, ab welchem Alter Abbauerscheinungen, die die Fahreignung beeinträchtigen können, gehäuft auftreten.
Dem widerspricht Rolf Seeger vom Institut für Rechtsmedizin in Zürich. «Zahlen belegen, dass ab 75 die Gefahr von Demenz stark zunimmt. Unter 70 sind ein bis zwei Prozent betroffen, ab 75 drei Prozent und mit 80 schon sechs Prozent, bei 90-Jährigen aber 35 Prozent.» Folglich müsste der Testintervall im hohen Alter intensiviert werden. Seeger erläutert, was Demenz bedeuten kann: «Jemand glaubt, er habe Grün, obwohl das Signal die andere Spur betrifft.»
Schon kurz nach der bestandenen Fahrtauglichkeitskontrolle können ältere Menschen körperlich oder geistig stark abbauen. Meist fahren dann die Betroffenen weniger Auto, worauf Automatismen immer schlechter funktionieren. Eine schwedische Studie belegt, dass die Unfallgefahr bei älteren Menschen stark steigt, wenn sie weniger als 3000 Kilometer pro Jahr fahren. Die Frage ist nur, ob sie so wenig fahren, weil sie unsicher sind, oder umgekehrt.
Uwe Ewert, Forscher bei der Beratungsstelle für Unfallverhütung (BfU), hat sich intensiv mit alten Menschen am Steuer befasst. «Die meisten passen ihre Fahrweise ihren nachlassenden Fähigkeiten an.» Augenlicht, Gehör und Reaktionsvermögen nehmen ab – unabhängig vom sonstigen Gesundheitszustand. Die Bfu empfiehlt älteren Fahrern, eher am Tag, nicht in Stosszeiten und mit Automatikgetriebe zu fahren.
Aus Sicht der Rechtsmedizin ist das Unfallrisiko bei Älteren aber ähnlich hoch wie bei jungen Leuten. Die Statistik zeige, so Rolf Seeger, dass relativ wenige Autofahrer ab 65 in Unfälle verwickelt seien. «Doch sie fahren auch weniger Auto. Und wenn man das auf die gefahrenen Kilometer umrechnet, sind sie eine so grosse Risikogruppe wie die jungen Fahrer.» Dennoch könnte auch er sich vorstellen, bis 75 mit der Kontrolle grosszügiger zu sein, wenn sein altes Anliegen verwirklicht würde: eine periodische Augenkontrolle ab 50. Das allerdings wurde im Rahmen der Via-sicura-Debatte im Nationalrat beerdigt.
Eine Schwäche des Systems sehen Schaffhauser wie auch Seeger in seiner Uneinheitlichkeit. Hausärzte bewerten die Fahrtauglichkeit selbst innerhalb eines Kantons unterschiedlich. Dabei sehen sie auch nicht, wie sich ein Patient im Verkehr verhält, obwohl das Gesetz nicht nur Fahreignung – die von Ärzten getestet wird –, sondern auch Fahrkompetenz vorschreibt. Kritiker bemängeln ausserdem, dass der Hausarzt befangen sei. Die Befürworter argumentieren, niemand kenne einen Patienten besser als der Hausarzt.
Die Fahrkompetenz wird nur überprüft, wenn ältere Menschen beim Hausarzt einen zwiespältigen Eindruck hinterlassen und er dies dem Strassenverkehrsamt meldet. Dieses ordnet dann eine zweite Untersuchung durch einen Facharzt an und, wenn weiter Zweifel bestehen, eine Kontrollfahrt. Von den jährlich 40'000 getesteten Senioren im Kanton Zürich werden rund 1000 zu einer vertieften Untersuchung an das Institut für Rechtsmedizin überwiesen. Bei 150 bis 200 wird eine Kontrollfahrt nötig. Dann sitzt Rolf Seeger gemeinsam mit einem Experten im Auto. «Ich habe schon erlebt, dass es so gefährlich wurde, dass der Experte das Steuer übernehmen musste.»
Im Aargau dürfen nur noch sogenannte Amtsärzte über die Fahrtauglichkeit entscheiden. Hausärzte können mit einer eintägigen Weiterbildung die Anerkennung als Amtsarzt erlangen. Amtsärztin Margot Enz aus Baden erklärt den Vorzug dieses Systems: «Es ist wichtig, dass eine Fachperson mit einer gewissen Routine die Fahrfähigkeit der Patienten vergleichen kann.»
Der Bund hat das Problem der uneinheitlichen Beurteilungen erkannt. Zwar dürfen weiterhin Haus- und Amtsärzte die Fahrtauglichkeit kontrollieren, und auch das Abrücken vom Zweijahresrhythmus ist kein Thema, aber im Rahmen von Via sicura soll der Test, den Fahrerinnen und Fahrer ab 70 bestehen müssen, ab 2014 einheitlich sein. Letztlich kann aber auch das nicht verhindern, dass die Fahrkompetenz einer Person plötzlich abnimmt und sie trotzdem weiterfährt.
Zahlen über die freiwillige Rückgabe von Fahrausweisen gibt es nicht. Sven Britschgi, Geschäftsführer der Vereinigung der Strassenverkehrsämter, bestätigt aber, dass viele ältere Fahrer kurz vor der Zweijahreskontrolle den Führerschein abgeben. Andere sind uneinsichtig, gehen einfach nicht mehr zur Kontrolle und reagieren nicht auf Mahnungen. Wenn sich Angehörige, Nachbarn oder Freunde Sorgen über die Fahrkompetenz von jemandem machen, raten die Strassenverkehrsämter zum Gespräch oder zur Meldung bei der Polizei. Eine erster Schritt ausserhalb der staatlichen Kontrolle könnte eine freiwillige Stunde im Auto mit einem Fahrberater sein.
Der 84-jährige Norbert Huonder hat eine solche Fahrt gemacht. Der pensionierte Beamte erinnert sich: «Der Fahrberater gab mir den Rat, nur noch in der Umgebung und nicht auf der Autobahn zu fahren. Ich aber merkte, dass ich seinen Anweisungen nur mit Verzögerung folgte. Es wäre ein Alptraum, wenn durch meine Schuld ein Kind verletzt oder getötet würde.» Huonder verzichtete freiwillig aufs Autofahren. «Jetzt geniesse ich seit bald zwei Jahren meine neue Mobilität im ÖV.»