«Das neue Rasergesetz ist unnötige Kosmetik»
Kaum einer hat in der Schweiz so viele Raser vor Gericht gebracht wie der ehemalige Staatsanwalt Jürg Boll. Er hofft, dass sie nun nicht mit bedingten Geldstrafen davonkommen.
Veröffentlicht am 25. September 2023 - 10:31 Uhr
Jürg Boll, Sie haben ab 2005 den neu gegründeten Fachbereich Verkehr der Zürcher Staatsanwaltschaft geleitet. Sie gelten als «Mister Raserdelikt». Wie kommts?
Mister Raserdelikt? Das würde ja suggerieren, dass ich nur Raser verfolgt hätte. Dem ist natürlich nicht so. Zum überwiegenden Teil habe ich mich mit ganz anderen Verkehrsdelikten befasst – mit Fahren in fahrunfähigem Zustand
zum Beispiel. Weil ich naturwissenschaftlich interessiert bin, hat es mir das Strassenverkehrsrecht aber schon immer angetan.
Was hat Naturwissenschaft mit dem Strassenverkehr zu tun?
Jede Anklage steht und fällt mit den Beweisen: Der Ablauf eines Unfalls kann aufgrund der Pneuabriebspuren rekonstruiert werden, bei neuen Fahrzeugen können aufgezeichnete Daten – zum Beispiel die Geschwindigkeit unmittelbar vor der Kollision – ausgelesen werden. Wenn ein Fahrzeug von der Fahrbahn abgehoben hat, lässt sich die Geschwindigkeit aufgrund von Abflugwinkel und «Landeort» berechnen. Alles Physik!
«Mir blieben vor allem Fälle in Erinnerung, wo nur dank riesigem Glück nichts passiert ist.»
Jürg Boll, «Mister Raserdelikt» und ehemaliger Staatsanwalt
Gibt es Fälle, die Ihnen besonders in Erinnerung geblieben sind?
Vor allem diejenigen, wo nur dank riesigem Glück nichts passiert ist. Da war der Raser, der vor der Polizei flüchtete und trotz Gegenverkehr einen Lastwagen überholte. Der entgegenkommende Fahrer wich scharf rechts auf eine Grasnarbe aus. Beim Kreuzen befanden sich die drei Fahrzeuge nebeneinander – mit einem seitlichen Abstand von jeweils zehn Zentimetern. Oder ich erinnere mich an den Fahrer, der von Uster in Richtung Brüttiseller Kreuz bis auf 287 Kilometer pro Stunde beschleunigte und den Zürcher Geschwindigkeitsrekord aufgestellt hat. Dumm nur, dass er sich dabei filmte und das Ganze in einen Chat stellte, von dem die Polizei erfuhr.
Das Parlament hat entschieden, dass Raser ab dem 1. Oktober milder bestraft werden können. Setzt die Politik damit ein falsches Zeichen?
Für mich ist es viel eher unnötige Kosmetik. Es war nämlich schon immer so, dass die Richterinnen und Richter die Mindestfreiheitsstrafe unterschreiten konnten – dann nämlich, wenn jemand aus «achtenswerten Beweggründen» handelte oder sich in einem Notstand befand. Wichtig ist, dass der neue Strafmilderungsgrund der fehlenden Vorstrafen im Verkehr nicht dazu führt, dass viele Raser nur noch eine bedingte Geldstrafe erhalten. Das wurde seitens der Politik auch immer zugesichert. Ich erwarte also, dass die Gerichte nur ganz ausnahmsweise die Mindestfreiheitsstrafe unterschreiten werden.