«Ein Prellbock für Ärger»
Sanel Mehanovic, 34, ist Chef im Nachtzug. Auch wenn nicht immer alles harmonisch verläuft, freut er sich auf neue Abenteuer.
Veröffentlicht am 30. März 2023 - 14:00 Uhr
Eine Fahrt im Nachtzug ist für mich eines der letzten Abenteuer. Ich bin dann im Einsatz, wenn andere schlafen. Und am Morgen kommen wir in einer anderen Stadt an. Wenn wir auf der Brücke über das offene Meer nach Venedig fahren, schaue ich immer aus dem Fenster. Die Stadt fasziniert mich jedes Mal aufs Neue.
Keine Tour ist wie die andere: Neue Fahrgäste, technische Mängel am Zug, Verspätungen oder Unwetter – darauf kann man sich nicht vorbereiten. Auch die Teamzusammensetzung wechselt häufig. Zur Crew gehört der Housekeeper, der für die Reinigung des Zugs zuständig und im Service tätig ist. Er hat eine gesetzlich vorgeschriebene Ruhezeit und darf nur in Notfällen geweckt werden.
Der Nachtsteward ist während der ganzen Fahrt im Einsatz. Er schläft am Wendebahnhof im Hotel. Das gilt auch für mich als Zugchef. Zu Beginn war ich tagsüber oft auf Erkundungstour. Mittlerweile kenne ich Hamburg, Berlin, Rom, Florenz, Amsterdam und Zürich aber ziemlich gut. So nutze ich die freie Zeit für die Erholung im Hotelzimmer. Am Abend ruft dann wieder die Arbeit, und es geht mit dem Zug zurück nach Wien.
Gespräche mit Stammgästen
Zu den Nachtzügen bin ich durch Zufall gekommen. Zwei Bekannte waren bereits im Nightjet tätig. An die Nachtarbeit hatte ich mich schon bei meinem früheren Job als Maschinentechniker gewöhnt. Wir haben unterschiedliche Dienste. Wenn ich zum Beispiel drei Nächte am Stück unterwegs bin, habe ich nach der Ankunft am Morgen die beiden Folgetage frei. Dann kann ich wieder in den normalen Tag-Nacht-Rhythmus wechseln. Angestellt bin ich bei der Firma Newrest Wagons-Lits, einem weltweit tätigen Konzern. In Österreich betreuen wir im Auftrag der ÖBB den Nightjet, der unter anderem von Zürich nach Berlin, Hamburg und Amsterdam fährt.
Als Zugchef erledige ich nebst der Ticketkontrolle viele Aufgaben im Hintergrund. Dazu gehört das Ausrechnen der Bremskraft des Zugs, damit der Zug innerhalb des vorgeschriebenen Bremswegs zum Stillstand kommt. Die Bremskraft kann sich je nach Ausstattung der einzelnen Zugwagen oder je nach Typ der Lokomotive verändern. Das Resultat vermerke ich dann auf dem sogenannten Bremszettel. Ich bin auch für die Koordination mit den verschiedenen Staatsbahnen zuständig und gebe die Zugpapiere und -daten an die Zollbehörden des jeweiligen Landes weiter.
«Zwei 98-Jährige, die jeweils von Wien nach Mailand reisten, haben mich sehr berührt.»
Sanel Mehanovic, Chef im Nachtzug
Trotz den vielen Aufgaben bleibt aber immer etwas Zeit für ein Gespräch mit den Fahrgästen, die von überallher kommen. Ein Ehepaar ist mir besonders in Erinnerung geblieben: Beide waren 98 Jahre alt und seit 68 Jahren verheiratet. Sie fuhren regelmässig mit dem Nachtzug von Wien nach Mailand, um dort ihr Kind zu besuchen. Die zwei haben die Weltgeschichte hautnah miterlebt. Sie berichteten mir vom schwierigen Alltag in den Nachkriegsjahren. Ich musste als Kind wegen des Kriegs meine Heimat Bosnien und Herzegowina verlassen und kam zusammen mit meiner Familie als Flüchtling nach Wien. Deshalb hat es mich sehr berührt, ihren Erzählungen zu lauschen. Oftmals sehe ich die Fahrgäste nur einmal im Leben. Aber auf der Verbindung von Wien nach Bregenz haben wir etwa 80 Prozent Stammreisende, die mehrmals jährlich auf der Strecke unterwegs sind. Da lernt man sich dann doch etwas kennen.
Ruhestörer bitte in die zweite Klasse!
Natürlich läuft es nicht immer harmonisch. Wenn sich jemand aufregt, versuche ich immer, ruhig zu bleiben. Ein Hauptgrund für Reklamationen sind Verspätungen. Wir haben zwar keinen Einfluss darauf, aber sind nun mal der erste Prellbock für den Ärger – sobald die Nacht anbricht, ist er meist verflogen. Schlaflose gibt es selten. Die Bewegungen des Zugs schaukeln einen sanft in den Schlaf. Zudem herrscht strikte Nachtruhe von 21 bis 8 Uhr. Da kennen wir kein Pardon. Wenn sich Schlafwagengäste auf dem Gang unterhalten oder in ihrem Abteil laut Musik hören, bitten wir sie, sich in die zweite Klasse zu begeben. Dort können sie die ganze Nacht miteinander reden.
Auch wenn wir am Morgen die Passagiere in manchen Zügen über den Lautsprecher wecken könnten, übernehmen wir das lieber persönlich. Ich klopfe behutsam an die Türen der Abteile, öffne sie und wünsche den Gästen als Erstes einen guten Morgen. Dann informiere ich sie, dass das Frühstück bald bereitsteht. Die Aussicht auf frischen Kaffee wirkt in den meisten Fällen wie ein natürlicher Wachmacher.
Aufgezeichnet von Markus Fässler
Abends einsteigen und über Nacht in eine europäische Grossstadt rollen: Die Städte Amsterdam, Berlin, Hamburg, Bremen, Wien, Graz, Budapest, Ljubljana, Zagreb und neuerdings auch Prag via Deutschland können aus der Schweiz bequem und klimafreundlich mit dem Nachtzug erreicht werden. Wobei «bequem» bei der neuesten Verbindung Zürich-Prag in den letzten zwei Monaten nur dann zutraf, wenn man einen Platz im Schlafwagen gebucht hatte. Die von der SBB angemieteten älteren Liegewagen fielen aus und Kunden mussten mit einem normalen Sitzwagen vorliebnehmen.
Im März sollten die Probleme gemäss SBB behoben sein. Verläuft alles wie geplant, sind ab 2025 auf einigen Nachtzugstrecken aus der Schweiz die neuen komfortablen ÖBB-Nachtzüge unterwegs. Vielleicht sogar nach Barcelona und Rom. Die Inbetriebnahme dieser Strecken verspätet sich, weil das CO2-Gesetz, das auch eine Finanzierung von Nachtzügen vorgesehen hätte, gescheitert ist. www.sbb.ch/nachtzug