«Ein kreativer Akt par excellence»
Neue Ideen entstehen durch Zufall, durch eine spielerische Kommunikation zwischen Nervenzellen, sagt der Neurophysiologe Josef Bischofberger von der Uni Basel.
Veröffentlicht am 27. Oktober 2020 - 17:33 Uhr
Beobachter: Herr Bischofberger, Sie sagen, wir seien deshalb kreativ, weil unser Gehirn mit einer Zufallskomponente arbeitet. Das überrascht!
Josef Bischofberger: Für Hirnforscher ist das nicht so überraschend. Unser Gehirn besteht aus Nervenzellen, die miteinander kommunizieren. Diese Mikrostruktur ist plastisch und verändert sich immer dann, wenn wir etwas Neues dazulernen. Für diese Plastizität des Gehirns sind die Synapsen, die Kontaktstellen zwischen den Nervenzellen, besonders wichtig.
Das sind die kleinen Dornfortsätze, die an den Ästen der Nervenzellen sitzen.
Ja genau. Wenn Sinnesreize auf das Gehirn treffen, beginnen die Synapsen zu arbeiten und konstruieren ein neues Element im Gedächtnis. Dabei verändern sie sich. Manche Synapsen werden stärker, andere schwächer, einige neue kommen dazu, andere werden abgebaut. Nun ist es aber so, dass die Weiterleitung von Informationen an einzelnen Synapsen nie zu 100 Prozent verlässlich funktioniert. Die Zellen sprechen nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit miteinander. Sie betreiben eine relativ spielerische Kommunikation.
Wieso spielerisch?
Weil sie an ein Würfelspiel erinnert. Die Freisetzung des Botenstoffs, der einer Information über den synaptischen Spalt zwischen zwei Nervenzellen hilft, wird durch einzelne Moleküle gesteuert. Die werden durch Nervenimpulse angestossen, können sich ähnlich wie ein Würfel drehen und auf der einen oder anderen Seite zu liegen kommen. Im einen Zustand wird Botenstoff freigesetzt, im anderen nicht. Bei grossen Synapsen geschieht die Freisetzung mit grösserer Wahrscheinlichkeit, bei kleinen mit einer entsprechend kleineren.
Aber dennoch mit einer gewissen Zufälligkeit. Weshalb?
Die neuronale Informationsvermittlung im Gehirn braucht Flexibilität. Ich denke, sie ist eine tragende Säule für effektive Lernprozesse und Grundvoraussetzung für jede Form von Kreativität. In unserem Kopf gibt es kein Männchen, das die Synapsen programmiert. Die Nervenzellnetzwerke haben nur eine einzige Chance, etwas zu lernen: zufällig ausprobieren, Fehler machen, besser werden. Diese spielerische Trial-and-Error-Strategie bewerkstelligen unsere neuronalen Netzwerke im Stillen.
Jedes Mal, wenn wir etwas lernen?
Im Prinzip ja. Nehmen wir das Velofahren. Woher wissen die 1000 Billionen Synapsen in unserem Hirn, wie sie die rund 700 Muskeln in unserem Körper so koordinieren müssen, dass wir in die Pedale treten und gleichzeitig das Gleichgewicht kontrollieren können? Die neuronalen Netzwerke müssen ausprobieren, was funktioniert und was nicht. Die Zufallskomponente in den Synapsen stellt zu Beginn eine zufällige Aktivität zur Verfügung, um den Lernprozess zu starten. Je nach Aktivität verändern sich die Synapsen daraufhin. Nervenzellen, die während einer bestimmten Aktivität gleichzeitig aktiv sind, verstärken die Synapsen zwischen ihnen. Je öfter ich Velo fahre, desto grösser werden die Zellensembles, die koordiniert aktiv sind. Dabei zeigt sich: Grosse Zellensembles bieten Stabilität, kleine Zellensembles Flexibilität und Kreativität.
Heisst das: Je zufälliger die Synapsen arbeiten, umso kreativer sind wir?
Nein, das wäre zu einfach. Zwar leiten kleine Zellensembles die Information flexibel weiter, aber das tun sie nicht beliebig chaotisch, wir können nicht plötzlich etwas völlig Neues, etwas völlig anderes denken.
Wieso nicht?
Die Kreativität ist geformt durch die Lebensgeschichte, die ein Mensch hat. Je nachdem, wie alt er ist, hat er bereits Tausende von Erlebnissen gehabt, hat sich in der Familie, am Arbeitsplatz und im Freundeskreis mit anderen ausgetauscht. Aus alldem lernt er. All dies hat Billionen von Synapsen angepasst. Ihr Botenstoff wird deshalb nicht beliebig zufällig ausgeschüttet, sondern mehr oder weniger wahrscheinlich. Wir konstruieren unser eigenes kleines Wissensuniversum. Und das macht bestimmte Denkmuster vorstellbarer als andere.
Deshalb können wir nicht auf Befehl kreativ sein.
Genau. Wiederholte Erfahrungen erzeugen grosse Zellensembles und lassen ein Repertoire an typischen Denk- und Handlungsmustern entstehen. Wir wissen, was schon oft funktioniert hat und was nicht. Aber diese Verlässlichkeit heisst eben auch, dass wir weniger kreativ sind. Allerdings hinterlassen auch viele kleine Erlebnisse Spuren in unserem Gehirn, und die ermöglichen uns Kreativität. Wenn wir sie nutzen wollen, müssen wir ausserhalb des Mainstream-Denkens nach Lösungen suchen – und akzeptieren, dass wir dabei Fehler machen können.
Weil wir die kleinen Zellensembles aktiviert haben, die weniger zuverlässig sind?
Richtig, und die können widersprüchliche oder unnütze Resultate liefern.
«Man darf keine Angst vor Fehlern haben, das blockiert die Kreativität.»
Josef Bischofberger, Neurophysiologe
Wie wichtig ist es für unser Gehirn, dass wir Fehler machen dürfen?
Sehr wichtig, würde ich sagen. Wenn wir ausgetretene Pfade verlassen wollen, gibt es nur einen Weg: Trial and Error, Versuch und Irrtum. Dabei kann auch Unsinn rauskommen. Aber davor darf man keine Angst haben, das blockiert die Kreativität.
Wie können wir sie fördern?
Ungewohnte Dinge tun, das wird oft empfohlen. Etwa rückwärts durch die Wohnung gehen und dabei die Zähne putzen. Davon halte ich nicht viel. Ich vermute, wir üben beim Rückwärtsgehen lediglich das Rückwärtsgehen. Es gibt keinen Ratschlag, der für alle gilt. Vorsichtigen Menschen kann helfen, die Vernunft erst mal beiseitezulassen, zu schauen, welche Ideen sich melden, und diese erst später auf ihre Machbarkeit zu prüfen. Andere hingegen, die dauernd Einfälle haben, aber kaum einen realisieren können, schreiben am besten auf, was ihnen durch den Kopf geht. Nach ein oder zwei Tagen bewerten sie ihre Notizen und überlegen, welche Idee Wirklichkeit werden könnte. Wenn in einer Firma neue Lösungen für ein Problem gefordert sind, könnte man zwei Gruppen daran arbeiten lassen. Die einen entwickeln Ideen, die anderen schauen, welche sich realisieren lassen.
Die besten Ideen habe ich oft, wenn mir langweilig ist.
Weil Ihr Gehirn dann nicht mit etwas Grossem beschäftigt ist. Konzentriert arbeiten bedeutet, grosse Zellensembles zu koordinieren. In einem solchen Zustand ist es unwahrscheinlich, dass kleine Nervenzellgruppen zu Wort kommen. Weil eine grosse erregende Aktivität im Gehirn immer einhergeht mit einer grossen Hemmung. Wäre dies nicht so, hätten wir einen epileptischen Anfall. Wenn wir uns aber entspannen, bekommen auch die kleinen Ensembles die Chance, sich gegenseitig hochzuschaukeln, in den präfrontalen Cortex zu gelangen und damit in die bewusste Wahrnehmung. Dem Gehirn regelmässig freien Lauf lassen fördert kreative Prozesse.
Und beschert uns vielleicht sogar einen Geistesblitz. Was passiert dabei im Gehirn?
Ein kreativer Akt par excellence. Die spielerische Kommunikation in den Synapsen hat in diesem Augenblick einen weiteren Weg gefunden, Gedanken neu zu verbinden.
Wie würden wir agieren, wenn es im Gehirn keine Zufallskomponente gäbe?
Wenn wir annehmen, wir könnten in unserer Jugend auch lernen, ohne auszuprobieren und Fehler zu machen, entstünden stereotype Verhaltensmuster, ähnlich wie bei Zwangsstörungen. Und wir würden uns wahrscheinlich ziemlich unfrei fühlen, weil wir uns stets auf die gleiche Art und Weise verhalten müssten – völlig berechenbar und ohne jegliche Handlungsfreiheit.
- Buchtipp: Für ihr Buch «Brainstorming. 300 Fragen ans Gehirn» führte Barbara Schmutz Gespräche mit 17 Hirnforschern und -forscherinnen.
So wird im Gehirn kommuniziert
Das menschliche Gehirn zählt rund 100 Milliarden Nervenzellen, die jeweils mit mehr als 10'000 anderen Zellen kommunizieren. Das ergibt insgesamt rund 1000 Billionen Synapsen. Wäre eine Synapse im Kopf so wie ein fünf Millimeter dickes Smartphone, und würde man alle Synapsen aufeinanderstapeln, reichte der Turm, der entstünde, nicht nur bis zur Sonne, seine Höhe entspräche dem Radius des ganzen Sonnensystems.
Josef Bischofberger, 55, ist Professor für Neurophysiologie an der Universität Basel. Er erforscht, welche Prozesse lebenslanges Lernen ermöglichen.