«Wir haben den grössten Kühlschrank der Welt»
Günther Dissertori untersucht am Cern, dem europäischen Zentrum für Teilchenphysik in Genf, was die Welt im Innersten zusammenhält. Dazu braucht es Technologie der Superlative.
Aufgezeichnet von Gian Signorell:
Seit über 25 Jahren forsche ich am Cern. Aber noch immer bekomme ich Gänsehaut, wenn ich vor unseren grossen Experimenten stehe. Mit dem Large Hadron Collider (LHC) untersuchen wir die kleinsten Bausteine der Materie. Man kann sich den LHC vorstellen als ein gigantisches Mikroskop. Der Beschleuniger befindet sich in einem unterirdischen, 27 Kilometer langen, kreisförmigen Tunnel. In den Strahlröhren werden Teilchen – Protonen – fast auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt. Um sie auf der Kreisbahn zu halten, benötigen wir extrem starke Magnete, deren Kabel auf ungefähr minus 270 Grad abgekühlt werden müssen. So gesehen betreiben wir vermutlich den grössten Kühlschrank der Welt.
An vier Stellen im Ring kreuzen sich die Strahlröhren. Dort werden die Protonen zur Kollision gebracht. Nach der berühmten Formel von Einstein können dabei neue Teilchen entstehen. Um die Resultate der Kollisionen exakt zu untersuchen, verwenden wir riesige Detektoren, die man sich als gigantische und extrem schnelle digitale Kameras vorstellen muss. Die Detektoren sind gross wie Mehrfamilienhäuser und teils schwerer als der Eiffelturm.
Mit unseren Experimenten haben wir 2012 das Higgs-Teilchen entdeckt und sehr viele hochpräzise Messungen durchgeführt. Anhand der daraus gewonnenen Erkenntnisse können wir unter anderem besser verstehen, wie sich unser Universum wenige Augenblicke nach dem Urknall verhalten hat, also welche Teilchen und Kräfte es zirka einen Zehntel einer Milliardstelsekunde nach dem Big Bang gab.
Die Inhalte meines Forschungsgebiets sind der Vorstellungskraft kaum zugänglich. Die Grössenordnungen, die wir in der Teilchenphysik untersuchen, und die faszinierenden Einsichten, die wir dabei erlangen, haben in der Alltagserfahrung schlicht keine Entsprechung. So wissen wir etwa, dass wenige Minuten nach dem Urknall die leichtesten Atomkerne entstanden, aus denen wir aufgebaut sind. Der Urknall wiederum fand vor knapp 14 Milliarden Jahren statt. So gesehen bestehen wir aus beinahe 14 Milliarden Jahre altem Material – und der Satz «Von Staub bist du genommen, zu Staub kehrst du zurück» erhält eine naturwissenschaftliche Dimension.
Auch der Spruch «Wir sind aus Sternenstaub gemacht» hat ein wissenschaftliches Fundament, wenn man etwa schwere Atomkerne wie Eisen als diesen Staub betrachtet. So schwere Atomkerne sind nicht in den allerersten Phasen des Universums entstanden. Sie wurden erst im Inneren von Sternen über Kernfusion
oder bei Supernovae erzeugt. Supernovae sind Sterne, die am Ende ihres Lebenszyklus explodieren.
«Religion und Wissenschaft sind zwei verschiedene Methoden, die Welt zu erklären.»
Günther Dissertori, 50, Physiker
Beeindruckend ist auch, dass sich in unserem kleinen Finger mehr Atome befinden als Sterne im gesamten Universum; eine Zahl mit 23 oder mehr Nullen. Der Durchmesser eines Atoms beträgt einen Zehntel eines Milliardstelmeters. Im Zentrum sitzt der Kern, in dem praktisch die gesamte Masse konzentriert ist, obwohl er rund zehn bis hunderttausendmal kleiner ist als der Atomdurchmesser. Mehr als 99,9 Prozent des Volumens eines Atoms sind leerer Raum. Weil alle Materie aus Atomen aufgebaut ist, bedeutet das letztlich, dass alles um uns herum – und auch wir selbst – zum grössten Teil aus leerem Raum besteht.
Diese Einsichten lösen bei mir vor allem eines aus: Staunen über die der Natur zugrundeliegenden Gesetze und über die technisch-naturwissenschaftlichen Leistungen, zu denen der Mensch fähig ist.
Oft werde ich gefragt, ob ich als Wissenschaftler religiös sein kann. Darauf antworte ich, dass sich Religion und Wissenschaft nicht ausschliessen – aber es bedarf einer sauberen Trennung. Es sind zwei verschiedene Methoden, die Welt zu erklären. Ich selbst begreife mich als einen Teil des Universums, das durch uns Menschen begonnen hat, sich selbst zu erkennen.