Die biologische Revolution
Wie verbreitet man in Kenia die Prinzipien der biologischen Landwirtschaft? Zum Beispiel mit einer Radiosendung, die praktische Probleme der Biobauern thematisiert – und ein richtiger Gassenfeger ist.
Veröffentlicht am 14. November 2018 - 12:04 Uhr,
aktualisiert am 13. November 2018 - 10:36 Uhr
Wahrscheinlich gibt es wenige Menschen, deren Name so irreführende Assoziationen weckt wie derjenige von Macdonald. Der ebenso hochgewachsene wie quirlige junge Mann arbeitet beim Radiosender Mbaitu FM und hat nun wirklich nichts mit Fastfood oder ungesundem Essen am Hut. Im Gegenteil: Er ist verantwortlich für eine Sendung über biologische Landwirtschaft. Damit erreicht er ein Millionenpublikum – und verhindert so manches Bauchweh.
Doch dazu später. Heute fährt Macdonald Mathew, 29, aufs Land, um eine Gruppe von Hörerinnen zu besuchen. Das Auto kurvt eine staubige Piste hoch, deren Löcher grösser werden, je weiter sie sich vom Städtchen Machakos entfernt. Und hält, just in dem Moment, wo es nicht mehr weitergeht, neben einer kleinen Wiese, auf der sich rund 20 Bäuerinnen versammelt haben.
Nach einer Begrüssung, die aus Tanz, Gesang, vielen Umarmungen und noch mehr Gelächter besteht, setzen sich die Frauen um ein Tischchen, auf dem ein Laptop und zwei Boxen aufgebaut sind. Jemand stellt Mbaitu FM ein und sucht die Sendung «The Organic Farmer», die letzten Freitag gesendet wurde. Aus den Lautsprechern scheppert Macdonalds Stimme. Natürlich könnten die Frauen die Sendung auch zu Hause hören. Radios sind hier ebenso verbreitet wie Handys. Aber das wäre nicht dasselbe. Wenn sie zusammenkommen, wird aus einzelnen Hörerinnen eine Studiengruppe.
Kaum ist das Radio verstummt, stöpselt Macdonald sein Mikrofon ins Aufnahmegerät. Er bittet um Ruhe, drückt die Aufnahmetaste und moderiert die nächste Sendung an. Diesmal geht es um die Frage, wie man Verluste nach der Ernte vermeidet. Ein wichtiges Thema, denn in Kenia verderben rund 40 Prozent der landwirtschaftlichen Produkte auf dem langen Weg zwischen dem Bauern und dem Konsumenten. Macdonald spricht in schnellem Kamba-Dialekt. Dabei akzentuiert er seine Worte mit rhythmischen Handbewegungen, als könnte er das Gesagte so schneller durch den Äther treiben. Die Frauen hören aufmerksam zu. Manche tragen Winterjacken. Es herrschen 22 Grad in den Bergen von Machakos, und die Klagen über die garstigen Temperaturen nehmen kein Ende.
Macdonald weiss, wovon er spricht. Er ist nicht nur Reporter in Nairobi, sondern hat mit seinem Bruder kürzlich ein Stück Land gekauft, um Biohühner zu züchten. Nichts Ungewöhnliches in einem Land, in dem 80 Prozent der Menschen von der Landwirtschaft leben. Er hält einer Bäuerin das Mikrofon hin. Sie will wissen, warum die Früchte, die sie mit dem Esel auf den Markt bringt, so schnell verderben. Eine andere fragt: «Wie kann ich verhindern, dass meine Avocados faulen?» Eine alte Frau zeigt Bohnen und Maiskörner herum: «Warum sehen sie so kärglich aus?»
40% der landwirtschaftlichen Produkte verderben in Kenia auf dem langen Weg zum Konsumenten.
Die Antworten auf diese Fragen hat John Mutisya, der im Auftrag der Stiftung Biovision die Bauern berät. Die Früchte müssten besser verpackt werden, damit sie beim Transport keine Druckstellen bekämen, spricht Mutisya ins Mikrofon. Und: «Haltet eure Avocadobäume klein, dann könnt ihr die Früchte vom Baum holen, bevor sie herunterfallen und deswegen faulen.» Die Bohnen müssen zuerst gut getrocknet und dann in Säcken mit dichtem Innenfutter gelagert werden, weiss er. «Sie verhindern Schimmelbildung und halten Ungeziefer fern.» Auch bezüglich Mais hat John Mutisya einen Tipp: Er vermutet, dass die Körner beschädigt sind, weil sie mit einem Stock vom Kolben gelöst wurden. «Denkt daran, jede dieser Massnahmen ist wichtig», sagt er zum Schluss, «weil ihr alles, was ihr wegwerfen müsst, nicht mehr verkaufen könnt!»
Rose sei ihr Name, sagt die Bäuerin mit der hübschen Hochsteckfrisur, die nun das Wort ergreift. Sie erzählt, wie sich ihre Einkünfte verbessert haben, seit sie Johns Ratschläge beherzigt. «Es ist so wichtig, dass wir dieses Wissen teilen! Wichtig, dass wir uns vernetzen und gegenseitig unterstützen!»
Das Zuhause von Rose Nginya, 41, liegt ebenfalls im Hinterland von Machakos und beweist eindrücklich, dass das Know-how auf den kleinen Äckern ankommt. Wie es der Brauch hier will, zog sie nach der Heirat auf den Hof ihrer Schwiegereltern. Heute ernährt der Hof nicht nur die gesamte Grossfamilie, er produziert auch Überschüsse für den Verkauf. Im Gemüsegarten gedeihen Setzlinge, die Hühner sind so satt, dass sie nicht zur Fütterung erscheinen, Kaninchen lugen neugierig aus ihren Ställen. Ein junger Schwager führt die durstigen Rinder zum Teich. Schwiegermutter Josephine drischt Bohnen. Auf den Bohnenhülsen dösen Hundewelpen. Unter Bäumen stehen die obligaten Plastikstühle, die den Besuchern als Willkommensgruss zum Sitzen angeboten werden.
Von ihrem Berater John Mutisya weiss Rose Nginya, dass Kohl, Spinat und Zwiebeln mit wenig Wasser auskommen – ein Vorteil in dieser trockenen Gegend. Er hat ihr auch gezeigt, wie sie das Gemüse in Vertiefungen pflanzen kann, damit das Wasser und der selbstgemachte organische Dünger beim Giessen nicht abfliessen. Und sie ermuntert, Bienen zu halten – sie produzieren nicht nur Honig, sondern bestäuben auch die Nutzpflanzen, was die Produktivität des Gartens steigert.
«Ich muss kein Geld mehr für teuren Kunstdünger und Pestizide ausgeben. Und ich bekomme mehr Geld für die biologischen Produkte.»
Rose Nginya, Biobäuerin
Vor fünf Jahren hat Rose Nginya auf biologische Landwirtschaft umgestellt. Gemäss einer Langzeitstudie des schweizerischen Forschungsinstituts für biologischen Landbau sind die ersten Jahre statistisch gesehen eine Durststrecke, doch ab dem sechsten Jahr ist Biolandwirtschaft in Kenia bei sachgerechtem Anbau um 63 Prozent lukrativer. Bei Rose trägt die Umstellung bereits heute Früchte. «Ich muss kein Geld mehr für teuren Kunstdünger und Pestizide
ausgeben», sagt sie. «Und ich bekomme mehr Geld für die biologischen Produkte.» Zwar gibt es ausserhalb der Grossstadt Nairobi weder Biomärkte noch -labels, aber auch auf dem lokalen Markt fragen immer mehr Menschen nach ökologischen Produkten und bezahlen auch mehr dafür.
Denn es hat sich herumgesprochen: Biologisches Gemüse ist gesund. Für die Menschen hier bedeutet das: Es macht, anders als konventionelle Landwirtschaft , nicht krank. «Früher mussten wir oft ins Krankenhaus», sagt Rose, «wegen Bauchschmerzen und Erbrechen.» Erstaunlich ist dies nur auf den ersten Blick. In Kenia kommt Chemie zum Einsatz, die in Europa längst verboten ist. Rund ein Drittel der 718 zugelassenen Pestizide ist in Europa tabu, weil sie sich auf Menschen oder Umwelt schädlich auswirken können. Zudem ist der Umgang mit dem Gift oft problematisch: Schutzkleidung fehlt, das Spritzverbot vor der Ernte wird nicht eingehalten, leere Chemiekanister werden gemeinsam mit Lebensmitteln aufbewahrt oder von Kindern zum Spielen genutzt.
Rose musste nach der achten Klasse von der Schule abgehen, obwohl sie eine gute Schülerin war. Ihre Eltern konnten das Schulgeld nicht länger zahlen. Für ihre eigenen drei Kinder erhofft sie sich eine bessere Ausbildung. Auch dank dem zusätzlichen Einkommen. Ihr Sohn Victor, 15, will Bauer oder Pilot werden, Tochter Felicitas, 9, Lehrerin oder Ärztin. Schon heute profitieren die Kinder vom bescheidenen finanziellen Aufschwung.
Rose Nginyas Ehemann arbeitet in der Stadt, als Sammeltaxifahrer. Sein Zuhause verlässt er um vier Uhr früh, um elf Uhr nachts kehrt er zurück. Mit seinem Job verdient er weniger als Rose mit der Landwirtschaft. Dennoch ist er froh um seine Arbeit. Es ist nicht einfach, überhaupt eine zu finden.
Gegen Abend besuchen vier junge Frauen den Hof. Sie wollen von Rose in die Geheimnisse der biologischen Landwirtschaft eingeweiht werden. Weil nicht alle lesen können, liest Rose aus der acht Seiten starken Zeitung «The Organic Farmer» vor. Wer hätte gedacht, dass man Pfeilwurz besser nicht direkt neben dem Fluss anpflanzt, weil das verschmutzte Flusswasser sie ungeniessbar macht? Oder dass Mischkulturen dem Herbst-Heerwurm den Garaus machen?
«Man geht davon aus, dass die Invasion der Herbst-Heerwürmer jährlich Ernten im Wert von drei Milliarden US-Dollar vernichtet.»
Sevgan Subramanian, Wissenschaftler am International Centre of Insect Physiology and Ecology (Icipe) in Nairobi
Als Herbst-Heerwurm bezeichnet man die Raupe eines ursprünglich in Amerika beheimateten Falters, der vermutlich als blinder Passagier nach Afrika gereist ist. Erst vor zwei Jahren wurde er in Nigeria entdeckt. Seither hat er sich in fast allen Ländern südlich der Sahara ausgebreitet und verheerende Schäden hinterlassen. Vor allem beim Mais, dem grundlegenden Nahrungsmittel von mehr als 300 Millionen Menschen. In Sambia vernichtet der Schädling bereits 40 Prozent der Ernte, in Ghana 45 Prozent. Seinen Namen verdankt das Insekt dem Umstand, dass die Tiere in Heerscharen weiterziehen, wenn sie ein Maisfeld leer gefressen haben.
«Man geht davon aus, dass die Invasion Ernten im Wert von drei Milliarden US-Dollar jährlich vernichtet», sagt Sevgan Subramanian. Der indische Wissenschaftler arbeitet am International Centre of Insect Physiology and Ecology (Icipe) in Nairobi, das sich der Insektenforschung verschrieben hat, um die Lebensbedingungen der Menschen in Afrika zu verbessern. Hier wird etwa untersucht, wie man die Haltung der aggressiven afrikanischen Bienen vereinfachen, wie man Rinder vor der Tsetsefliege schützen und wie man Schädlinge mit umweltfreundlichen Methoden in Schach halten kann.
Sevgan Subramanian zeigt auf die Terrarien, in denen gefrässige Herbst-Heerwürmer leben. «Nur wenn wir den Schädling verstehen, können wir ihn bekämpfen.» Stolz erklärt er das Prinzip der vom Icipe geförderten Push-pull-Methode: Der Geruch von Desmodium, das zwischen den Mais gepflanzt wird, vertreibt Schädlinge und trägt dazu bei, dass der Boden Feuchtigkeit besser aufnehmen und speichern kann. Um die Felder herum wird Napiergras oder Brachiaria gepflanzt, das die Schädlinge aus dem Feld lockt. Diese Methode wird seit längerem gegen die Stängelbohrer-Motte eingesetzt. Nun hat man herausgefunden, dass sie auch hervorragend gegen den Herbst-Heerwurm wirkt.
Zudem haben die Icipe-Forscher einen natürlichen Feind des Herbst-Heerwurms entdeckt, nun wollen sie die Wespe züchten und in den Feldern aussetzen. Solch biologische Schädlingsbekämpfung ist weniger kostspielig als der Einsatz eines Insektizids, das Böden, Nützlingen und Menschen schadet und oft nur kurzfristig wirkt.
Rose hat in ihrem Maisfeld auch mit einer Mischung aus Asche und Chili gute Erfahrungen gemacht. Sobald der Mais kniehoch ist, geht sie durchs Feld und überstäubt die befallenen Pflanzen eine nach der anderen mit dem scharfen Pulver. Das Icipe sammelt solches Erfahrungswissen, das bislang nur mündlich weitergegeben wurde. Möglicherweise lassen sich daraus neue biologische Pflanzenschutzmittel entwickeln.
Unterdessen hat Rose einen Tisch unter den Baum getragen. Sie serviert frische Avocados, die so gut schmecken wie sonst nirgends. Ihre Schwiegermutter Josephine steht auf und erklärt, dass sie der Reporterin ein Gedicht vortragen wolle. Sie hat sich ein hübsches blaues Kostüm angezogen. Die über 60 Jahre alte Frau, die sonst nur Suaheli und Kamba spricht, holt tief Luft und beginnt feierlich auf Englisch zu rezitieren. Das Gedicht handelt vom Schutz der Natur. Und erinnert die Zuhörer daran: Jeder kann sich für sie einsetzen.
Kann ein Insektenforscher 20 Millionen Menschen retten?
Er kann. Hans Rudolf Herren war von 1979 bis 1994 Direktor am Internationalen Institut für tropische Landwirtschaft in Nigeria und verantwortete dort eines der grössten bisher realisierten biologischen Schädlingsbekämpfungsprogramme. In den siebziger Jahren bedrohte eine eingeschleppte Schmierlaus die Maniok-Ernten in Afrika, die für 200 Millionen Menschen bis zu 50 Prozent der Nahrungsenergie lieferten. Herren suchte nach einem geeigneten natürlichen Feind der Schmierlaus und fand ihn in einer gefrässigen Schlupfwespe. Millionen dieser Wespen wurden gezüchtet und ausgesetzt. Die drohende Hungersnot wurde abgewendet.
Von 1994 bis 2005 leitete Herren das Insektenforschungsinstitut Icipe in Kenia und entwickelte es zu einem internationalen Kompetenzzentrum für ökologische Schädlingsbekämpfung weiter. 1995 erhielt er als erster Schweizer überhaupt den World Food Prize. Die Jury begründete ihre Entscheidung damit, der Insektenforscher habe mit seinem Maniok-Programm das Leben von 20 Millionen Menschen gerettet. Mit dem Preisgeld gründete Herren die Stiftung Biovision.