Es vergeht kaum eine Woche, ohne dass ein Medium schlagzeilenträchtig über den Fachkräftemangel berichtet. Meist ist der Ton alarmistisch. Da wird von Chefs berichtet, die «händeringend» nach Arbeitskräften suchen, die Lage sei «so schlimm wie noch nie». Es tönt, als steuerte die Schweizer Volkswirtschaft Titanic-mässig auf den Eisberg zu. Dabei ist die aktuelle, angeblich schlimme Lage für die allermeisten arbeitnehmenden Schweizerinnen und Schweizer das genaue Gegenteil, nämlich ein Segen.

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Die aktuellen Zahlen zum Arbeitsmarkt sprechen für sich. Die Arbeitslosigkeit ist auf dem tiefsten Stand seit 20 Jahren. Das Staatssekretariat für Wirtschaft Seco sagt, man könne nahezu von Vollbeschäftigung sprechen. Es gebe aktuell fast doppelt so viele offene Stellen wie Arbeitslose. Und vielleicht die beste Nachricht: Auch Menschen mit einem etwas weniger schweren Ausbildungsrucksack haben gute Chancen auf eine Stelle. «Anfang Mai waren auf unserer Plattform www.jobagent.ch rund 11'000 sogenannte gering qualifizierte Jobs ausgeschrieben. Diese Zahl offenbart, dass es derzeit auch ganz viele Opportunitäten für Menschen mit geringerer Berufsbildung gibt», sagt Cornel Müller. Er ist Gründer der Datenfirma x28, die unabhängig Arbeitsmarktdaten sammelt, auf die unter anderem verschiedene Konjunkturforschungsstellen zurückgreifen.

«Viele Unternehmen haben noch nicht realisiert, dass sich dieser Arbeitskräftemangel noch zuspitzen wird.»

Cornel Müller

Besonders gefragt sind Pflegefachpersonen und Software-Entwickler. Aber auch Aussendienstmitarbeitende, Elektromonteure, Mechaniker, Schreiner und sogenannte Automatiker-Jobs sind auf der Liste der meistgesuchten Berufsleute. Automatikmonteure führen nach einer dreijährigen Berufslehre einfache praktische Arbeiten wie die Wartung elektrischer Maschinen und elektronischer Geräte aus.

Arbeitgeber sind selbst schuld

Wenn Unternehmen ihre Stellen nicht besetzen können, hätten sie sich das zumindest zum Teil selbst zuzuschreiben, sagt Müller. Seine Kritik: «Die Stellenanzeigen sind immer noch, wie sie seit eh und je waren.» Bewerbungsprozesse seien für Bewerberinnen und Bewerber oft mühsam. Zudem würden die Bewerbungen viel zu häufig noch nach den falschen Kriterien aussortiert wie etwa falsche Ausbildung, fehlende Erfahrung oder weil die Bewerberinnen und Bewerber schlicht «zu alt» seien. Müller: «Viele Unternehmen haben noch nicht realisiert, dass sich dieser Arbeitskräftemangel noch zuspitzen wird. Was wiederum die Chancen aufseiten der Arbeitnehmenden erhöht.»

Spielt der Markt zugunsten der Arbeitnehmenden, erwarten viele wohl, dass die Löhne steigen. Eine aktuelle Untersuchung der Konjunkturforschungsstelle ETH Zürich (KOF) bestätigt diesen Zusammenhang. Dafür wurden Antworten von 4500 Unternehmen aus verschiedenen Branchen ausgewertet, die Auskunft gegeben hatten zur Frage, wie sich die Bruttolöhne in den nächsten zwölf Monaten voraussichtlich entwickeln werden. «Je grösser das Ausmass des Fachkräftemangels in einer Branche, desto stärker das von den Unternehmen erwartete Lohnwachstum», sagt Studienautor Daniel Kopp.

Für zwei Branchen gilt dieser Zusammenhang gemäss der KOF-Studie aber nicht. «Sowohl im Gesundheits- Wegen Fachkräftemangel Soll ich als Fachfrau Gesundheit mehr Lohn verlangen? als auch im Sozialwesen erwarten die Unternehmen trotz ausgeprägtem Arbeitskräftemangel ein schwaches Lohnwachstum», sagt Kopp. Ein Grund könnte sein, dass in diesen Branchen nur ein kleiner Anteil der Unternehmen eine höhere Vergütung ihrer Leistungen erwarte. Entsprechend begrenzt sei der Spielraum für Lohnerhöhungen. Kopp: «Problematisch ist, dass dies den bereits ausgeprägten Fachkräftemangel weiter verstärken dürfte.»

Die Aussicht auf bessere Löhne ist aber nicht der einzige positive Effekt, der sich aus dem ausgetrockneten Arbeitsmarkt ergibt. «Arbeitnehmende haben jetzt breite Auswahlmöglichkeiten. Auch Quereinsteiger haben die Chance, Fuss zu fassen», beschreibt Andrea Müller von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) die Situation. Beschäftigte könnten die Lage nutzen, indem sie eigene Werte und Vorstellungen stärker einfordern, wie etwa Mitbestimmung oder konkrete Weiterbildungsangebote. Ganz grundsätzlich gelte: Arbeitnehmende sollten sich vermehrt selbst um ihre Karriere kümmern. Sind die eigenen Bedürfnisse beim aktuellen Arbeitgeber ausreichend erfüllt? Sind die eigenen Kompetenzen richtig investiert?

Mache ich das eigentlich gerne, was ich mache?

Noch drastischer formuliert es Matthias Mölleney von der Hochschule für Wirtschaft Zürich (HWZ): «Aus Sicht der Beschäftigten befinden wir uns in einem Arbeitnehmer-Paradies. Die Situation ist für gut Qualifizierte gar historisch einmalig.» Jetzt sei der Zeitpunkt gekommen, um sich zu fragen: Mache ich das eigentlich gerne, was ich mache? «Nehmen Sie sich einen ruhigen Augenblick, und überlegen Sie, worin Sie wirklich gut sind Berufliche Neuorientierung Zeit für einen neuen Job . Fragen Sie Ihre drei besten Freunde, wo sie Ihre Stärken sehen», rät der Leiter Center for Human Resources Management & Leadership an der HWZ.

Wer professioneller vorgehen möchte, kann auch die Dienste eines seriösen Coachs in Anspruch nehmen oder sich an die örtlichen Laufbahnberatungszentren wenden. Und noch die letzte gute Nachricht: Es herrscht keine Eile. Das Arbeitnehmer-Paradies wird so schnell nicht enden, sondern sich wegen der Demografie eher noch verbessern.

Nützliche Adressen

  • www.viamia.ch: Bietet kostenlose persönliche Beratung für Leute über 40, die sich beruflich neu orientieren möchten.
  • www.charakterstaerken.org: Das Angebot der Universität Zürich besteht in einem Onlinefragebogen, der die eigenen Stärken und Schwächen herausfindet.
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