Jetzt können Angestellte mehr Lohn verlangen
Firmen suchen verzweifelt nach Arbeitskräften. Das sind gute Nachrichten für viele Beschäftigte – ihnen bieten sich diverse Chancen.
Veröffentlicht am 5. Mai 2023 - 16:12 Uhr
Es vergeht kaum eine Woche, ohne dass ein Medium schlagzeilenträchtig über den Fachkräftemangel berichtet. Meist ist der Ton alarmistisch. Da wird von Chefs berichtet, die «händeringend» nach Arbeitskräften suchen, die Lage sei «so schlimm wie noch nie». Es tönt, als steuerte die Schweizer Volkswirtschaft Titanic-mässig auf den Eisberg zu. Dabei ist die aktuelle, angeblich schlimme Lage für die allermeisten arbeitnehmenden Schweizerinnen und Schweizer das genaue Gegenteil, nämlich ein Segen.
Die aktuellen Zahlen zum Arbeitsmarkt sprechen für sich. Die Arbeitslosigkeit ist auf dem tiefsten Stand seit 20 Jahren. Das Staatssekretariat für Wirtschaft Seco sagt, man könne nahezu von Vollbeschäftigung sprechen. Es gebe aktuell fast doppelt so viele offene Stellen wie Arbeitslose. Und vielleicht die beste Nachricht: Auch Menschen mit einem etwas weniger schweren Ausbildungsrucksack haben gute Chancen auf eine Stelle. «Anfang Mai waren auf unserer Plattform www.jobagent.ch rund 11'000 sogenannte gering qualifizierte Jobs ausgeschrieben. Diese Zahl offenbart, dass es derzeit auch ganz viele Opportunitäten für Menschen mit geringerer Berufsbildung gibt», sagt Cornel Müller. Er ist Gründer der Datenfirma x28, die unabhängig Arbeitsmarktdaten sammelt, auf die unter anderem verschiedene Konjunkturforschungsstellen zurückgreifen.
«Viele Unternehmen haben noch nicht realisiert, dass sich dieser Arbeitskräftemangel noch zuspitzen wird.»
Cornel Müller
Besonders gefragt sind Pflegefachpersonen und Software-Entwickler. Aber auch Aussendienstmitarbeitende, Elektromonteure, Mechaniker, Schreiner und sogenannte Automatiker-Jobs sind auf der Liste der meistgesuchten Berufsleute. Automatikmonteure führen nach einer dreijährigen Berufslehre einfache praktische Arbeiten wie die Wartung elektrischer Maschinen und elektronischer Geräte aus.
Arbeitgeber sind selbst schuld
Wenn Unternehmen ihre Stellen nicht besetzen können, hätten sie sich das zumindest zum Teil selbst zuzuschreiben, sagt Müller. Seine Kritik: «Die Stellenanzeigen sind immer noch, wie sie seit eh und je waren.» Bewerbungsprozesse seien für Bewerberinnen und Bewerber oft mühsam. Zudem würden die Bewerbungen viel zu häufig noch nach den falschen Kriterien aussortiert wie etwa falsche Ausbildung, fehlende Erfahrung oder weil die Bewerberinnen und Bewerber schlicht «zu alt» seien. Müller: «Viele Unternehmen haben noch nicht realisiert, dass sich dieser Arbeitskräftemangel noch zuspitzen wird. Was wiederum die Chancen aufseiten der Arbeitnehmenden erhöht.»
Spielt der Markt zugunsten der Arbeitnehmenden, erwarten viele wohl, dass die Löhne steigen. Eine aktuelle Untersuchung der Konjunkturforschungsstelle ETH Zürich (KOF) bestätigt diesen Zusammenhang. Dafür wurden Antworten von 4500 Unternehmen aus verschiedenen Branchen ausgewertet, die Auskunft gegeben hatten zur Frage, wie sich die Bruttolöhne in den nächsten zwölf Monaten voraussichtlich entwickeln werden. «Je grösser das Ausmass des Fachkräftemangels in einer Branche, desto stärker das von den Unternehmen erwartete Lohnwachstum», sagt Studienautor Daniel Kopp.
Für zwei Branchen gilt dieser Zusammenhang gemäss der KOF-Studie aber nicht. «Sowohl im Gesundheits- als auch im Sozialwesen erwarten die Unternehmen trotz ausgeprägtem Arbeitskräftemangel ein schwaches Lohnwachstum», sagt Kopp. Ein Grund könnte sein, dass in diesen Branchen nur ein kleiner Anteil der Unternehmen eine höhere Vergütung ihrer Leistungen erwarte. Entsprechend begrenzt sei der Spielraum für Lohnerhöhungen. Kopp: «Problematisch ist, dass dies den bereits ausgeprägten Fachkräftemangel weiter verstärken dürfte.»
Die Aussicht auf bessere Löhne ist aber nicht der einzige positive Effekt, der sich aus dem ausgetrockneten Arbeitsmarkt ergibt. «Arbeitnehmende haben jetzt breite Auswahlmöglichkeiten. Auch Quereinsteiger haben die Chance, Fuss zu fassen», beschreibt Andrea Müller von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) die Situation. Beschäftigte könnten die Lage nutzen, indem sie eigene Werte und Vorstellungen stärker einfordern, wie etwa Mitbestimmung oder konkrete Weiterbildungsangebote. Ganz grundsätzlich gelte: Arbeitnehmende sollten sich vermehrt selbst um ihre Karriere kümmern. Sind die eigenen Bedürfnisse beim aktuellen Arbeitgeber ausreichend erfüllt? Sind die eigenen Kompetenzen richtig investiert?
Mache ich das eigentlich gerne, was ich mache?
Noch drastischer formuliert es Matthias Mölleney von der Hochschule für Wirtschaft Zürich (HWZ): «Aus Sicht der Beschäftigten befinden wir uns in einem Arbeitnehmer-Paradies. Die Situation ist für gut Qualifizierte gar historisch einmalig.» Jetzt sei der Zeitpunkt gekommen, um sich zu fragen: Mache ich das eigentlich gerne, was ich mache? «Nehmen Sie sich einen ruhigen Augenblick, und überlegen Sie, worin Sie wirklich gut sind . Fragen Sie Ihre drei besten Freunde, wo sie Ihre Stärken sehen», rät der Leiter Center for Human Resources Management & Leadership an der HWZ.
Wer professioneller vorgehen möchte, kann auch die Dienste eines seriösen Coachs in Anspruch nehmen oder sich an die örtlichen Laufbahnberatungszentren wenden. Und noch die letzte gute Nachricht: Es herrscht keine Eile. Das Arbeitnehmer-Paradies wird so schnell nicht enden, sondern sich wegen der Demografie eher noch verbessern.
Nützliche Adressen
- www.viamia.ch: Bietet kostenlose persönliche Beratung für Leute über 40, die sich beruflich neu orientieren möchten.
- www.charakterstaerken.org: Das Angebot der Universität Zürich besteht in einem Onlinefragebogen, der die eigenen Stärken und Schwächen herausfindet.
7 Kommentare
Das ewige gejammere der Wirtschaft und Politik....
Stellt endlich wieder Menschen Ü50 ein anstatt sie zu entlassen! Gebt den Leuten eine Chance (jung und alt) sich in einen Job einzuarbeiten und unterstützt sie dabei, zu Fachkräften zu werden. Einfach hinsetzen und verlangen, dass man alles schon genau so kann wie es an dieser Stelle verlangt wird inkl. allen Prozessen funktioniert nicht!
Zahlt anständige Löhne, vorallem in den Niedriglohnbereichen! Versucht nicht bei Neueinstellungen ständig den Lohn noch weiter nach unten zu drücken! Behandelt endlich eure Angestellten wieder wie MENSCHEN! Gebt auch mal den Ü50 eine Chance, die sich mit einer unwürdigen Bezahlung in Temporärjobs abrackern (wenn man überhaupt mal einen erhält).
Und wenn man sich dann doch wieder mal für eine Festanstellung vorstellen kann, dann sind die Bedingungen unterste Schublade: "über den (sehr bescheiden angesetzten) Lohn müssen wir noch sprechen...", Ferien 4 Wochen (und noch stolz drauf), Arbeitszeit 42,5 Std. Klar darf sich da Ü50 mal wieder vorstellen, alles Jüngere rennt - in die andere Richtung!
Also liebe Wirtschaft, immer schön weiterjammern, der Staat (also die Steuerzahler) werden euch schon irgendwie aus der Patsche helfen (siehe Credit Suisse!)
Und Leider ist es nach vielen Jahren nur für einige wenige "umgekehrt", bei allen anderen wird das Lohndumping immer wie krasser... besonders, wenn man ab 50ig eine neue Stelle sucht und eine Frau ist...
Bravo 👏
Die fehlenden Arbeitskräfte kommen nicht nur von ungefähr: Man schaue mal in Richtung Soz. Da liegt schon mal ein nicht mehr kleiner Teil an Leuten, welche durchaus arbeiten und sich sogar weiterbilden könnten. Aber Nichtstun ist halt soo bequem, wenn es einem soo leichtgemacht wird.
Zu alt, im falschen Bereich zu qualifiziert (d.h. für den Chef gefährlich), etc. pp. Solche Ausreden hört man als Ü50 dauernd, wenn man auf Stellensuche ist. Selbst wenn eine Kandidatin Schweizerin ist (also die Sprache kann) und auch sonst nicht auf den Kopf gefallen ist und obwohl sie sofort anfangen könnte, da ausgesteuert, wollen die HR-Leute der Arbeitgeber ein solches Risiko nicht eingehen, schon nur deshalb, weil Ü50 auch in der PK mehr kosten. Lieber jammert man weiter.
Schön wenn es nach vielen Jahren mal umgekehrt ist.
Leider funktioniert es in den Pflegeberufen nicht.