Lohndumping am Laufmeter
Dumpinglöhne, Schwarzarbeit und Pfusch auf Schweizer Baustellen: Wie sich die Patrons auf dem Buckel der Büezer bereichern.
aktualisiert am 20. Juni 2017 - 11:00 Uhr
Sieben Uhr. Hämmern, Bohren, Arbeiter brüllen – Befehle auf Bosnisch, Kroatisch, Portugiesisch, Spanisch, Deutsch, Polnisch, Ungarisch. Anders als beim Turmbau zu Babel stehen die Arbeiten im Zürcher Süden trotz Sprachengewirr nicht still. Auf jeder Etage des Neubaus wird gearbeitet.
Auch zuunterst. «Du kannst mich am Arsch lecken!», brüllt der Projektleiter mit französischem Akzent ins Handy, drückt seinen Daumen in die Zugangskontrolle und verschwindet durch das Drehkreuz auf die Baustelle Greencity. Die Feuerpolizei wartet auf ihn. Er hat einen Abnahmetermin und keine Zeit für Christa Suter.
Die 60-Jährige arbeitet für die Gewerkschaft Unia, gut erkennbar am roten Bauhelm und an der orangefarbenen Weste mit weisser Aufschrift. Seit zwölf Jahren ist sie auf den Baustellen in den Kantonen Zürich und Schaffhausen unterwegs und spricht mit den Arbeitern. So erfährt sie täglich von Abzocke, Druck und Gewalt.
An diesem Tag sucht Suter Schaler aus Portugal, denen sollen Dumpinglöhne gezahlt worden sein. Aber sie schafft es nicht rein. Der schweizerisch-französische Bauriese Losinger Marazzi will die Gewerkschafterin nicht auf der Baustelle. Der Zaun ist die Sichtblende, das Drehkreuz die Schleuse, was dahinter passiert, ist unsichtbar.
Die Arbeit auf dem Bau ist hart. Die Strukturen sind hierarchisch, an der Spitze der Baufirmen stehen die Patrons. Zeit und Geld sind knapp. Die Welt hinter den Baracken gleicht dem Wilden Westen.
Dort haben wir uns umgesehen. Vier Wochen lang. Auf acht Baustellen. Und herausgefunden: Staatsangehörigkeit und Aufenthaltsrechte machen aus Menschen Arbeiter erster, zweiter und dritter Klasse – Schweizer, Arbeiter aus der EU und den Efta-Ländern Island, Liechtenstein und Norwegen und solche aus Drittstaaten. Wir beginnen ganz unten.
Pfingstsonntag. Hilfsarbeiter suchen beim Veloabstellplatz am Bahnhof irgendwo hinter Olten Schutz vor dem Regen. Tropfen prasseln aufs Wellblechdach. Ihre Unterkunft möchten sie nicht zeigen. Zeit haben sie, aber kein Geld, um heimzufahren in den Kosovo. Jede halbe Stunde fährt ein Zug in Richtung Zürich, ihrem Arbeitsort. Einige erzählen, dass sie täglich 16 Stunden unterwegs sind. «Bezahlt bekommst du aber nur die zehn Stunden auf der Baustelle, für die Fahrzeit gibts keinen Rappen.» Dosenbier wird geöffnet, Feldschlösschen. Der Biervorrat aus der Heimat ist längst aufgebraucht.
Ihre Namen möchten sie nicht in der Presse lesen. Auch den des Chefs nicht. Angeheuert haben sie bei einem kosovarischen Unternehmer. Eines seiner Unternehmen hat den Sitz in der Schweiz. Die Firmennamen wechseln so häufig, dass keiner mehr weiss, wofür die kryptischen Abkürzungen stehen.
Sie zögen in Zürich heimlich von Baustelle zu Baustelle, erzählen die Kosovaren. Sie verfügen weder über eine Arbeitsbewilligung, noch sind sie als Kurzaufenthalter gemeldet. Wenn der Chef den Monatslohn zahlt, müssen sie zwar eine Quittung unterschreiben, den Durchschlag bekommen sie aber nicht. Den Lohn gibts bar auf die Hand, ohne Steuern. Das alles ist verboten.
Es fehlen auch Lohnabrechnungen und Stundenrapporte. «Die hatten kein Bankkonto», wird der Chef später sagen. «Und wer behauptet, hier werde schwarzgearbeitet, den verklage ich auf Schadenersatz – Millionen Franken kostet Sie das.» Die Arbeiter haben nichts in der Hand. Wenn sie bei einer Kontrolle entdeckt werden, rückt die Polizei an. Die Opfer werden zu Tätern. Die Chance, dann noch einen Lohn zu erhalten – gleich null.
Beim Gespräch hilft «Google Translate». Im linken Fenster wird abwechselnd in Albanisch und Serbisch eingegeben, das Deutsche zeigts im rechten Fenster an. «Scheissegal», sagt der Grösste. Immer noch mehr Geld als zu Hause. Immer noch besser als gar kein Geld. Allein 2016 verzeichnet das Amt für Wirtschaft und Arbeit im Kanton Zürich 307 Verstösse wegen Schwarzarbeit in der Baubranche.
Da ist Adám Nagy*, 43, gelernter Metzger aus einem ungarischen Dorf über 1000 Kilometer weit entfernt. «Klein-Belgrad» nennen die Schaffhauser den Ort, in dem Nagy mit seinen Kumpeln wohnt. Er teilt sich eine Zweizimmerwohnung im Hinterhaus einer Autogarage mit seinem ungarischen Kumpel. An der Decke der Nachbarwohnung klebt der Schimmel, dass es beim Atmen in der Lunge beisst. Wenn das Geld fehlt, gibts kein Abendessen. «Red Bull und Zigarette», sagt er und drückt seinen Stummel in einer leeren Dose Kartoffeleintopf aus. Um Geld zu sparen, gehen er und seine Kollegen im Penny-Markt in Jestetten ennet der Grenze einkaufen. Bier und Zigaretten bringt er aus Ungarn mit.
An der Pinnwand steckt ein orangefarbener Einzahlungsschein für die Unia-Mitgliedschaft, die er noch bezahlen muss. Die Gewerkschaft soll ihm zu seinem Recht verhelfen. Nagy war bei einer Schweizer Firma angestellt, die zu wenig Lohn gezahlt hat und keine Kinderzulagen. Er hat die Abrechnungen, die Stundenrapporte und seinen Lebenslauf ordentlich in Klarsichthüllen sortiert.
Rund 700 Franken monatlich beträgt der Durchschnittslohn in Ungarn. «Die Schweiz ist gut, keine Probleme», beteuert er wieder und wieder. In der Schweiz verdient er ein Vielfaches, selbst wenn er nicht gemäss Branchenverträgen bezahlt wird. Er braucht das Geld für Frau, Sohn und Tochter. Alle sechs Wochen fährt er nach Hause, dazwischen sieht er seine Familie auf dem Bildschirm seines alten Laptops, wenn er mit ihr skypt, und auf dem gerahmten Foto im sonst leeren Regal.
Nagy hat ein Dach über dem Kopf. Immer noch besser als seine polnischen Kollegen: Sie fahren jeden Montag von Polen in die Schweiz. Sie schlafen im «Stinkeferrari», einem verrosteten Transporter mit leerem Farbeimer als Toilette. Jedes Wochenende geht es nach Hause.
Nagy und die polnischen Kollegen wurden von Firmen aus dem europäischen Ausland in die Schweiz geschickt, um hier auf dem Bau zu arbeiten. Das ermöglicht seit 2002 die Personenfreizügigkeit. Seither brauchen Unternehmen aus der EU und den Efta-Ländern keine Arbeitsbewilligung mehr, wenn sie in der Schweiz bis zu 90 Tage lang tätig sein wollen. Sie müssen sich anmelden und die hiesigen minimalen Lohn- und Arbeitsbedingungen einhalten.
Lesen Sie die Fortsetzung des Artikels nach der Infografik.
«Flankierende Massnahmen» nennt es das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco). Sie sollen verhindern, dass ausländische Unternehmen Schweizer Firmen im Preis unterbieten. Wer dagegen verstösst, muss seit dem 1. April 2017 mit einer Busse von bis zu 30'000 Franken oder einer Sperre von maximal fünf Jahren rechnen. Die Dienstleistungssperren veröffentlicht das Seco auf seiner Website. Betroffen sind 5848 ausländische und Schweizer Firmen, Stand: Juni 2017. Eine Aufteilung nach Branchen veröffentlicht das Seco nicht. «Online-Pranger», schimpfen manche über die Liste, die Namen nennt und Transparenz schaffen soll. Die Arbeiter bleiben namenlos.
Einer, der die Namen kennt, ist Markus Stalder. Für die Arbeitsmarktkontrollstelle des Kantons Zürich ist der 65-Jährige seit rund zehn Jahren auf Baustellen unterwegs. Er trägt eine Bauchtasche, um den Hals den Ausweis. Er nimmt kurz den weissen Bauhelm ab und trocknet die schweissnasse Stirn mit einem Stofftaschentuch. Die Sonne brennt schon vor der Mittagszeit auf die Fläche, die einmal ein Balkon im vierten Stock eines Wohnhauses sein wird.
Draussen auf dem Baugerüst hat Stalder für die nächsten zwei Stunden sein Büro aufgebaut: Tablet, Maus, Klemmbrett. Er überprüft die Personalien von fünf Gipsern, angestellt bei einer Schweizer Firma, vor gut zwei Monaten gegründet, wie er aus dem Handelsregister weiss. «Du musst die Unterlagen lesen können und richtig kombinieren. Das ist Detektivarbeit.»
Nacheinander geht er mit den Gipsern seinen Fragenkatalog durch:
«Für wen arbeiten Sie?»
Der Gipser dreht sich um und zeigt den Firmennamen hinten auf dem T-Shirt. Markus Stalder tippt ihn in sein Tablet.
«Was machen Sie auf der Baustelle?»
«Bin Gipser.»
«Was für eine Ausbildung haben Sie?»
«Schule.»
«Wie viele Jahre?»
«Sechs.»
«Haben Sie eine Ausbildung?»
«Nein. Arbeit, immer Arbeit am Bau.»
«Wie viel verdienen Sie im Monat?»
«Das geht Sie nichts an», sagt der Gipser, die Zigarette im rechten Mundwinkel.
«Ich muss fragen», entgegnet Stalder.
«Ich bin zufrieden.»
«Sie wollen keine Angaben machen?»
Der Gipser zögert, zieht an der Zigarette, schreibt dann eine Zahl auf ein Stück Papier.
«Wie viele Stunden arbeiten Sie pro Tag?»
«Neun.»
«Auch samstags?»
«Manchmal.»
«Und sonntags?»
«Nein.»
«Machen Sie Überstunden?»
«Nein.»
«Und wie viel Ferien haben Sie?»
«21 Tage.»
«Bekommen Sie einen 13. Monatslohn?»
«Weiss ich nicht.»
«Was steht auf Ihrem Lohnzettel?»
«Weiss ich nicht.» Der Gipser zieht wieder an der Zigarette.
«Wie viel Spesen – für Mittagessen?»
«280 Franken pauschal.»
«Wird Ihr Lohn auf ein Bankkonto eingezahlt?»
«Immer.»
«Und der Arbeitsweg? Ist es Arbeitszeit?»
«Keine Ahnung.»
«Wie ‹keine Ahnung›?»
«Ich weiss es nicht.»
«Wollen Sie es nicht sagen?»
Der Gipser zuckt mit den Schultern.
«Vielen Dank, machen Sie weiter.»
Er ruft den nächsten Arbeiter zu sich. Die müssen vorwärtsmachen. Stalder weiss das: «Die Gipser stehen unter Zeitdruck. Gerade wenn es so heiss ist und der Gips schnell trocknet.»
In drei Monaten geht der Kontrolleur in Pension. «Eine Spürnase», sagt sein Chef. Gemeinsam mit einer Kollegin und vier Kollegen kontrolliert Stalder 3500 bis 4000 Arbeitgeber pro Jahr, die Hälfte davon ausländische Firmen. Das macht zwischen 8000 und 10'000 Arbeiter auf Baustellen im Kanton Zürich pro Jahr. Wer nicht gemeldet ist, schwarzarbeitet, wird nur durch Zufall entdeckt. Ein Kollateralerfolg, sozusagen.
«Grundsätzlich wird jeder kontrollierte Arbeitgeber angeschrieben, egal, wie die Kontrolle ausfällt», sagt Stalder, «sonst hängt der Arbeitgeber in der Luft.» Das Dossier wird an die paritätische Berufskommission der Gipser weitergeleitet, in der Gewerkschaften und Arbeitgeber vertreten sind. Die Kommission wacht über die Lohn- und Arbeitsbedingungen der Maler und Gipser im Kanton Zürich. Bei Verdacht auf Lohndumping, Schwarzarbeit oder wenn ein Unternehmen die Einsicht in die Lohnbücher verwehrt, meldet sie das dem Amt für Wirtschaft und Arbeit im Kanton Zürich.
Auf dem Weg zurück zum Auto hält am Zebrastreifen am Zürcher Manesseplatz ein weisser Kastenwagen mit der blau-weissen Aufschrift «Rolf Schlagenhauf» und lässt Stalder den Vortritt. Der Kontrolleur: «Sind das die Gipser vom Schlagenhauf oder eines Subunternehmers im Firmenauto?»
Rolf Schlagenhauf führt den Familienbetrieb aus Meilen in der dritten Generation. Er selbst ist ausgebildeter Maler «und stolz darauf». Von seinem ausladenden Schreibtisch aus blickt er auf den Zürichsee. Vor ihm ein hölzerner Leuchtturm, sein Talisman. Schlagenhauf hat rund 250 Mitarbeiter. Seit über 25 Jahren arbeitet Antonio Stifani für ihn. Der 51-jährige Maler hat sich hochgearbeitet zum stellvertretenden Geschäftsführer bei Rolf Schlagenhauf. Anfang der 1980er Jahre packte er seine Koffer, ein paar Kleider und Waschzeug und fuhr mit dem Zug von Süditalien nach Zürich. Er folgte seinem Vater, der schon einige Jahre hier war.
Nach über 30 Jahren am Bau ist er stolz auf seinen Beruf: «Der beste Moment ist, wenn das Gerüst vom Haus weggenommen werden kann, dann haben wir unsere Arbeit getan.» Stifani klopft dabei mit seinen Fingerknöcheln gegen eine Hauswand. Von schwarzen Schafen will er nichts wissen.
Wenn das eigene Personal knapp wird, nimmt Schlagenhauf kurzfristig Subunternehmen unter Vertrag. Er arbeitet nur mit Subunternehmern, die selber keine weiteren Subfirmen beauftragen. Ein solches Subunternehmen war zum Beispiel die Viaro AG. Laut eigenen Angaben hat Schlagenhauf rund 1,5 Millionen Franken an die Firma gezahlt. Die hat aber nur einen Teil der Löhne an die Gipser ausgezahlt.
Die Pistole auf die Brust gesetzt
In Süditalien stellt man ihn mit 50 auf die Strasse. Er rettet sich in die Schweiz, krampft auf dem Bau. Und wird grob um den Lohn geprellt. Dann muss er auch noch sein Haus verkaufen.
Ein anderer Auftraggeber beziffert seinen Schaden auf 950'000 Franken. Er hat Strafanzeige wegen Betrugs eingereicht. Die Staatsanwaltschaft ermittelt.
Hinter der Viaro AG steht das italienische Ehepaar Franco, beide Anfang 30. Rolando, Der Ehemann hat seit 2012 mindestens zwei weitere Gipserfirmen im Kanton Zürich in den Konkurs geführt. Manche vermuten, dass eine Strategie dahintersteckt. Dass man mit Kettenkonkursen versucht, um Lohnforderungen und Sozialabgaben herumzukommen, ist in der Baubranche nichts Neues. Der Anwalt des Ehepaars Franco will gegenüber dem Beobachter nicht Stellung nehmen.
«Tag der Bauwirtschaft», 9. Juni. Gian-Luca Lardi eröffnet die Generalversammlung dort, wo jedes Frühjahr teure Ferraris am Auto-Salon in Genf gezeigt werden. 2015 übernahm der 47-jährige Tessiner mit der magentafarbenen Krawatte den Posten des Zentralpräsidenten des Schweizerischen Baumeisterverbands.
Lardi ist zudem Geschäftsführer einer Baufirma mit Sitz in Lugano. Gerade baut sie im Auftrag der SBB die Gleisverlängerung der Strecke Bellinzona–Giubiasco, Auftragsvolumen: über 14 Millionen Franken. Die SBB müssen solche Bauvorhaben ausschreiben. Gemäss Baumeisterverband werden neun von zehn Ausschreibungen zu Bauvorhaben der öffentlichen Hand – Bund, Kantone und Gemeinden – an den billigsten Anbieter vergeben. «Ohne Rücksicht darauf, ob beim billigsten überhaupt die Qualität stimmt und das Unternehmen die Termine einhalten kann», sagt Lardi. «Um ihre Auftragsbücher zu füllen, liefern sich viele Unternehmen einen ruinösen Preiswettbewerb.» Dumpinglöhne inklusive: «Im Tessin mit den Grenzgängern aus Italien ist Lohndumping ein effektives Problem.»
«Es gibt zu viele Firmen, die sich um ein Stück des Kuchens streiten.»
Gian-Luca Lardi, Zentralpräsident des Schweizerischen Baumeisterverbands
Typisch für die Baubranche ist die tiefe Einstiegshürde. Jeder kann Baugeräte – Kran, Lastwagen, Kleinbagger – auf den Bau stellen. Er muss die Geräte nicht mal finanzieren, es genügt, sie zu mieten. Das Material kann man einkaufen. Arbeiter über Temporärbüros anheuern. Lardi folgert: «Deshalb gibt es zu viele Firmen, die sich um ein Stück des Kuchens streiten.»
Am Rednerpult in der Messehalle appelliert er an die Verbandsmitglieder: «Wir kommen nicht darum herum, die Anzahl von Marktteilnehmern zu reduzieren.» Unternehmer sollten sich zusammenschliessen, auch wenn das bedeute, dass der Name des Patrons im Firmennamen wegfällt.
Ein solcher Patron, ein Kojak mit weissem Schnauz, ist vor der Halle am Rauchen. Unter dem Arm klemmt der «Blick». «Haben Sie die Schlagzeile gelesen? ‹Burn-out nach 800 Überstunden: Unia-Mitarbeiter schuftete bis zur Erschöpfung›. Die sind keinen Deut besser als wir. Meinen sie aber! Akademiker halt!», sagt der Baumeister und zieht an der Zigarette.
Gewerkschafterin Christa Suter steigt die Holztreppen hoch, die die Baracken der Baustelle Andreasturm in Zürich-Oerlikon verbinden. An ihrer Seite eine italienische Kollegin, die übersetzt. Die Arbeiter haben Mittag. Es gibt falsches Fanta, billiges Weissbrot und Prosciutto direkt aus der Plastikverpackung. Suter zückt ihr Tablet und fragt nach den Arbeitsbedingungen auf der Baustelle: Familienname? Arbeitgeber? Monatslohn? Kinderzulage? Spesen? Sie lässt sich Verträge, Lohnabrechnungen und Kontoauszüge zeigen.
«Ich kann nur mit dem Generalunternehmen sprechen, wenn ich Fakten habe», erklärt sie. Implenia baut den 80 Meter hohen Turm im Auftrag der SBB. Implenia vertritt eine «klare Null-Toleranz-Politik gegenüber Dumpinglöhnen und Schwarzarbeit», und «bei Verdacht auf Lohndumping arbeitet Implenia ausserdem gezielt mit der Gewerkschaft Unia zusammen», heisst es auf Anfrage. «Auf jeder zweiten Baustelle in der Schweiz arbeitet neben einem regulär bezahlten Arbeiter einer, der abgezockt wird», schätzt Christa Suter.
«Auf jeder zweiten Baustelle in der Schweiz arbeitet neben einem regulär bezahlten Arbeiter ein abgezockter.»
Christa Suter, Unia-Gewerkschafterin
Die Gewerkschaft brauchts, da sind sich alle auf dem Bau einig, Mindestlöhne sind in der Baubranche notwendig. «Arbeit muss sich lohnen», sagt Gian-Luca Lardi, der Baumeister. Kritisiert werden die Methoden der Unia.
Vom Vorbild der US-Gewerkschaften sprechen einige. Die amerikanische Art ist manchen Arbeitern in der Schweiz zu viel. Von Druck und Handgreiflichkeiten zwischen Arbeitern und Unia-Mitarbeitern auf der Baustelle berichten Baumeister und Generalunternehmer. Davon will Lorenz Keller nichts wissen. Der 37-Jährige ist Geschäftsführer ad interim nach dem Skandal um Roman Burger, den ehemaligen Leiter der Unia Zürich-Schaffhausen. Burger verstand es, Arbeitskämpfe zu einem medialen Ereignis zu machen.
Die Unia sieht sich aber eher in der Tradition portugiesischer und spanischer Arbeiter. «Wir sind kämpferisch», sagt Keller. Die Arbeitgeberseite fühlt sich pauschal verurteilt. «Unsere Wahrnehmung ist, dass die Unia Teil der Berater- und Normenindustrie ist, die nach mehr Geld, Einfluss und Aufmerksamkeit trachtet», sagt Markus Mettler, Geschäftsführer der Halter AG. Heute hat die Unia in der Region Zürich-Schaffhausen rund 29'000 Mitglieder. Über die Mitgliederbeiträge finanziert sie ihre Arbeit. «Natürlich wollen wir als Organisation wachsen», sagt Keller, «aber nicht um jeden Preis.»
Implenia und Halter sind zwei von 19 Generalunternehmen, die der Beobachter befragt hat. Vier haben die Fragen zumindest teilweise beantwortet. «Salopp gesagt ist das Baugewerbe ein Wettgeschäft. Man setzt sein Geld darauf, innerhalb der Terminvorgaben den Qualitätsstandard zum offerierten Preis erfüllen zu können», lässt sich Thomas Foery, Personalchef bei Implenia, zitieren. Ins Konferenzzimmer mit Orangensaft in kleinen Flaschen auf dem Tisch und dickem Teppich darunter, der die Schritte verschlingt, werden wir nicht eingeladen.
Ein langjähriger Kenner der Branche, früher Mitarbeiter bei einer grossen Generalunternehmung, erzählt, allerdings nur anonym: «Der ruinöse Preisdruck, der sich in der Branche durch sämtliche Ebenen zieht, schafft regelrecht Anreize, die Löhne zu drücken.» Dumpinglöhne sind nicht nur für die unterbezahlten Arbeiter und die ehrlichen Handwerkerbetriebe ein Problem. Sie schaden auch der Qualität auf dem Bau. Die Folge: Pfusch.
Eine Studie der ETH Zürich aus dem Jahr 2013 beziffert die Folgekosten von Mängeln beim Neubau von Wohnungen auf 1,6 Milliarden Franken pro Jahr. Aktuellere und umfassendere Zahlen liegen keine vor. Die Studie, die der Schweizerische Baumeisterverband initiiert hat, kommt zum Schluss, dass alle am Bau Beteiligten für Mängel verantwortlich sind.
Lesen Sie die Fortsetzung des Artikels nach der Infografik
«Der Bauherr muss Schwerpunkte setzen: Will er seriös umgesetztes Handwerk haben, braucht es eine längere Vorlaufzeit in der Planung oder weniger Zeitdruck in der Bauphase», sagt der ETH-Studienleiter in einem Interview auf der Website der Universität. Doch die Bauherren sind von der Solidarhaftung ausgenommen.
Verschärft in der Pflicht stehen seit 15. Juli 2013 die Generalunternehmer, wenn in der Subunternehmerkette die Mindestlohn- und Arbeitsbedingungen nicht eingehalten werden. Während die Gewerkschaften die Regelung als geeignetes Instrument im Kampf gegen Dumpinglöhne loben, fordert der Baumeisterverband: «Schaffen wir die Solidarhaftung wieder ab!»
Die Sozialpartner stehen auf unterschiedlichen Seiten des Grabens. Einer müsse über den Graben springen, findet auch der anonyme Branchenkenner. Für ihn steht ausser Frage, dass man die Solidarhaftung revidieren und künftig auch die Bauherren ins Gebet nehmen müsste. Denn: «Dort beginnt der Preisdruck.» Nur wenige Bauherren würden die teuren Präventiv- und Kontrollmassnahmen zur Einhaltung der Lohn- und Arbeitsbedingungen einberechnen, wenn sie Bauvorhaben ausschreiben.
Und was tun die Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften gegen die Dumpinglöhne? Statt geschlossen dagegen vorzugehen, liefern sie sich sinnlose Grabenkämpfe.
Nagy kümmert das wenig. Er will zu Abend essen. Es gibt Ofenpoulet mit Kartoffelstock. Dazu Dosenbier.
Je weiter unten in der Hierarchie sie stehen, desto übler werden sie abgezockt. (siehe Infografik oben «Patrons und Büezer»)
- Die ausgezahlten Löhne sind tiefer, als die Gesamtarbeitsverträge vorsehen.
- Die Löhne werden unregelmässig oder nicht ausgezahlt.
- Bei korrekt ausgezahlten Löhnen müssen die Arbeiter einen Teil in bar ihrem Chef zurückzahlen.
- Löhne werden ohne Quittung bar ausgezahlt, oder Lohnabrechnungen fehlen.
- Es wird kein 13. Monatslohn gezahlt.
- Es gibt keine Kinderzulagen.
- Statt des vereinbarten Monatslohns werden Stundenlöhne gezahlt, Absenzen und Ferien nicht entlöhnt.
- Die Arbeitszeiten werden überschritten.
- Die Arbeit an Wochenenden und Feiertagen wird nicht als Arbeitszeit oder ohne Feiertagsentschädigung verrechnet.
- Sozialleistungen werden nicht abgeliefert. Die Arbeiter werden nicht bei der AHV angemeldet, die Beiträge werden aber trotzdem vom Lohn abgezogen.
- Fahrtwege werden entgegen dem Gesamtarbeitsvertrag nicht als Arbeitszeit gerechnet.
- Spesen werden gar nicht oder nur teilweise übernommen.
- Es wird nicht versteuert, sprich: schwarzgearbeitet.
- Der Mietzins für die Unterkunft wird vom Lohn abgezogen.
- Bei Schweizer Arbeitern: Es wird kein Geld in die Pensionskasse eingezahlt.
- Anja Conzett: «Lohndumping. Eine Spurensuche auf dem Bau»; Rotpunktverlag, 2016, 176 Seiten, CHF 31.90
* Name geändert