«Ein natürlicher Garten ist ein Widerspruch»
Während Naturgärten einst in erster Linie Refugien für Tiere und Pflanzen waren, soll dort heute auch der Mensch auf seine Kosten kommen. Wie das geht, erklärt Pirmin Rohrer.
Veröffentlicht am 10. März 2017 - 10:21 Uhr
Zur Person
Pirmin Rohrer, 50, ist Fachmann für naturnahen Gartenbau. Seit 1991 betreibt er in Uerzlikon ZH seine Firma zur Gartengestaltung.
Beobachter: In manchen Naturgärten hat man den Eindruck, sie seien für Insekten und Frösche ein Paradies, als Mensch fühlt man sich aber weniger willkommen. Warum?
Pirmin Rohrer: Früher war die Bepflanzung in Naturgärten eher locker und zufällig. Man hat Pflanzen ausgesät und geschaut, was wächst. Wenn die riesige Königskerze vor dem kleinen Thymian gedieh, liess man der Natur ihren Lauf. Man hat wenig gestaltet und in Kauf genommen, dass das Gesamtbild des Gartens nicht besonders attraktiv war. Obwohl diese Auffassung nicht mehr zeitgemäss ist, hat sie in den Köpfen vieler Menschen überlebt. Und es gibt ja auch noch einige Naturgärtner, die so arbeiten.
Beobachter: Der Begriff Naturgarten macht ja schon deutlich, dass es um Natur und nicht um Gestaltung gehen soll.
Rohrer: In den siebziger Jahren wurde die Naturgartenbewegung von Umweltaktivisten geprägt, die sich gegen eine «entfremdete Gartenkultur» wandten. Das war eine stark ideologische und bisweilen auch dogmatische Bewegung. Damals wollte man in den Gärten kleine Naturschutzgebiete einrichten.
Beobachter: Wann begann sich das zu ändern?
Rohrer: Mitte der achtziger Jahre brachte der Schweizer Pionier Andreas Winkler erstmals die soziale Komponente ins Spiel. Er fragte sich: Welche Bedürfnisse hat der Mensch? Wie bringt man diese mit dem Naturgartengedanken in Einklang? Unterdessen ist den meisten bewusst geworden, dass es keinen vollkommen natürlichen Garten gibt. Das ist ein Widerspruch in sich. Letztendlich ist auch ein Naturgarten gestaltete Natur.
Beobachter: Fühlt sich der Mensch in dieser wohler als in der freien Natur?
Rohrer: Wenn der Mensch im Garten Wege, Mauern, Sitzgelegenheiten, Lauben- und Wassergestaltungen anlegt, macht er sich die Natur zugänglich und erlebbar. Es ist gerade diese «Möblierung», die einen Garten für den Menschen einladend macht.
«Mit Wegen, Mauern, Sitzgelegenheiten, Lauben- und Wassergestaltungen macht man die Natur erlebbar.»
Pirmin Rohrer
Beobachter: Geht das nicht auf Kosten der Ökologie?
Rohrer: Dem Naturschutz ist womöglich ein grösserer Dienst getan, wenn man Gärten schafft, in denen sich der Mensch so wohl fühlt, dass er am Wochenende zu Hause auftankt, statt mit dem Auto ins nächste Naherholungsgebiet zu fahren.
Beobachter: Es ist erstaunlich, wie menschenleer viele Gärten an einem schönen Sommertag sind.
Rohrer: Vielen Menschen mangelt es an Fantasie. Sie kommen gar nicht auf die Idee, im Garten spätabends ein Glas Wein zu trinken, frühmorgens mit dem ersten Kaffee auf Entdeckungstour zu gehen, zu meditieren oder einfach zu faulenzen. Es entgeht ihnen, dass eine erblühende Nachtkerze in der Abenddämmerung genauso spannend sein kann wie ein Fussballmatch im Fernsehen. Oft fehlt den Menschen der Bezug zu ihrem grünen Reich. 
Beobachter: Kann gute Gartengestaltung das ändern?
Rohrer: Ich erzähle gern Geschichten. Zum Beispiel die vom Lungenenzian-Ameisenbläuling: Als junge Raupen leben diese Schmetterlinge in den Blütenköpfen des Lungenenzians. Im Lauf ihrer Entwicklung verlassen sie die Pflanze und lassen sich zu Boden fallen. Gewisse Ameisenarten tragen sie in ihr Nest, weil die Raupen Duftstoffe ausscheiden, die denen der Ameisenbrut ähneln. Dort füttern und pflegen die Ameisen sie, als wären sie deren eigene Larven. Die Raupen verpuppen sich und wandeln sich zu Faltern. Nach dem Schlüpfen müssen sie den Bau fluchtartig verlassen, um nicht als Futtertiere der Ameisen erkannt zu werden. Menschen lieben solche Geschichten und lernen: Der Schmetterling kommt nur in meinen Garten, wenn es dort Enzian und einen Ameisenhaufen gibt.
Beobachter: In Ihrem Schaugarten wachsen Palmen. Ist das nicht der Sündenfall im Naturgarten?
Rohrer: Nein, diese mexikanischen Palmen in Töpfen wecken Feriengefühle und können den Bezug zum Garten stärken. Wie andere Pflanzen auch, die mit bestimmten Gefühlen und Erinnerungen verbunden sind. Einer meiner Mitarbeiter wollte unbedingt eine Rizinuspflanze, also wächst nun eine solche bei uns. Warum sollte ich ihm diese Freude verderben?
Beobachter: Wann setzen Sie Exoten ein?
Rohrer: Auch ich pflanze am häufigsten einheimische Wildpflanzen. Ab August sieht man bei ihnen aber meist nur noch Fruchtstände, was ja sehr schön ist. Aber die Exoten können dann zusätzlich Farbe reinbringen. Natürlich verwende ich nur solche Pflanzen, die unproblematisch – also nicht invasiv – sind.
Beobachter: Zählen Rose oder Hortensie, die seit Jahrhunderten in unseren Gärten gedeihen, eigentlich zu den einheimischen Pflanzen?
Rohrer: Man bezeichnet sie als Kulturpflanzen. Viele Naturgärtner haben Mühe mit ihnen – aber ich verzichte nicht auf sie, weil sie einen Garten ästhetisch herausputzen können. In einem hinteren Gartenteil können grosse, weisse Tulpen wunderbar pompös sein. Sie fallen stärker auf als einheimische Wildtulpen. Oft ist gerade der Kontrast zwischen dem Opulenten und dem einheimischen Filigranen spannend. Man muss einfach darauf achten, dass man die Harmonie nicht stört.
Beobachter: Wie gelingt das?
Rohrer: Durch Weglassen. Man beschränkt sich etwa auf weisse und dunkelviolette Tulpen.
Beobachter: Sie integrieren Exoten in den naturnahen Garten. Gibt es umgekehrt einheimische Pflanzen, die Sie daraus verbannen?
Rohrer: Eine Hundsrose braucht sechs mal sechs Meter Platz – wer hat schon so viel? Wir haben kleinwüchsigere heimische Rosen. Auch ein einheimischer Hartriegel oder stark wuchernde Stauden und Gräser sind wenig sinnvoll.
Beobachter: Mir scheint, es fällt vielen Hobbygärtnern immer noch schwer, das Natürliche zuzulassen. Sie zwingen die Natur überall in Form. Teilen Sie diese Erfahrung?
Rohrer: Zu uns kommen Menschen, die grundsätzlich interessiert daran sind, sich auf die Natur einzulassen. Heute setzen wir im Naturgarten vermehrt formale Elemente mit klaren Formen ein, zum Beispiel Holzroste, Pergolen, Wasserkanäle oder stählerne Wasserbecken, geometrische Beläge oder Trockenmauerwerke. Die Strenge der baulichen Elemente vermittelt ein Gefühl der Ordnung, während die «unordentliche» vegetative Üppigkeit lauschig wirkt. Das hilft dem Menschen, das Natürliche zuzulassen.
Ökologischer Erholungsraum
Der Naturgarten – manchmal auch naturnaher Garten genannt – orientiert sich in der Bepflanzung und der Gestaltung an der Natur und der Ökologie. Naturgärtner verwenden vorwiegend einheimische Wildpflanzen und natürliche Materialien. In der Umsetzung wie im Unterhalt achten sie auf Umweltverträglichkeit. Der Naturgarten bietet Raum für die natürliche Entfaltung von Flora und Fauna und ist ein Erholungs- und Begegnungsraum für den Menschen. 2008 haben sich die Naturgärtner gemeinsam mit den Biogärtnern im Verein Bioterra zusammengeschlossen.
Naturgarten: Buntes Treiben rund ums Haus
Mit einfachsten Mitteln lässt sich der eigene Hausgarten in wertvollen Lebensraum für eine Vielzahl einheimischer Tier- und Pflanzenarten verwandeln.