So lebt die Grossfamilie 2.0
Es gibt immer mehr ältere Menschen, die Hilfe brauchen – wo sollen sie wohnen? Vielleicht in gemischten Siedlungen, wo alle einander unterstützen. Doch funktioniert das auch? Ein Realitätscheck.
Früher – ja, da hielt die Grossfamilie noch zusammen. Etwa um 1800 in der kleinen Genfer Gemeinde Jussy: Sozialleben und Unterstützung spielten sich dort im engeren Familienkreis ab und umfassten meist zwei Generationen. Die Eltern unterstützten ihre Kinder bei der Betreuung des Nachwuchses, die Kinder halfen später den Eltern im Alter. So beschreibt es das «Historische Lexikon der Schweiz». Heute gibt es diese Solidarität nicht mehr.
Falsch! Auch das zeigt das Lexikon: Nach wie vor seien die Solidaritätsnetze innerhalb der Familie wichtig und die Kernfamilien meist auch nicht von ihrer Verwandtschaft isoliert, ist dort nachzulesen. Und wer im Alter nicht auf ein familiäres Netz zurückgreifen kann oder möchte, hat heute Alternativen. Etwa das sogenannte Generationenwohnen: Mehrfamilienhäuser oder Siedlungen, wo ein ähnliches Zusammenleben wie früher anvisiert wird. Jung und Alt wohnen beisammen – Jung hilft Alt, Alt hilft Jung. Doch funktioniert diese Wohnform auch? Gibt es dafür genügend Nachfrage? Und wie sieht es in 20 Jahren aus?
Erste Projekte in den Achtzigerjahren
Mit diesen Fragen beschäftigt sich derzeit auch das ETH-Wohnforum in einem dreijährigen Forschungsprojekt. «Wir haben beobachtet, dass das Thema Generationenwohnen bei neuen Bauprojekten immer öfter auftaucht. Generationenwohnen wird unter anderem als zukunftsweisende Wohnform angepriesen», sagt Eveline Althaus, Sozialanthropologin und stellvertretende Leiterin des ETH-Wohnforums. «Also wollten wir dieses Phänomen einem Realitätscheck unterziehen.»
«Auch vor 17 Jahren mutete unsere Idee des Zusammenlebens noch ziemlich exotisch an.»
Kurt Lampart, 76, damals an der Planung für das Mehrgenerationenhaus beteiligt
‹‹‹Die ersten Projekte, die in diese Richtung gingen, tauchten in der Schweiz zwar Ende der Achtzigerjahre auf. «Doch auch vor 17 Jahren mutete unsere Idee noch ziemlich exotisch an», sagt Kurt Lampart. Der heute 76-Jährige war damals in der Planung für das Mehrgenerationenhaus Giesserei in Winterthur ZH dabei. Eröffnet wurde die Siedlung der Genossenschaft Gesewo mit 151 Wohnungen sowie rund 340 Bewohnerinnen und Bewohnern 2013. Noch heute ist die Siedlung ein stark beachtetes Pionierprojekt des Generationenwohnens. Kurt – in der Giesserei ist man schnell per du – lebt noch immer hier und amtet als Leiter Ressort Führungen und Studienbegleitungen.
Die selbstverwaltete Siedlung setzte sich ursprünglich das Ziel, dass die Altersdurchmischung dem schweizerischen Durchschnitt entspricht. «Das haben wir nicht in jeder Altersgruppe erreicht», sagt Kurt. Vor allem bei den 25- bis 34-Jährigen klafft bis heute ein Loch. Überproportional vertreten sind dafür Kinder und die 75- bis 79-Jährigen. Mit dem Problem ist die Giesserei nicht allein: Das ETH-Wohnforum hat im Rahmen seines Forschungsprojekts festgestellt, dass vor allem bei der Altersgruppe 60 plus eine grosse Nachfrage nach dieser Wohnform besteht.
Wie in Griechenland
Zu dieser Altersgruppe gehört die 89-jährige Ulla Hintermüller. Sie lernte die Giesserei eher zufällig bei einem Besuch von Bekannten kennen. «Ich war von Anfang an von der Atmosphäre hier begeistert. Die vielen jungen Leute, die Kinder – mir war klar: Hier will ich wohnen.» Das Haus auf dem Land wurde verkauft, seit neun Jahren wohnt Ulla zusammen mit ihrem Partner Daniel Beck, 90, hier. Anders die Familie von Maria Frantzis, 42: Weil sie genau dieses selbstverwaltete Generationenwohnen gesucht hatte, zog sie 2016 mit Partner Nyima Tsering, 34, und Sohn Loïc, 8, in die Giesserei, später kam Sohn Yann, 5, zur Welt. «Dass man sich über die Generationen hinweg hilft, entspricht meiner südländischen Herkunft», sagt die aus Griechenland stammende Maria. «Ausserdem ist diese Wohnform nicht nur für mich, sondern auch für die Sozialisation unserer Kinder wahnsinnig spannend und bereichernd.»
«Als mein Partner schwer erkrankt war, kamen so viele Hilfsangebote, dass ich einen Zettel an die Wohnungstür hängen musste: ‹Bitte nicht stören›.»
Ulla Hintermüller, 89
Die Nachbarschaftshilfe scheint in der Giesserei recht gut zu funktionieren – auch über die Generationen hinweg. Maria erzählt, dass Angebote, Kinder zu hüten, aktiv von der älteren Bewohnerschaft kämen und sie diese auch schon in Anspruch genommen habe. Umgekehrt haben die Jüngeren während der Pandemie zum Beispiel das Einkaufen für die ältere Generation übernommen. Auch Ulla erlebte die Hilfsbereitschaft im Haus erst kürzlich wieder eins zu eins. Als ihr Partner schwer erkrankt war, musste sie eine Zeitlang sogar einen Zettel mit der Aufschrift «Bitte nicht stören» an der Wohnungstür anbringen. Denn die vielen Hilfsangebote überforderten sie. «Trotzdem tut es natürlich gut», sagt Ulla.
Auf einen Punkt möchte die 89-Jährige besonders hinweisen: «Indem man sich in der Gemeinschaft tatkräftig engagiert, solange es die Gesundheit zulässt, legt man den Grundstein dafür, später die nötige Hilfe auch annehmen zu können.» Damit die gegenseitige Hilfe funktioniert, müsse man sich aber schon persönlich kennen, ist die ehemalige Kindergärtnerin überzeugt.
Pantoffelbar und Vollmondsuppe
Das kann Eveline Althaus vom ETH-Wohnforum bestätigen. Allerdings müsse man erst einmal in Kontakt kommen, um eine persönliche Beziehung aufzubauen. «Die Nachbarschaftsforschung zeigt, dass Personen, die sich sozial nahestehen, leichter zueinanderfinden», sagt Althaus. Das Alter spiele dabei eine weniger wichtige Rolle als Faktoren wie gemeinsame Interessen, ähnliche Ansichten oder gegenseitige Sympathie. «Nachbarschaftliche Hilfe per Reglement verordnen kann man aber nicht.» Vielmehr müssten hierfür geeignete Strukturen geschaffen werden. Das beginnt schon bei einer gemeinschaftsfördernden Architektur und Umgebungsgestaltung: Briefkastenbereiche, Treppenhäuser, Laubengänge oder Innenhöfe, die so gestaltet sind, dass sie spontane Begegnungen fördern.
Auch Gemeinschaftsräume gehören dazu. So verfügt die Giesserei über einen Saal, eine Waschküche mit Nähmöglichkeiten, Werkstätten, einen Musikübungsraum oder die sogenannte Pantoffelbar. Letztere wird auch von Ulla und Maria sehr geschätzt. Die über 65-jährige Bewohnerschaft sitzt dort etwa beim Dienstagsclub zusammen, oder man trifft sich altersunabhängig bei Apéros oder Vollmondsuppe. «Dabei wird zusammen gekocht, und man kommt leicht in den Austausch mit anderen Bewohnerinnen und Bewohnern», sagt Ulla.
Natürlich kann der soziale Anspruch, den solche Wohnprojekte haben, auch zu Spannungen oder Konflikten führen. «Etwa wenn die eigenen Erwartungen an die Gemeinschaft nicht erfüllt werden», sagt Eveline Althaus von der ETH. Bereits Einzelpersonen, die sich nicht an die Regeln halten, können verfahrene Situationen provozieren. Ein grösseres Wohnprojekt in Genf zum Bei-
spiel bietet deshalb den Bewohnerinnen und Bewohnern Kurse in gewaltfreier Kommunikation an.
Kein Ersatz für die Spitex
Immer wieder hört man, dass solche Generationenwohnprojekte der Lösungsansatz für die fortschreitende Überalterung der Bevölkerung sein könnten – gerade wenn Plätze in Alterszentren immer rarer werden. «Hier klaffen Anspruch und Realität schon etwas auseinander», so Eveline Althaus. Natürlich könne der Umzug in ein Generationenwohnhaus den Eintritt in ein Alterszentrum hinauszögern – allein aufgrund der Barrierefreiheit solcher Wohnungen und auch dank der Nachbarschaftshilfe, die ja tatsächlich oft recht gut funktioniere. «Aber diese Hilfe kann natürlich immer nur begrenzt sein.» Eine professionelle Pflegehilfe für zu Hause, wie etwa die Spitex, kann die Nachbarschaft nicht ersetzen.
«Es ist sehr anspruchsvoll, in einer solchen Siedlung die richtige Altersdurchmischung hinzukriegen.»
Eveline Althaus, stellvertretende Leiterin des ETH-Wohnforums
Wenn es, wie in der Giesserei, schon von Anfang an schwer ist, eine adäquate Altersdurchmischung hinzubekommen – wie möchte man das dann für die kommenden zehn, zwanzig Jahre schaffen? «Das ist tatsächlich sehr anspruchsvoll», sagt Althaus. Wenn man bei neuen Wohnungsvergaben nicht konsequent auf den gewünschten Altersmix achte, entstünden schnell homogene Gruppen. Begünstigt wird die richtige Durchmischung aber auch durch die Architektur, sprich: den passenden Mix unterschiedlicher Wohnungsgrössen und Grundrisstypen. Laut Althaus ist die aktive Beeinflussung der Altersstruktur in grösseren Siedlungen ab rund 60 Wohnungen etwas einfacher. Dort gibt es mehr Fluktuation, daher kann immer wieder steuernd eingegriffen werden.
Das tut man auch in der Giesserei. «Wir haben ein ausgeklügeltes Reglement zur Wohnungsvergabe», sagt Kurt Lampart. Nur eines von vielen Vergabekriterien ist die Altersdurchmischung – diese soll der Demografie der Schweiz Rechnung tragen. Kurt ist sich bewusst: «Es gibt diverse Stolpersteine. Wo wir in zehn Jahren stehen werden, hängt von so vielem ab.» So zeichnet sich aufgrund der derzeitigen Altersstruktur ab, dass der Anteil der über 80-Jährigen in der Giesserei künftig überproportional steige. «Das Generationenwohnen ist halt noch immer in der Experimentierphase, hat aber Zukunft», sagt Kurt.
Eveline Althaus von der ETH kommt zu einem ähnlichen Schluss: «Solidarisches Zusammenleben im Wohnkontext ist meines Erachtens schon zukunftsweisend.» Man müsse vielleicht einfach noch etwas weiter denken als bisher und in solchen Projekten beispielsweise vermehrt auch andere Haushaltsformen wie Wohnungen für Einzelpersonen und Paare ohne Kinder oder für Wohngemeinschaften bereitstellen. In der Giesserei ist das bereits der Fall.