Kann eine Wohnung krank machen?
Wohnpsychologin Nicole Zülli zur Frage, wie sich moderne Wohnformen auf das Wohlbefinden auswirken – und über einen Einrichtungstrend, den sie mit einer Foltermethode assoziiert.
Veröffentlicht am 22. September 2016 - 13:43 Uhr
Beobachter: Immer wieder hört man, dass die Einrichtung unserer Wohnung der Spiegel unserer Seele sei. Weiss ich also genau, wer Sie sind, wenn ich nur einen Blick in Ihre Wohnung werfe?
Nicole Zülli: Nein. Natürlich ist die Art, wie wir wohnen, kaum zufällig – genauso wenig wie die Art, uns zu kleiden oder unsere Freizeit zu verbringen. Das hat alles mit unserer Persönlichkeit zu tun. Insofern sagt das Wohnen schon etwas über uns aus, aber als Spiegel unserer Seele würde ich es nicht gleich bezeichnen.
Beobachter: Die Wohnungseinrichtung könnte ja auch nur eine Inszenierung sein, die zeigt, wie man gern gesehen werden möchte.
Zülli: Klar. Aber das ist bis zu einem gewissen Grad ja auch normal. Man hat Idealvorstellungen, will vielleicht die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe signalisieren, hat Wünsche, wie man sich entwickeln möchte – und dementsprechend wird dann auch eingerichtet. Insofern verrät auch eine Inszenierung etwas über die Bewohner.
«Je persönlicher das Zuhause eingerichtet ist, desto mehr fühlt man sich dort daheim.»
Nicole Zülli, Wohnpsychologin
Beobachter: Was braucht es, damit wir uns in den eigenen vier Wänden zu Hause fühlen?
Zülli: Unser Daheim ist ein Ort, wo es nichts Neues und Ungewisses gibt. Das gibt uns ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit und trägt somit massgeblich zum Wohlbefinden bei. Ausserdem ist es weniger anstrengend.
Beobachter: Inwiefern?
Zülli: Man kennt das vom Reisen: An neuen Orten müssen wir uns jeweils erst zurechtfinden und einrichten, um uns sicher und wohl zu fühlen. Das kostet Energie. Wenn der Mensch ein konstantes Zuhause hat, kann er diese Energie für anderes verwenden.
Beobachter: Ist das die einzige Voraussetzung für das Wohlbefinden?
Zülli: Nein. Der Mensch hat beispielsweise auch das jahrtausendealte Bedürfnis, seine Umwelt zu gestalten. Die Wohnpsychologie spricht hier von «Aneignung». Kurz gesagt: Je persönlicher das Zuhause eingerichtet ist, desto mehr fühlt man sich dort daheim. Das setzt sich übrigens auch im Wohnumfeld fort.
Beobachter: Sie meinen in der unmittelbaren Nachbarschaft und im Quartier?
Zülli: Genau. Aneignen heisst eben auch: einen Raum nutzen. Erst mit der Nutzung entsteht eine emotionale Verbindung. Deshalb ist es wichtig, dass es in einem Quartier Räume mit vielen Nutzungsmöglichkeiten gibt – etwa einen Park mit schönen Sitzmöglichkeiten und Wegen, mit einem Spielplatz und Grillmöglichkeiten. Durch die emotionale Bindung fühlen sich die Leute dann auch eher für den entsprechenden Raum verantwortlich.
Beobachter: Dort könnte man auch andere Quartierbewohner treffen. Welche Rolle spielen soziale Kontakte für das Wohlbefinden?
Zülli: Eine sehr grosse. Neben dem Grundbedürfnis nach Privatsphäre gibt es auch dasjenige nach sozialen Kontakten. Ein gutes Wohnumfeld bietet beides. Leider wird heute aber der Fokus zu sehr auf die Privatsphäre gelegt und entsprechend gebaut. Wenn etwa in einem Mehrfamilienhaus die Gänge sehr eng gestaltet sind, lässt das kaum Raum für spontane Gespräche. Oft fehlen zudem gemeinschaftliche Räume, und auch bei den Grünflächen achtet man meist nicht darauf, dass sie möglichst einladend sind, sondern günstig und pflegeleicht.
«Wir haben einen Trend zu spärlich eingerichteten, fast schon musealen Räumen.»
Nicole Zülli, Wohnpsychologin
Beobachter: Es gibt auch Gegentrends. Etwa bei der Siedlung Kalkbreite in Zürich, wo der private Raum kleiner gehalten wird – zugunsten von mehr gemeinschaftlichem. Ist das zukunftsträchtig?
Zülli: Es wäre aus wohnpsychologischer Sicht auf jeden Fall eine wünschenswerte Entwicklung – gerade weil dort dem sozialen Aspekt eine höhere Bedeutung zugemessen wird. Und obwohl solche Projekte zwar eine relativ künstliche Nachbildung eines Dorfs sind, kann der vermehrte Kontakt zu den Nachbarn sehr förderlich sein und präventiv gegen Stress wirken. Wichtig ist dort aber auch, dass die privaten Bereiche gut von den öffentlichen getrennt sind – damit auch ein Rückzug möglich ist. Ob sich solche Wohnformen durchsetzen werden, bezweifle ich aber. Bis jetzt ist das ja eher eine Nische, die vor allem von Wohnbaugenossenschaften abgedeckt wird.
Beobachter: Sie haben erwähnt, dass ein gutes Wohnumfeld auch eine präventive Wirkung habe. Kann die Wohnung einen auch krank oder depressiv machen?
Zülli: Das falsche Wohnumfeld beziehungsweise die ungemütliche Wohnungseinrichtung allein nicht. Es stellt aber eine zusätzliche Belastung dar, die zusammen mit anderen Stressfaktoren zu körperlichen oder psychischen Problemen führen kann.
Beobachter: Kann man denn sagen, wie die richtige, die «gesunde» Wohnungseinrichtung aussieht?
Zülli: Natürlich kann das die Wissenschaft so allgemein nicht beantworten. Neben den Grundbedürfnissen gibt es zum Beispiel auch noch das Bedürfnis nach dem richtigen Reizniveau.
Beobachter: Das hört sich ziemlich negativ an. Ich möchte doch so wenig Reiz und so viel Ruhe wie möglich.
Zülli: Eigentlich nicht. Der Mensch braucht aufgrund seiner evolutionären Prägung ein gewisses Reizniveau, um gut zu funktionieren. Derzeit haben wir ja den Trend zu spärlich eingerichteten, fast schon musealen Räumen, mit wenig Farbe und kühlen Materialien. Das ergibt einen Raum, der sehr reizreduziert ist. Kurzfristig kann dies zwar einen erholsamen Effekt haben. Wenn das Reizniveau aber über längere Zeit zu gering ist, wird man sich nicht mehr wohl fühlen. Die totale Reduzierung von Reizen wird ja auch als Foltermethode angewendet: Eingesperrt sein in ein völlig weisses, leeres Zimmer ohne Fenster, ohne Geruch, ohne Geräusche – das greift die Psyche eines jeden Menschen massiv an.
Beobachter: Gibt es auch das Gegenteil: eine zu grosse Reizüberflutung? Etwa zu viel Schnickschnack?
Zülli: Hier ist sich die Wissenschaft uneinig. Es gibt Studien, die von einer möglichen Überstimulation sprechen. Andere Forscher hingegen glauben, dass eine Reizüberflutung kaum möglich ist – nur schon weil die Natur selbst ja extrem viele Reize bietet. Apropos Natur: Bei der Einrichtung sollte man auch den Aussenraum einbeziehen. Ein relativ leeres, reizarmes Zimmer, das aber einen Ausblick in die Natur bietet, fühlt sich viel gemütlicher an, als wenn der Blick nur auf eine Betonmauer geht.
Zur Person
Nicole Zülli, 32, lebt und arbeitet in Sursee LU. Sie verfügt über den Master in Psychologie der Universität Basel, ist Wohnpsychologin AAP (Österreichische Akademie für Psychologie) und Mitglied des österreichischen Instituts für Wohn- und Architekturpsychologie (IWAP). Sie bietet Beratungen im wohnpsychologischen Bereich an.