Das Bundesgericht hat am 5. Mai 2023 einen wegweisenden Entscheid gefällt. Personen, die als Kind von ihren Eltern unter Zwang weggenommen und zur Adoption freigegeben wurden, haben ein Anrecht auf den Solidaritätsbeitrag Wiedergutmachung Behördenopfer können Entschädigung beantragen , der Opfern von sogenannt fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen zusteht. Bisher wies das Bundesamt für Justiz solche Gesuche stets zurück. Nur die Mütter, die von Behörden zur Adoption gedrängt oder gezwungen wurden, bekamen eine finanzielle Wiedergutmachung. Jetzt muss der Bund seine Praxis ändern.

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Das Bundesgericht hatte über den Fall eines heute 56-jährigen Mannes zu entscheiden. Die Behörden hatten ihn als Kind von seiner Mutter weggenommen. Im Alter von zweieinhalb Jahren wurde er 1967 von einer Pflegefamilie adoptiert. Dort wurde er während Jahren regelmässig geschlagen und musste wie ein Knecht schuften. So, wie es vielen Kindern erging Administrativ Versorgte und fürsorgerische Zwangsmassnahmen Die Kinder von einst «Versorgten» leiden bis heute , die von den Behörden fremdplatziert und «verdingt» wurden. Bis Anfang der Achtzigerjahre drängten die Behörden vielfach ledige Mütter zur Adoption, oft weil diese den geltenden gesellschaftlichen Moralvorstellungen nicht entsprochen hatten.

Zwangsadoptierte gingen bisher leer aus

Im Jahr 2018 beantragte der Mann für das erlittene Unrecht vom Bund eine Entschädigung. Er berief sich dabei auf das Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981. Es sieht für Opfer solcher Massnahmen eine einmalige Entschädigung von 25’000 Franken vor.

Das Bundesamt für Justiz lehnte sein Gesuch jedoch ab. Zwar sah es als erwiesen an, dass die Behörde die Mutter gezwungen hatte, ihr Kind zur Adoption freizugeben. Und auch, dass der Mann von seinen Adoptiveltern Gewalt und Missbrauch erlitt. Aber: Bei Zwangsadoptionen könne nur die Mutter als Opfer des Staates betrachtet werden, befand das Bundesamt. Das adoptierte Kind hingegen nicht. Nach der Adoption durch eine Pflegefamilie sei es nicht mehr in der Obhut des Staates gewesen. Erfolgte die Misshandlung nach der Adoption, bestehe kein Anrecht auf eine Entschädigung.

Entschädigung für erlittenes Unrecht

Gegen diesen Entscheid erhob der Mann Einsprache, die das Bundesamt für Justiz jedoch abwies. Der Mann zog weiter vor das Bundesverwaltungsgericht, und dieses gab ihm recht. Das Gericht urteilte, er habe sehr wohl Anspruch auf die Entschädigung. Gegen dieses Urteil zog wiederum das Bundesamt für Justiz vor Bundesgericht, und dieses fällte nun den endgültigen Entscheid.

Damit sind neu auch Kinder, die gegen den Willen der Mütter zur Adoption gelangten und von einer Pflegefamilie adoptiert wurden, als vom Staat Fremdplatzierte zu betrachten. Falls sie bei ihrer neuen «Familie» Unrecht erlitten, schuldet der Bund ihnen eine Entschädigung im Sinne des Bundesgesetzes. Gleich wie allen anderen Opfern staatlicher Zwangsmassnahmen vor 1981, die verdingt, in Heime gesperrt, administrativ versorgt oder in Fabriken ausgebeutet Ein weiteres dunkles Kapitel der Schweizer Geschichte Zwangsarbeit für Emil Bührle wurden. Das Bundesamt für Justiz habe «formal-juristisch», nicht aber im Sinn und Zweck des Bundesgesetzes für die Opfer von staatlichen Zwangsmassnahmen argumentiert, heisst es im Urteil des Bundesgerichts.

Gemäss David Furger, dem Anwalt des Mannes, hat das Urteil des Bundesgerichts Präjudiz-Charakter. Der Bund muss seine bisherige Praxis ändern. Wie viele Personen davon betroffen sind, ist nicht klar. Das Bundesamt für Justiz habe keine Zahlen genannt, aber deutlich gemacht, dass es bisher regelmässig Entschädigungsanträge von adoptierten Opfern abgewiesen habe. «Sie alle rufe ich auf, sich nochmals beim Bundesamt für Justiz zu melden, ihr Recht geltend zu machen und den Solidaritätszuschlag einzufordern», sagt Anwalt Furger.

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