Zürich, 7.52 Uhr: Riccardo Trombini braucht eine grosse Tasse Kaffee, um in die Gänge zu kommen. Am Vorabend hatte er einen Geistesblitz und startete um 23 Uhr nochmals den Laptop, um seine Idee festzuhalten. Nun sitzt der Informatiker im Büro des Zürcher Jungunternehmens Starmind und klickt sich durch IT-Blogs. Seine E-Mails hat er bereits im Tram gecheckt – die Fahrzeit will genutzt sein, findet er. Zeiterfassung? Kennt der 30-Jährige nicht.
Zollikofen, 8.00 Uhr: Thomas Stauffer stellt sein Velo in der Garage ab, kramt aus dem Rucksack das Portemonnaie und hält es ans schwarze Kästchen beim Eingang des Bürohauses. Das System registriert 8.00 Uhr im Zeitkonto des Projektleiters. Sein Arbeitstag im Bundesamt für Informatik und Telekommunikation beginnt. Im Büro im vierten Stock sucht er sich einen Arbeitsplatz und fährt den Laptop hoch. Er sieht die Mails durch und macht sich an die Detailplanung eines aktuellen Projekts.
Es war nur eine Frage der Zeit, dass es eskalieren würde. Am 11. September 2013 marschierten ein Arbeitsinspektor und ein Jurist bei Goldman Sachs in Zürich ein. Die Investmentbank war angezeigt worden – vom Schweizerischen Bankpersonalverband. Insidern zufolge hat die Bank weder systematisch Arbeitszeiten aufgezeichnet noch sich an die gesetzlich vorgeschriebene Kompensation von Überzeit gehalten. Die Ermittlungen sind mittlerweile abgeschlossen, das Verfahren läuft aber noch.
Ein Verstoss gegen das Arbeitsgesetz wäre kein Einzelfall, sagt Peter Meier, Präsident des Interkantonalen Verbands für Arbeitnehmerschutz. «Heute kennt kaum noch jemand das Arbeitsgesetz, und die Arbeitszeit wird generell immer weniger erfasst. Und das Gesetz ist ein Flickwerk aus Vorschriften, Ausnahmen und Ausnahmen von Ausnahmen. Deshalb ist es enorm schwer verständlich.» Inzwischen sind weitere Personalverbände dem Beispiel des Bankpersonalverbands gefolgt. Auch die Verlagshäuser Ringier und Tamedia haben Verfahren am Hals.
Tatsächlich erfasst jeder sechste Angestellte seine Arbeitszeit nicht. Das zeigt eine Studie des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) aus dem Jahr 2012. Besonders prekär ist es bei Banken, Versicherungen und Medienhäusern. Bei ihnen klaffen Praxis und Recht weit auseinander. Gemäss Arbeitsgesetz dürfen in der Schweiz weder Firmen noch Angestellte frei wählen, ob sie ihre Arbeitszeit rapportieren oder nicht. Die tägliche und wöchentliche Arbeitszeit muss festgehalten werden, zudem Arbeitsbeginn, Arbeitsende, Überzeit und Pausen. Von der Aufzeichnungspflicht befreit waren bislang vor allem die obersten Führungskräfte, selbständig erwerbende Künstler und Wissenschaftler. In der Schweiz verstossen somit Hunderttausende Jobs gegen das Arbeitsgesetz und seine Verordnungen.
Das hat auch die Bundesbehörde erkannt. Bei Verhandlungen mit Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern versuchte sie, das Gesetz an die heutige Realität anzugleichen. Bisher ohne Erfolg. Letzten Sommer begrub das Seco seinen Vorschlag, dass Angestellte mit einem Jahreslohn von über 175'000 Franken ihre Arbeitszeit nicht mehr erfassen müssen. Bis eine definitive Lösung gefunden ist, gilt seit Januar eine Übergangsregelung: Firmen müssen die Arbeitszeit für einzelne Angestellte nicht mehr lückenlos dokumentieren. Das täglich geleistete Stundentotal reicht. Die Lockerung gilt – mit vielen Zusatzkriterien – für Kaderleute, vollamtliche Projektleiter und Mandatsträger.
Ein Grossteil der Schweizer Arbeitnehmenden arbeitet mit festen Arbeitszeiten oder flexibel mit Zeiterfassung. Anteil der Beschäftigten in Prozent.
«Ich bin mit meiner Arbeitszeitregelung sehr zufrieden oder zufrieden»: Anteil der Beschäftigten in Prozent
Zollikofen, 10.06 Uhr: Thomas Stauffer kauft sich in der Kantine einen Kaffee, liest den «Bund». Ein Arbeitskollege setzt sich zu ihm. Sie diskutieren über den Fussballmatch vom Vorabend. Ausgestempelt hat Stauffer nicht. Muss er auch nicht. Gemäss Bundespersonalrecht steht ihm eine halbe Stunde Pause zu – 15 Minuten am Morgen, 15 Minuten am Nachmittag. Die Pausenzeit funktioniert auf Vertrauensbasis. Es gibt Zeiten, da verzichtet der 43-Jährige auf sie. Gut sei das nicht. Von Zeit zu Zeit ein kurzer Unterbruch wirke sich positiv auf die Gesundheit aus und sei deshalb sinnvoll, sagt der Projektleiter.
Zürich, 10.20 Uhr: Riccardo Trombini geht zum gedeckten Tisch im Aufenthaltsraum. «Breakfast for Champions» nennt das junge Team die zweiwöchentlich stattfindende «Sitzung». Heute informieren die Chefs über die Expansion nach Deutschland.
Flexible Arbeitszeiten ohne jede Zeiterfassung: Viele Angestellte befürworten das mit dem Argument, Familie oder Hobby und Beruf liessen sich so besser abstimmen. In einer Metastudie fanden angelsächsische Forscher Hinweise, dass es sich positiv auf das Wohlbefinden auswirkt, wenn man die Arbeitszeit selber bestimmen kann. Auch die im Auftrag des Seco durchgeführte Studie zu flexiblen Arbeitszeiten belegt: Angestellte, die ihre Arbeitszeit nicht erfassen müssen, sind mit ihrer Arbeit am zufriedensten.
Für Daniella Lützelschwab vom Schweizerischen Arbeitgeberverband bestätigt das, was sie täglich von Angestellten hört: «Viele sehen ihre Pflicht nicht darin, fünfmal die Woche acht Stunden lang im Büro zu sitzen, sondern ihre Aufgaben gut und effizient zu erledigen.» Deshalb fordert der Arbeitgeberverband, dass leitende Angestellte oder solche mit grosser Flexibilität in der Jobgestaltung ihre Arbeitszeit nicht mehr erfassen müssen. Pauschale Aussagen, wer genau zu dieser Gruppe zählen soll, seien aber kaum möglich, gesteht Lützelschwab. «Die Kriterien ändern sich von Branche zu Branche, von Region zu Region, von Firma zu Firma.» Der Arbeitgeberverband will daher Modelle für die einzelnen Branchen finden.
Neue Technologien haben den Alltag verändert. Strikte Trennung von Arbeit und Privatleben sei kaum mehr realistisch, findet Lützelschwab. «Die meisten beantworten während der Arbeitszeit private Mails; im Gegenzug schauen sie in der Freizeit auch mal geschäftliche Nachrichten an.» Da Minuten aufzuschreiben sei wenig sinnvoll.
Anteil der Beschäftigten in Prozent, die mehr arbeiten als vertraglich vereinbart
Anteil der Beschäftigten in Prozent, deren Mehrarbeit im Betrieb erfasst wird.
Zürich, 12.03 Uhr: Riccardo Trombini hat an Richtlinien zum Umgang mit Kundendaten gearbeitet. Fürs Mittagessen geht er hinüber in den Aufenthaltsraum. Eine Hotdog- und eine Sandwichmaschine stehen bereit, zwei Mitarbeiterinnen bereiten sich Salate zu. Nach dem Essen spielt Trombini mit einem Kollegen eine Partie Fussball auf der Playstation – um den Kopf zu lüften.
Zollikofen, 12.20 Uhr: Thomas Stauffer hat eine lange Sitzung hinter sich. Jetzt macht er sich auf in die Kantine und hält am Eingang sein Badge ans Erfassungsgerät. Er kann Mittagspause machen, wann er will. Allerdings zieht ihm das System nach sieben Stunden Arbeitszeit automatisch eine halbe Stunde ab, falls er nicht ausstempelt. Stauffer findet das eine gute Sache. So komme man weniger in Versuchung durchzuarbeiten – und die Gespräche mit den Kollegen in der Kantine täten gut.
Luca Cirigliano vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund sieht zwar die Vorteile flexibler Arbeitszeiten. Aber gerade deshalb müsse die Arbeitszeiterfassung verstärkt statt abgeschafft werden. Mit Apps und Computertools lasse sich die gearbeitete Zeit heute schnell, einfach und überall erfassen. Für ihn ist klar: Es braucht die Arbeitszeiterfassung zum Schutz der Arbeitnehmenden. Vor der Firma – aber auch vor sich selbst. «Das Risiko der Selbstausbeutung ist in unserer Gesellschaft sehr hoch», so Cirigliano. Ein Blick in die Statistik zeigt: Die Zahl psychischer Erkrankungen aufgrund von Berufsarbeit steigt seit Jahren. Die Kosten für Arztbesuche und Produktionsausfälle aufgrund von Stressleiden belaufen sich auf mehr als vier Milliarden Franken pro Jahr. Faktoren wie das Arbeiten in der Freizeit oder eine tägliche Arbeitszeit von mehr als zehn Stunden (mindestens ein- bis zweimal pro Woche) sind laut der Seco-Studie zu Stress bei Erwerbstätigen besonders riskant.
«Ein überdurchschnittliches Engagement mag zu Beginn der Karriere für einige Jahre gutgehen», sagt Gewerkschafter Cirigliano. «Doch sobald das Privatleben mehr von einem fordert, etwa weil man eine Familie gründet oder im Alter mit gewissen Beschwerden zu kämpfen hat, machen sich die Menschen damit krank.» Der Zürcher Arbeitsinspektor Peter Meier beobachtet das bei seinen Kontrollen in Betrieben regelmässig: «Wo es keine Arbeitszeiterfassung gibt, wird mehr gearbeitet.» Und wo viel gearbeitet werde, nehme die Gefahr von Burn-outs und anderen Erkrankungen zu.
Arbeitszeiterfassung als Rezept gegen Burn-outs? Daniella Lützelschwab vom Arbeitgeberverband warnt vor simplen Schlussfolgerungen: «Die Zahl der Burn-out-Fälle ist alarmierend hoch. Doch es wäre verkürzt, zu glauben, Arbeitszeiterfassung sei das Allheilmittel dagegen.» Die Burn-out-Zahlen seien ja trotz gesetzlich verankerter Arbeitszeiterfassung gestiegen – auch bei Menschen, die ihre Arbeitszeit erfassen.
«Gehen Sie auch zur Arbeit, wenn Sie krank sind?»; Selbstaussagen von Schweizer Angestellten in Prozent.
«Wie oft haben Sie wegen Krankheit im letzten Jahr gefehlt?»; Fälle von mehr als 25 Krankheitstagen wurden nicht berücksichtigt.
Zürich, 15.01 Uhr: Riccardo Trombini ist im «Tunnel». So nennen Informatiker den Zustand, wenn sie völlig in ihrer Arbeit versinken. Kein Blick links, kein Blick rechts. An Pause ist nicht zu denken. Trombini kennt aber auch andere Phasen – in denen er unproduktiv ist, sich nicht richtig konzentrieren kann. Dann organisiert er auch mal vom Büro aus ein Geschenk für seine Freundin – oder setzt sich zwei Stunden in die Sonne. Seine Devise: produktive Phasen nutzen, ohne auf die Uhr zu schauen, und in unproduktiven nichts erzwingen. Dem 30-Jährigen ist bewusst, dass sich bei ihm Privates stark mit der Arbeit vermischt. Er findet es völlig in Ordnung: «Jedenfalls besser, als jeden Tag Zeit mit Aufschreiben zu vertrödeln, wann man genau anfängt zu arbeiten und wann man Pause macht.»
Zollikofen, 16.05 Uhr: Thomas Stauffer kommt von der Pause zurück. Auf dem Weg in den vierten Stock ruft er noch schnell daheim an. Er arbeitet seit 15 Jahren für den Bund. Früher gab es fixe Blockzeiten. Er schätze es sehr, dass er heute freier entscheiden könne, wann er kommt und wann er geht. Ihm ist wichtig, Arbeit und Privates zu trennen. Wenn er freihat, ist er bei Notfällen telefonisch erreichbar. Die Geschäftsmails auf seinem Handy prüft er aber nur, wenn es wegen eines aktuellen Projekts wirklich nötig ist. Will Stauffer nach 20 Uhr oder am Wochenende arbeiten, muss er das im Voraus vom Chef bewilligen lassen. Das sei gut so: «Mir ist es wichtig, fit zu sein und Energie für die Arbeit zu haben. Das gelingt nur, wenn ich zwischendurch abstellen kann.» Das ist ganz im Sinne seines Arbeitgebers, der verhindern will, dass die Angestellten Berge von Überstunden anhäufen.
Der Zusammenhang zwischen Arbeit, Stress und Krankheit ist kompliziert. Klar ist aber: Wenn man sich ausgebrannt fühle, hänge das nicht zwingend damit zusammen, ob man die Arbeitszeit erfasse und Überstunden leiste, sagt der Badener Arbeitsmediziner Dieter Kissling. Das zeige sich etwa darin, dass die Generation unserer Grosseltern häufig zwölf Stunden am Tag an sechs Tagen die Woche arbeitete – und psychische Folgeerkrankungen nie das heutige Ausmass erreichten. Ein weiteres Beispiel sei die hohe Burn-out-Rate bei Lehrpersonen – trotz geregelter Arbeitszeit.
Kissling ist Inhaber des Instituts für Arbeitsmedizin, das im Auftrag von Firmen die Gesundheit von Angestellten untersucht: «Stress hat viele Ursachen. Die Chefs, ihr Führungsstil und die Unternehmenskultur spielen eine wichtige Rolle.» Auch Schlaf und Pausen seien elementar.
«Nicht alle Angestellten schaffen es, sich selbst Grenzen zu setzen», sagt Kissling. Deshalb müssten das die Firmen tun. Ein gutes Beispiel sei der Autokonzern VW. Dieser beschloss vor drei Jahren, die E-Mail-Funktion der Geschäftshandys 30 Minuten nach Feierabend zu stoppen und erst eine halbe Stunde vor Beginn des folgenden Arbeitstags wieder zu aktivieren. Auch in den Ferien sollte es laut Kissling absolut tabu sein, die Mitarbeitenden zu stören.
«Der Markt wird Firmen in diese Richtung treiben, denn psychische Erkrankungen führen für sie zu hohen Folgekosten», meint Kissling. Generell werde die Gesundheitsvorsorge in Zukunft ein noch wichtigerer Vorteil im Wettbewerb um die besten Mitarbeiter sein. «Bis diese Mechanismen jedoch voll spielen, werden noch viele Menschen krank werden.»
Sinnvoll wäre es, wenn Firmen ihre Angestellten regelmässig medizinisch untersuchen lassen müssten. Aber das sei zu aufwendig und zu teuer, sagt der Arbeitsmediziner. Also bleibe – bis alle Chefs gelernt hätten, auf ihre Mitarbeitenden zu achten – doch nur der Ausweg, die Arbeitszeit zu erfassen. «Das allein macht den Angestellten zwar nicht gesünder. Aber zu lange Arbeitszeiten schaden seiner Gesundheit.» Es sei unsinnig, gewisse Berufszweige, Kaderstufen oder Einkommensklassen von der Arbeitszeiterfassung auszunehmen: «Alle können durch Arbeit krank werden – auch leitende Angestellte.»
Den Workaholics allerdings wird auch die gesetzliche Pflicht, die Arbeitszeit zu notieren, nicht helfen. Kissling trifft immer wieder Angestellte, die im Gesundheitsfragebogen angeben, sich gesund und fit zu fühlen. «Wenn wir dann den Stress mittels eines 24-Stunden-EKGs messen, zeigt sich oft, dass sie in einem tiefen Burn-out stecken.» Diese Leute würden auch mit Zeiterfassung gleich weiterarbeiten.
Das Gefühl für die geleistete Arbeitszeit ist bei allen trügerisch: Arbeitnehmende arbeiten oft weniger, als sie glauben – und zwar fünf bis zehn Prozent. Behauptet ein Manager also, er habe zwölf Stunden gearbeitet, waren es vielleicht auch nur knapp elf. Das hänge vor allem damit zusammen, dass jeder «Arbeit» anders interpretiere, sagen Forscher der Universität Maryland: Für den einen mag es als Freizeit gelten, auch nach Feierabend seine E-Mails zu checken, andere stufen das als Arbeit ein. Je höher die Position und je prestigeträchtiger der Beruf des Befragten, desto stärker wurde im Übrigen die eigene Arbeitsbelastung überschätzt, zeigt die Studie. Diejenigen, die ihre Arbeitszeit also am meisten überschätzen, sind die Chefs. Insbesondere in leistungsorientierten Branchen seien Arbeitsstunden ein Statussymbol.
Zollikofen, 17.25 Uhr: Thomas Stauffer beendet eine anderthalbstündige Telefonkonferenz mit einem Projektmitarbeiter. Sie haben online an einem Dokument gearbeitet und sind gut vorwärtsgekommen. Nun fährt er den Laptop runter und packt den Rucksack. Unten in der Garage stempelt er aus. Kurz darauf sitzt er mit den Kindern im Keller und zerlegt ein altes Radio.
Manchmal, sagt Stauffer, sei es schon etwas mühsam mit dem Stempeln. Etwa wenn er morgens extern arbeite und die Arbeitszeiten nachträglich im System erfassen müsse. Probleme gebe es auch, wenn er unvorhergesehen zu Hause arbeiten müsse. «Buche ich die halbe Stunde am Telefon am Abend am nächsten Tag ein oder nicht?» Er halte zwar viel vom Stempelsystem, trotzdem sei er überzeugt, dass die traditionelle Arbeitszeiterfassung nicht überleben werde. «Wir müssen neue Wege finden, um eine gute Work-Life-Balance sicherzustellen.»
Zürich, 18.23 Uhr: Riccardo Trombini sitzt im Tram und beantwortet noch schnell die Mail eines Arbeitskollegen. «Wir rufen einander abends selten geschäftlich an, und niemand muss eine Frage sofort beantworten.» Trombini ist überzeugt, dass die Leute motivierter sind, wenn sie ihre Arbeitszeit frei einteilen können. Aber sie arbeiten so auch mehr. «Wenn ich meine Stunden aufschreiben würde, könnte ich sie ansammeln und im Sommer mal länger freimachen.» Dass er freiwillig länger als acht Stunden arbeite, hänge auch damit zusammen, dass er bei einer kleinen Firma sei: «Bei uns kommt es auf jeden Einzelnen an.» Für eine grosse Firma würde er nicht unendlich Überstunden leisten. Und: «Wenn ich Familie hätte, müsste ich wohl umdenken.»
14. Jahrhundert: Auf grossen Baustellen, etwa bei Kirchen, werden Arbeitsbeginn und -ende sowie die Mittagszeit meist durch Glockenschläge angekündigt. Mit Sanduhren kontrollieren die Bauherren oft die Länge der Pause.
1797/98: Der bayrische Kriegsminister führt eine Uhr ein, weil seine Beamten offenbar lieber in den Wirtshäusern sitzen, als die Kanzleistunden einzuhalten. Die Beamten müssen eine persönliche Kennmarke in einen Behälter einwerfen. Im Innern der «Uhr» drehen sich stetig Fächer. Zu spät eingeworfene Marken landen im falschen Fach – der Beamte ist entlarvt.
1837: In Glarus haben die Arbeiter der Tuchdruckerei Trümpy die Nase voll. Sie streiken. Der Grund: eine Fabrikglocke, die zu Arbeitsbeginn und -ende läutet. Wer am Morgen beim Schlag der Glocke nicht vor der Fabrik steht, soll eine Busse zahlen. Die Arbeiter streiken erfolglos. Zu dieser Zeit orientiert sich das Gros der Bevölkerung noch an der Kirchturmuhr.
1855: An der Weltausstellung in Paris wird die tragbare Wächter-Kontrolluhr des Deutschen Johannes Bürk gezeigt. Nachtwächter müssen Schlüssel, die sie bei ihrem Kontrollgang vorfinden, in der Uhr drehen. Die Erfindung verkauft sich gut: bei Fabriken, Stadtbehörden, Eisenbahn und Bergwerken.
18./19. Jahrhundert: Die Industrialisierung bringt neue Instrumente zur Kontrolle der Arbeiter. Vielerorts sind es einfache Systeme: Der Portier schliesst nach Arbeitsbeginn die Fabrikpforten. Wer zu spät kommt, erhält keinen Lohn. Oder man kontrolliert mit Marken: Die Arbeiter nehmen ihre Blechmarke vom einen Brett und hängen sie an ein anderes Brett, in einen Kasten. Der wird bei Arbeitsbeginn verschlossen. Einen Schub erhält die Kontrollapparate-Herstellung in den 1880er Jahren. Die einen Modelle drucken die Nummer des Angestellten und die Zeit auf einen Papierstreifen, sobald der Arbeiter seinen persönlichen Schlüssel in die Uhr steckt. Andere funktionieren wie heute manche Mehrfahrtenkarten, die man am Apparat entwertet. Datum und Zeit werden darauf eingetragen.
1877: Die Stimmbürger nehmen das erste eidgenössische Fabrikgesetz knapp an – mit 181'000 zu 170'000 Stimmen. Elf Stunden werden als Normalarbeitstag definiert. Der Sonntag gilt in den Fabriken neu als arbeitsfrei. In den folgenden Jahrzehnten werden Fragen diskutiert wie: Zählt es als Arbeitspause, wenn Eisenbahnarbeiter einen Schritt zurücktreten müssen, weil ein Zug vorbeifährt?
1919: Die 48-Stunden-Woche setzt sich langsam durch. Im Fabrikgesetz ist sie verankert, aber bei weitem nicht in allen Branchen üblich. Das Feilschen um Minuten beginnt: Wenn schon die Wochenzeit derart beschränkt wird, wollen die Arbeitgeber das Maximum aus den Angestellten herausholen. Nun wird mancherorts verhandelt, ob Händewaschen in den Pausen zur Arbeitszeit zählt.
1936: Charlie Chaplins Satire «Modern Times» zeigt die Automatisierung der Arbeit mit ihren Folgen für den Menschen. Die Stechuhr bestimmt den Alltag der Arbeiter: Ob Pinkel- oder Mittagspause, ja selbst dann, als die Hauptfigur vor ihren aufgebrachten Kollegen flüchtet, vergisst sie nicht, aus- und wieder einzustempeln.
1988: Das Schweizer Stimmvolk will keine gesetzlich verankerte 40-Stunden-Woche. Es lehnt die Volksinitiative «zur Herabsetzung der Arbeitszeit» des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds mit 65,7 Prozent ab. Inzwischen schaffen immer mehr Firmen Stempeluhren ab und setzen mit Jahresarbeitszeit auf Flexibilität für sich und die Mitarbeiter.
Neunziger Jahre: Teilzeitarbeit und das sogenannte Homeoffice werden bedeutender, die Kontrolle der Mitarbeitenden, die von zu Hause aus arbeiten, wird schwieriger.