Die Gewerkschaft Unia hat 1100 Lernende befragt, wie es ihnen in der Ausbildung geht. Die Resultate schrecken auf: Neun von zehn angehenden Berufsleuten erleben Stress am Arbeitsplatz. Zwei von drei sind sogar oft oder ständig erschöpft. Zudem beklagen die Lernenden überlange Arbeitszeiten und niedrige Löhne, und sie sehen sich mit Diskriminierung und sexueller Belästigung konfrontiert.

Die aktuelle Studie wirft ein schlechtes Licht auf das viel gelobte duale Berufsbildungssystem der Schweiz. Aus der Optik der Ausbildungsbetriebe nimmt Nicole Meier Stellung, Verantwortliche für den Bildungsbereich beim Arbeitgeberverband.

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Die Ergebnisse der Unia-Studie sind besorgniserregend. Wie war Ihre Reaktion darauf, Frau Meier?
Ich war eher überrascht über die Art und Weise, wie diese Befragung aufgezogen wurde. Es ist wichtig, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Aber solche Erhebungen müssen breit abgestützt sein, und sie müssen Ergebnisse liefern, die wirklich aussagekräftig sind. Das hinterfrage ich hier. 

Weshalb?
Mich stört, dass die Studie mit Pauschalisierungen arbeitet und Kausalzusammenhänge herstellt, die nicht belegt sind. Wer die Ergebnisse liest, muss zum Schluss kommen: Die Lernenden leiden allein wegen der Situation am Arbeitsplatz. Dabei spielen bei psychischen Problemen viele Faktoren mit. Gibt es Vorbelastungen, die Stress auslösen? Was passiert im Elternhaus? Was in der Schule, was in der Freizeit? Dieser Vielschichtigkeit wird die Umfrage nicht gerecht.  

Die Unia sagt: Wir wollen Alarm schlagen. Werden die Ausbildungsbetriebe aus Ihrer Sicht zu Unrecht angeprangert?
Man sieht der Erhebung an, dass sie primär politisch motiviert ist und zu Marketingzwecken verwendet wird. Das finde ich nicht zielführend, wenn es um Bildung geht. Es wird mit einer sensiblen Thematik ein Berufsbildungs-Bashing betrieben, das nicht gerechtfertigt ist. So schadet man dem ganzen System. Und das ausgerechnet in der wichtigen Zeit der Rekrutierung von Lernenden. 

Dennoch: Wenn zwei Drittel der Lernenden sagen, sie seien am Arbeitsplatz oft oder ständig erschöpft, kann man darüber nicht hinwegsehen. 
Das tun wir nicht. Der Arbeitgeberverband nimmt die psychische Gesundheit von Jugendlichen ernst, wir beteiligen uns auch an Studien dazu. So wurde eine breit abgestützte Untersuchung mit Workmed lanciert, einem Kompetenzzentrum für Arbeit und psychische Gesundheit. Da haben sich Fachleute über ein halbes Jahr lang Zeit genommen, um zu definieren, wie man zu aussagekräftigen Ergebnissen kommt. Wir stellen uns in keiner Weise gegen Verbesserungen der geschilderten Situation. Aber wirksam kann man Probleme nur angehen, wenn man die Zusammenhänge dahinter versteht und alle Akteure miteinbezieht.

Stress und Druck sind subjektive Empfindungen. Die Unia-Umfrage liefert aber auch härtere Fakten: 55 Prozent der Lernenden sagen, sie würden mehr als neun Stunden pro Tag arbeiten. Das wäre illegal. Was tun die Arbeitgeber dagegen?     
Allgemeingültig lässt sich das nicht sagen. Ich kritisiere auch hier die Ungenauigkeit der Unia-Studie: Die verfügbaren Zahlen machen keine Aussagen darüber, ob das eine Thematik in einer bestimmten Branche ist oder ob es effektiv ein übergeordnetes Problem darstellt. Sind das wirklich Arbeitsstunden? Oder wurden auch Stunden angegeben, die beispielsweise zum Lernen gebraucht werden? Aber es ist klar: Es gibt ein Arbeitsgesetz, das eingehalten werden muss. Bei allfälligen Verstössen empfehle ich den Jugendlichen, in einem ersten Schritt das Gespräch mit ihren Berufsbildnern zu suchen.  

Die Gewerkschaft hat eine konkrete Forderung: kürzere Arbeitszeiten in den Lehren. Was halten Sie davon?
Eine solche Forderung ist schnell erhoben. Aber jede Lehre hat einen spezifischen Beruf dahinter, mit jeweils eigenen Lernzielen. Von daher erachte ich es als zweifelhaft, ob eine einzelne Massnahme wie verkürzte Arbeitszeiten für alle funktionieren würde. Im Gegenteil könnte das gewisse Lernende unter zusätzlichen Druck setzen, weil sie weniger Zeit haben, um ihre Lernziele zu erreichen. 

Ich höre heraus: Für Schnellschüsse sind Sie nicht zu haben.
Man vergisst einfach ab und zu, dass die Berufslehre eine Erstausbildung ist. Und keine «normale» Arbeitsmarktsituation, in der Arbeitgeber und Beschäftigte die Bedingungen aushandeln. In der Berufslehre gibt es ganz unterschiedliche Akteure, die eine Rolle spielen und ihre Bedürfnisse haben: die Betriebe, die Lernenden, die Berufsschule. Auch die öffentliche Hand ist involviert. In solch komplexen Gebilden kommt man mit vermeintlich einfachen Lösungen tatsächlich nicht weit. Dass sich so viele Akteure beteiligen, ist aber auch eine Stärke des Schweizer Berufsbildungssystems.

Zur Person:

Nicole Meier ist Ressortleiterin Bildung und berufliche Aus- und Weiterbildung beim Schweizerischen Arbeitgeberverband.