«Stress ist das Asbest von heute»
Arbeitsmediziner Dieter Kissling über offene Arbeitsmodelle, Stress, Pausen, Eigenverantwortung und die Gründe, warum es in der Schweiz immer mehr Burn-out-Fälle gibt.
Beobachter: Sie besitzen ein iPhone und einen Blackberry, weil Sie berufsbedingt immer erreichbar sein müssen. Sie tragen quasi Ihr Büro mit sich herum, selbst in den Ferien. Wie halten Sie das aus?
Dieter Kissling: Ich bin Unternehmer und sehe es deshalb eher als eine Entlastung: Ich kann in den Ferien weilen und bleibe trotzdem am Ball. Ausserdem gibt mir meine Tätigkeit enorm viel, deshalb kann ich auch viel investieren.
Beobachter: Viele wollen in den Ferien nichts mit dem Geschäft zu tun haben und können trotzdem nicht verhindern, dass die Arbeit in ihre Freizeit wuchert. Warum fällt es den Leuten so schwer, sich abzugrenzen?
Kissling: Oftmals setzen sie selbst zu hohe Erwartungen in sich, oder der Arbeitgeber tut es. Ausserdem hat sich die Bedeutung der Arbeit gewandelt. War sie früher nur existenzsichernd, ist sie heute für viele sinnstiftend. Dadurch wird die Arbeit zum Lebensinhalt, und die Opferbereitschaft der Angestellten steigt.
Beobachter: Das pausenlos bimmelnde Handy ist also auch Imagepflege?
Kissling: Natürlich. Es zeigt mir selbst und anderen, dass ich wichtig bin. In unserer Leistungsgesellschaft glaubt jeder, immer der Beste, der Schnellste und der Grösste zu sein. Sie hetzen sich so gegenseitig ins Burn-out.
Beobachter: Was kann der Arbeitgeber tun?
Kissling: Wir wissen, dass zum Beispiel Handlungsspielraum, ganzheitliche Aufgaben und positive Feedback-Kultur Burn-outs vorbeugen können
Beobachter: Im europäischen Vergleich stehen die Schweizer Arbeitsplätze in genau diesen Punkten sehr gut da - und trotzdem nimmt die Zahl der Burn-out-Fälle zu.
Kissling: Das Ganze ist zwiespältig. Wenn viel Spielraum vorhanden ist, entstehen neue Kontrollmechanismen - zum Beispiel der Gruppendruck. Und das kann sehr ungesund sein. Deshalb müssen wir wieder lernen, nein zu sagen und uns abzugrenzen. Wir müssen unsere Eigenverantwortung wahrnehmen.
Beobachter: Stichwort Eigenverantwortung: Es gibt Leute, die den Standpunkt vertreten, ein Burn-out-Patient habe die vereinbarte Leistung nicht erbracht. Es sei Aufgabe des Mitarbeiters, sich genügend abzugrenzen...
Kissling: Das ist Unsinn. Ein Burn-out ist immer auch ein Versagen des Unternehmens. Ein überforderter Mitarbeiter verliert das Gefühl für sich selbst und kann seine Eigenverantwortung nicht mehr wahrnehmen. In dieser Situation müssten die Vorgesetzten ihrer Führungsaufgabe nachkommen und den Angestellten Grenzen setzen. Aber in vielen Unternehmen funktioniert das nicht, weil die Vorgesetzten selbst unter Druck stehen.
Beobachter: Mit offenen Arbeitsformen stehlen sich die Unternehmen also aus der Verantwortung - ein Eigentor?
Kissling: Richtig. Wenn jemand unter den extremen Belastungen zusammenbricht, verliert das Unternehmen viel Geld, Fachwissen und einen engagierten Mitarbeiter.
Beobachter: Sind sich die Unternehmer dessen bewusst?
Kissling: Kaum. Für mich ist Stress heute, was Asbest in den Sechzigern war. Man wusste, das Material verursacht Krebs, aber man schaute 25 Jahre lang zu. Die massiven gesundheitlichen Auswirkungen von Stress sind heute auch bekannt - und wir schauen wieder zu.
Beobachter: Was raten Sie Unternehmern?
Kissling: Ein vernünftiges Unternehmen kommuniziert, dass die Angestellten ein Recht auf Ungestörtheit haben; nachts und auch an Wochenenden. Sie müssen das Recht haben, den Blackberry zu definierten Zeiten auszuschalten. Wir brauchen einfach Ruhezeiten, in denen wir Ressourcen tanken können. Nehmen Sie den Sonntag, das war einst ein Gemeinschafts- oder Familientag. Durch die Arbeit am Wochenende geht unsere soziale Einbettung, in der wir Unterstützung und Wertschätzung bekommen, immer mehr verloren.
Beobachter: Unternehmen mit besonders offenen Arbeitsmodellen bieten selbst einen sozialen Rahmen - bei Google kann man essen, Freunde mitbringen und die Freizeit verbringen...
Kissling: ...und irgendwann können Sie auch noch dort schlafen und mit Firmenkurtisanen die letzten Bedürfnisse abdecken - ernsthaft: Ich halte das für ein hochproblematisches Modell. Einige wenige können davon vielleicht profitieren; viele andere wird es einfach dazu verleiten, 24 Stunden zu arbeiten. Das tangiert schon fast die Menschenwürde.
Beobachter: Versklaven wir uns freiwillig?
Kissling: Das Gefühl für unsere ureigensten Bedürfnisse geht uns verloren. Ein Beispiel: Bei der Firma hier um die Ecke läutete schon immer um Punkt zwölf die Mittagsglocke, worauf die Belegschaft durchs Tor herausströmte und zum Essen nach Hause ging. Die Glocke läutet immer noch jeden Tag genau um zwölf Uhr. Aber es kommt niemand mehr heraus. Jemand muss den Leuten wieder sagen, dass sie Pausen machen sollen.
Mehr zur Person
Dieter Kissling, 52, gründete 1995 das Institut für Arbeitsmedizin in Baden und leitet dieses seither. Das Unternehmen mit rund 70 Mitarbeitern ist auf gesundheitsfördernde Projekte und die betriebsärztliche Betreuung von Firmen spezialisiert.
Foto: Markus Forte