Das weiss-rot-weisse Laufband
Unsere Bergwege sind luftiger als ein Fitnessstudio und naturnäher als jeder Golfplatz. Wer aufwärtswandert, leidet unterwegs Qualen – auf Pfaden, die mit Glück gepflastert sind.
aktualisiert am 29. August 2019 - 09:08 Uhr
Auf den Scalinate, den steilen Tessiner Steintreppen, steige ich die 300 Höhenmeter vom Bahnhof Locarno zügig hinauf nach Orselina. Fuss vor Fuss, Schritt um Schritt. Sofort finde ich meinen gewohnten Rhythmus. Schon nach einer Viertelstunde spüre ich dieses vertraute Ziehen in den Oberschenkeln. Muskeln an Hirn: «Wir haben Arbeit bekommen.»
Wer im Beruf vorwiegend den Kopf braucht und in geschlossenen Räumen sitzt, realisiert irgendwann, dass ihm etwas fehlt. Das hat, so ahnt man, vordringlich mit der brachliegenden Physis zu tun, mit dem chronisch unterforderten Körper. Also geht man ins Krafttraining, beginnt zu wandern oder zu golfen. Alle drei Wege zum ersehnten Ausgleich finden wachsenden Zuspruch.
Die 45 Minuten Treppensteigen nach Orselina hinauf sind ein klassisches Aufwärmen, ein idealer Einstieg. Schon fliesst der Schweiss. Ich entledige mich meines Hemds, drapiere es über den Rucksack, das T-Shirt hält mich warm. Der Puls ist stark und regelmässig; geschätzte 110 Schläge pro Minute . Jetzt das beruhigende Gefühl: alle Maschinen unter Kontrolle.
«Wandern lässt mich an beschauliches Flanieren danken – derweil gehe ich schnell und entschlossen bergauf.»
Roger Anderegg, Journalist und «Kampfwanderer»
Seit Jahren kultiviere ich meinen eigenen Ausgleichssport. Als Wandern würde ich nicht bezeichnen, was ich tue. Der Begriff lässt mich an beschauliches Flanieren denken, fröhlich und en famille, von der Bergstation der Luftseilbahn zur nächstgelegenen amtlich konzessionierten Feuerstelle, die – damit es auch ja nicht zu anstrengend wird – möglichst ein paar Wegkehren tiefer liegt.
Derweil gehe ich vorzugsweise bergauf, und zwar schnell und entschlossen. So nenne ich mein Fitnessprogramm in Ermangelung eines genaueren Worts «Laufen», wohl wissend, dass auch dieser Begriff missverständlich ist. «Kampfwandern» hat es, nicht ohne spöttischen Unterton, ein Freund genannt, der mich zwei-, dreimal begleitete. Seine Wortschöpfung trifft den Kern der Sache so ziemlich.
Begonnen habe ich damit vor 15 Jahren – nach einem gesundheitlichen Kollaps. Die Ärzte rieten mir eindringlich, mich öfter körperlich zu betätigen , und schickten mich in eine Rehaklinik, wo mir täglich zwei Stunden Wandern verordnet wurden. Nach fünf Tagen war ich angefixt. Nach zwei Monaten stand ich erstmals aus eigener Kraft auf dem Säntis, den ich inzwischen, auf allen vier Routen, sicher an die 50 Mal bestiegen habe. Zum Glück gibt es da eine Luftseilbahn – zum Runterfahren.
Tatsächlich ist mein Laufen Kampf. Ich will mich fordern, mich notfalls quälen, meine Leistungsfähigkeit testen. 1000 oder 1200 Höhenmeter müssen es schon sein, lieber 1500. Wie Zürcher Jungmanager in der Mittagspause auf den Üetliberg joggen und die Berner auf den Gurten, laufe ich einmal die Woche einen Berg hoch und nehme mir dafür einen ganzen Tag Zeit. Ich will schnaufen, ich will schwitzen und ich will meinen Puls spüren. Wie jetzt auf dem Weg hinauf zur Cardada, zur Aussichtskanzel hoch über Locarno.
Ich bleibe kurz stehen, werfe einen Blick zurück und setze die Teeflasche an. Vieles bei diesem Laufen hat rituelle Bedeutung. Die Anstrengung – und die Zufriedenheit, die aus ihr erwächst. Das Leiden am Berg – und das Glück danach. Ich möchte nicht tauschen, nicht mit den «Geräteturnern» und nicht mit den Golfern .
Mein Fitnessstudio bietet einen wunderbaren Ausblick in die Landschaft und verfügt erst noch über die beste Aircondition, und meinen Golfkurs haben Bergbauern geschaffen. Ich bewege mich inmitten der Natur und nicht in einer von Gartenarchitekten angelegten, künstlichen Welt.
Je anspruchsvoller, je fordernder der berufliche Alltag, desto unverzichtbarer das Laufen . So legte ich mir einige Standardrouten zu, die meinen Bedürfnissen entsprechen: Säntis und Gridone im Sommer, Selun und Rigi mit Schneeschuhen im Winter. Eine einfache Tour wie die vom Bahnhof Locarno (205 Meter über Meer) auf die Cimetta (1671 Meter) bietet im Frühjahr oder Spätherbst, wenn nördlich des Gotthards noch oder schon wieder Schnee liegt, eine willkommene Ausweichmöglichkeit.
Inzwischen folge ich der Mulattiera, dem uralten Saumpfad von Orselina hinauf nach San Bernardo, einem typischen Tessiner Bergpfad mit grob behauenen Granitplatten, der im Kastanienwald Kehre um Kehre an Höhe gewinnt. Das Fresko in einem Bildstock am Wegrand datiert von 1626 – der Weg ist also mehrere hundert Jahre alt. Auch das kann ich im Fitnessstudio nicht haben: das Eintauchen in einen historisch gewachsenen Lebensraum, die Begegnung mit Geschichte und Kultur. Ich stelle mir vor, wie viele Menschen diesen Weg schon gegangen sind und was sie dabei beschäftigt haben mag.
Unterwegs bekommen die Gedanken Auslauf. Laufen führt auf geradem Weg zu Kontemplation und Meditation . Nach zwei Stunden ist der Kopf angenehm leer, nichts von dem, was mich noch auf der Anfahrt beschäftigt hat, hält mein Hirn besetzt. Jetzt ist da Raum für neue Gedanken und neue Ideen, und beim Abstieg fällt mir oft wie von selbst die Lösung eines Problems ein, das mich seit geraumer Zeit umtreibt. Laufen ist alles gleichzeitig: Konzentration und Entspannung, Abschalten und Auftanken.
In die Höhe streben heisst, auf der Höhe bleiben – auf der Höhe seiner Unternehmungslust, seiner Leistungsfähigkeit, seines Elans. Seit ich laufe, fühle ich mich den Anforderungen des Alltags bestens gewachsen, und die Resultate meiner medizinischen Check-ups verblüffen selbst meinen Arzt.
Aber Achtung: Laufen kann süchtig machen! Nach zwei Wochen ohne kann ich an nichts anderes mehr denken. Mein Körper schreit danach. Und wenn ich, zum Beispiel aus dem Tram auf der Quaibrücke in Zürich, die Glarner Alpen im Sonnenlicht sehe, vermag ich kaum mehr, ruhig zu sitzen.
Beim Kirchlein von San Bernardo, auf 1028 Metern über Meer, halte ich kurz an und geniesse den Blick auf den Lago Maggiore, das Maggiadelta und die Brissagoinseln, auf den Monte Tamaro und den Gridone. Die Tür des Kirchleins steht offen. Ein Experte aus Bellinzona ist da, um den Zustand der Fresken zu untersuchen, und bittet mich freundlich herein. Schon sind wir im Gespräch. Beim Laufen hat man Zeit – Zeit für Begegnungen, Zeit für einen Schwatz mit dem Hirten auf der Meglisalp, mit dem Förster im Glarnerland, dem Winzer im Malcantone oder dem Wegmacher an den Walliser Suonen.
Und man kommt sich selber auf die Schliche. Man erfährt, wie man sich zum Durchhalten motiviert und dass es nicht gescheit ist, eine Pause einzuschalten und im Bergrestaurant ein Bier zu bestellen. Weil nach dem ersten Schluck unweigerlich der Frust kommt: Warum hab ichs nicht durchgezogen? Warum mache ich auf halbem Weg schlapp?
Auf der Cardada, auf 1330 Metern über Meer, trete ich aus dem Wald. Schon gut 1000 Höhenmeter! Lachend und lärmend kommt mir eine Gruppe Spaziergänger entgegen. Sie sind auf dem Abstieg vom Gipfel, der 300 Meter höher liegt. Jetzt noch bis dort hinauf – schaff ich das? Aber sicher schaff ich das! Jeder Schritt, jeder Höhenmeter gibt Selbstvertrauen und Sicherheit.
Dann stehe ich auf der Cimetta, meinem heutigen Ziel. Weit unten der See und Locarno, wo ich vor vier Stunden losging. Und jetzt bin ich hier oben. Aus eigener Kraft, nur weil ich es wollte – und weil ich weiss, wie gut es mir tut. Das Gefühl ist unbeschreiblich. Ich glaube, man nennt es Glück.
In der Schweiz lockt ein Netz von rund 65'000 Kilometern Wanderwege. Trittsicherheit ist erforderlich, bergtaugliche Ausrüstung zwingend.
- Das Geoportal des Bundes hat eine Online-Karte, in der alle Wanderwege eingezeichnet sind (und auch allfällige Wegsperren vermerkt).
- Auf wandern.ch findet man Routenvorschläge, wichtige Informationen und Tipps zum Wandern – und kann sogar nach einer Wanderbegleitung suchen oder eine finden, wenn man lieber zu zweit oder in einer Gruppe von Gleichgesinnten unterwegs ist. www.wandern.ch
- Bei Schweizmobil kann man entweder nach Routenvorschlägen suchen oder sich seine eigene Route auf der Karte einzeichnen. Die Dienstleistungen der Stiftung für den Langsamverkehr gibts auch als App für Android- oder Apple-Geräte. map.wanderland.ch
Die wichtigsten Punkte, die man bei der Planung einer Wanderung beachten sollte und was alles in den Wanderrucksack gehört, finden Sie auch in unserer Wander-Checkliste:
Checkliste_Wandern.pdf
Nehmen Sie auf Wanderungen nur mit, was Sie wirklich brauchen:
- gute, hohe Wanderschuhe mit Profilgummisohlen
- Wind-, Kälte- und Regenschutz
- Karten
- Proviant, Getränke, Taschenmesser
- Sonnenschutz: Kopfbedeckung, Sonnenbrille, Sonnencreme
- für Notfälle: Taschenapotheke, Taschenlampe, Handy
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