Von der Natur verführt
Nichts entspannt uns Menschen so zuverlässig wie die Natur. Warum, weiss die Umweltpsychologie.
aktualisiert am 16. Mai 2019 - 08:22 Uhr
Natur tut gut, sagt man. Es zieht uns nach draussen, wenn wir uns ruhelos fühlen. An den Fluss, an den See, in den Wald , in die Berge. Instinktiv. Danach fühlen wir uns meist besser, entspannter. Bei mir wird das heute nicht funktionieren. Es ist viel zu früh am Morgen, und ich soll in 15 Minuten marschbereit am Bahnhof stehen, mit Rucksack und gefüllter Wasserflasche.
Natürlich müssen wir rennen, um den Zug zu erwischen, den ich lieber verpasst hätte, weil viel zu wache Menschen drinsitzen. Meine schlechte Laune war schon wach, bevor der Wecker zu dudeln begann. Und wenn die Frau im Viererabteil nebenan gleich auch noch ihre Wanderschuhe auszieht, wenn sie mit Teeschlürfen fertig ist, steige ich beim nächsten Halt aus und fahre wieder heim.
Fünf Stunden und 15 Minuten zu Fuss, 950 Meter aufwärts, 620 Meter abwärts. Das ist unser Plan. Eigentlich ist es sein Plan. Ich wollte nur ein wenig an die frische Luft. Er wollte raus, und zwar richtig. Mir hätte ein ausgedehnter Spaziergang in hübscher Umgebung gereicht, unterwegs eine nette Beiz mit Aussicht vielleicht. Lange Wanderungen mag ich erst, wenn sie vorbei sind.
Wissenschaftler befassen sich seit Jahrzehnten mit der Frage, wie die Natur auf unsere Psyche wirkt. Zu den Pionieren des Fachs gehören Forscher in den USA. Ursprünglich wollten sie herausfinden, wie Wege und Übernachtungsmöglichkeiten in amerikanischen Nationalparks angelegt werden müssen, damit die Besucher sich wohlfühlen und möglichst zahlreich wiederkommen. Später weitete man das Forschungsgebiet aus. Das Ergebnis war immer dasselbe: Die Natur tut uns gut.
Ablesen lässt sich diese Wirkung daran, dass Blutdruck und Puls sinken, ebenso der Cortisolgehalt im Blut. Und dass unser Herzrhythmus flexibler auf Belastung reagiert. All das sind Indikatoren für Entspannung. Der Aufenthalt in der Natur – wenige Minuten können schon reichen – verbessert unsere Konzentration und hebt die Stimmung. Naturerlebnisse machen uns sozialer, toleranter und steigern die Frustrationstoleranz.
Dabei muss man sich nicht einmal in der Natur aufhalten, um ihre Wirkung zu spüren. Das haben verschiedene Studien gezeigt: Gefängnisinsassen mit Sicht ins Grüne zum Beispiel haben weniger Verdauungsprobleme und Kopfschmerzen als Gefangene ohne Aussicht; Zahnpatienten bleiben entspannter, wenn sie vor grösseren Eingriffen Fische im Aquarium betrachten.
Gefängnisinsassen mit Sicht ins Grüne haben weniger Kopfschmerzen als Gefangene ohne Aussicht.
Sogar ein Bild oder ein Video mit Naturszenen wirkt positiv. Letzteres konnte die Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) in Birmensdorf ZH belegen, die Probanden aufs Laufband schickte. Nur ein Teil durfte sich während des Gehens ein Naturvideo anschauen. Es ist bekannt, dass bei sanfter Bewegung mehr stimmungsaufhellende Botenstoffe produziert und mehr körpereigene Morphine ausgeschüttet werden, die das Schmerzempfinden senken.
Bei der WSL-Studie ging es aber einzig um das psychische Wohlbefinden. Den Probanden, die das Naturvideo gesehen hatten, ging es in fünf Punkten einer normierten Wohlfühlskala besser: Sie fühlten sich ruhiger, gleichzeitig nahmen sowohl Deprimiertheit als auch Erregtheit, Ärger und Energielosigkeit ab. Die Probanden ohne Naturvideo waren nach dem Gehen einzig weniger deprimiert.
Natur ist ein Rückzugsort
Der Zug hält. Die Tür öffnet sich. Ein Wanderer mit rotem Rucksack drängelt sich an uns vorbei , als sei soeben der Startschuss zu einem Rennen gefallen. Der Wanderwegweiser zeigt in Richtung Wald.
Nach ein paar Minuten sind wir allein auf dem von Sträuchern und Laubbäumen gesäumten Weg, rechts schlängelt sich fast lautlos ein Bach zwischen grossen, moosbewachsenen Steinen hindurch. Dass grüne Landschaften mit Wasser am erholsamsten sind, weiss ich in diesem Moment noch nicht. Auch nicht, dass Bäume stimmungsaufhellend wirken, besonders solche mit ausladenden Kronen – und vor allem dann, wenn der Wald, in dem sie stehen, hell und aufgeräumt wirkt. Dass Vogelgezwitscher und Wasserplätschern Stressgefühle reduzieren. Oder dass ein einzelner Geruch, etwa der von Baumharz , Erinnerungen an positive Naturerlebnisse wecken kann.
Meine Unruhe wandert trotz allem noch mit. Ich rede wenig, er viel: von unerklärlichen Fehlentscheiden im gestrigen Fussballmatch, von Roger Federers neuem Trikot am French Open, von der langersehnten CD, die auch nach dem dritten Hören eine Enttäuschung sei. Ich denke an den Abgabetermin für den nächsten Artikel und an die Wasserflasche, die gegen meinen Rücken drückt.
Je wichtiger einem als Kind der Wald war, desto besser wird man sich als Erwachsener darin erholen.
An Belegen dafür, dass die Natur eine positive Wirkung auf uns hat, mangelt es nicht. Umso schwerer tun sich die Experten mit Erklärungen, was es genau ist, das uns entspannt. Breit abgestützt sind die Erkenntnisse der beiden Psychologen Rachel und Stephen Kaplan von der Universität Michigan, die seit mehr als 30 Jahren auf dem Gebiet der Umweltpsychologie forschen. Sie haben vier Kriterien ausgemacht, die eine Umgebung erfüllen muss, um entspannend zu wirken: «Alltags-Ferne», «Bedürfnis-Orientierung», «Faszination» und «Weite».
- «Alltags-Ferne»: Wir können uns erst richtig erholen, wenn wir uns losgelöst fühlen von der Routine, den Pflichten – und zwar nicht unbedingt örtlich, sondern vor allem mental. Klar, auch im Kino, im Thermalbad oder beim Flanieren durch eine schöne Altstadt kann dieses Gefühl aufkommen. Aber nirgends so leicht wie in der Natur. Der Fluchtort muss nicht zwingend so weit weg oder so exotisch wie möglich sein; es braucht weder Meer noch Regenwald. Für manche ist es der Park vor dem Haus, für andere das Flussufer, ein See, irgendein Wald. «Persönliche Merkmale, insbesondere Kindheitserfahrungen, spielen eine wichtige Rolle bei der Wirkung der Natur», sagt die Umweltpsychologin Nicole Bauer von der WSL. Je wichtiger einem als Kind der Wald war, desto besser wird man sich als Erwachsener darin erholen. Denn das Naturempfinden ist auch individuell. Der Gemütszustand, das Geschlecht, das Alter: Vieles kann einen Einfluss darauf haben, in welcher Umgebung wir uns am wohlsten fühlen.
- «Bedürfnis-Orientierung» ist das zweite Merkmal für eine erholsame Umgebung. Gemäss Rachel und Stephen Kaplan erholen wir uns dann am besten, wenn wir in einer Umgebung das finden, was wir im entsprechenden Moment suchen: Ruhe, eine schöne Aussicht, die Möglichkeit zum Spazieren, Wandern oder Schwimmen.
Die Natur muss uns faszinieren
Nachdem wir eine Weile im Laubwald gelaufen sind, erreichen wir den Eingang einer grünen Schlucht. Links und rechts ragen Felswände in die Höhe. Der Weg wird etwas steiler, sodass zwischendurch Stufen nötig sind. Kleine Holzbrücken führen uns mal ans rechte Ufer und dann wieder ans linke.
Es ist zauberhaft hier. Das Wasser plätschert, die Vögel überzwitschern die Gedanken an meinen Abgabetermin, und die kühle Luft ist spürbar bis unter die Stirn. Zarte Schönwetterwolken ziehen über den blauen Himmel. Das Gras ist so grün wie bei den getrimmten Rasenflächen, die von Gartenzwergen bewacht werden.
Die meisten Umweltpsychologen befassen sich mit der Wirkung verschiedener Landschaftstypen. «Natürlich spielen bei der Landschaftswahrnehmung noch viele andere, zum Teil noch wenig erforschte Faktoren eine Rolle», sagt Nicole Bauer. Neben Geräuschen und Düften beeinflussen wahrscheinlich auch Farben unser Wohlbefinden, also die unterschiedlichen Wellenlängen des Lichts. Die im Wasser gespiegelten Blautöne des Himmels stehen für Entspannung und Ruhe. Sie senken nachweislich den Blutdruck und den Puls. Genau wie die Farbe Grün, die beruhigend und erholsam wirkt.
Zentral ist jedoch das dritte Landschaftskriterium, das die Kaplans als «Faszination» beschreiben. Wenn uns eine Umgebung fasziniert, erholen wir uns leichter. Hier gelingt der Natur etwas Paradoxes: Sie zieht uns mit sanfter Ästhetik in ihren Bann – mit einem Sonnenuntergang, mit Wolkenfiguren am Himmel oder mit einer Blumenwiese – und strengt uns dennoch nicht an.
Mit der «Aufmerksamkeits-Erholungs-Theorie» (Attention Restoration Theory) beschreiben die Umweltpsychologen ein Phänomen, das jeder kennt: Im ermüdenden Alltag ist ein kurzer Aufenthalt in der Natur am besten geeignet, damit wir uns wieder konzentrieren können. Die Natur öffnet Raum für Reflexion. Anders als etwa ein Museum, das uns mit jedem Kunstwerk ein wenig mehr ermüdet. Egal, wie faszinierend die Ausstellung ist, ab einem bestimmten Punkt können wir uns nicht mehr konzentrieren.
Keine Umgebung wirkt so entspannend wie ein Golfplatz: Es gibt viel Grün und Wasser, dazu Bäume, die Schutz bieten, und eine hügelige Weite.
Rachel und Stephen Kaplan unterscheiden diese Art der willkürlichen, gezielten Aufmerksamkeit des Alltags von der unwillkürlichen, spontanen Aufmerksamkeit, die die Natur in uns auslöst und die so entspannend wirkt. Bloss: Zu spektakulär darf die Umgebung nicht sein. Sie soll uns anregen, aber nicht zu sehr in ihren Bann ziehen wie eine ausnehmend attraktive Person. Denn dann sind unsere Gedanken nicht mehr frei.
Wir erreichen eine weite Ebene mit saftigen Wiesen und grasenden Kühen. Drei von vier Landschaftskriterien sind bereits erfüllt. Es ist zauberhaft hier, und der Alltag ist weit weg. Ich wollte an die frische Luft, mich ein wenig bewegen. Beides ist hier möglich. Entspannt bin ich dennoch nicht.
Eigentlich komme ich gerade erst so richtig in Fahrt. Ich will über die Beziehung reden, er nicht. Ich bin unbewusst in der dritten von vier Erholungsstufen angelangt, die in der Natur nacheinander ablaufen. Sie sind mit der Aufmerksamkeits-Erholungs-Theorie von Rachel und Stephen Kaplan verknüpft.
- Stufe 1: Kopf lüften.
- Stufe 2: Aufmerksamkeitsfähigkeit wiederherstellen.
- Stufe 3: ungebetene Fragen und Gedanken zulassen, die sich melden, sobald innerer und äusserer Lärm reduziert sind.
- Stufe 4: sich und sein Leben reflektieren, Möglichkeiten ausloten, Ziele setzen.
Davon bin ich noch weit entfernt. Ich steigere mich hinein in einen Monolog über Freiheiten, Verbindlichkeiten und den Sinn des Lebens . Er bringt mich mit Salsiz, Käse, Brot und Cherrytomaten zum Schweigen. Zum Dessert gibts Biskuits mit Schokoladenfüllung – und endlich Ruhe. Die nagenden Gedanken sind verflogen, und wir reden beide wieder vom Gleichen.
Schönheit liegt im Auge des Betrachters, heisst es. Umso erstaunlicher, dass die meisten Menschen, ob in Asien, Europa oder Afrika, savannenähnliche Landschaften mit sanften Weiten und ausladenden Bäumen bevorzugen. Am beliebtesten sind Landschaften, die überschaubar und leicht zu erkunden sind, mit viel Grün und einem hohen Wasseranteil.
Evolutionsbiologen haben eine Erklärung dafür: Weil Wasser lebenswichtig ist, fühlen wir uns in Landschaften mit Seen, Flüssen oder Bächen am wohlsten. Der britische Geografieprofessor Jay Appleton erklärt das so: Wenn eine Landschaft eine gute Übersicht und gleichzeitig Schutz bietet, fühlen wir uns darin sicher. Es behagt uns, sehen zu können, ohne gesehen zu werden. Das erlauben offene, strukturierte Landschaften mit Bäumen.
Warum Golf so entspannend ist
Wenn wir uns sicher fühlen, wird der Parasympathikus stimuliert, ein wichtiger Teil des vegetativen Nervensystems, und wir entspannen uns . Auf der Basis dieser Beobachtung erklärt die psychoevolutionäre Theorie von Roger Ulrich von der A&M-Universität in Texas, warum wir uns in der Natur entspannen können. Verblüffenderweise wirkt keine Umgebung so entspannend wie ein Golfplatz: Es gibt viel Grün und Wasser, dazu Bäume, die Schutz bieten, und eine hügelige Weite für die Übersicht.
Jay Appleton geht noch weiter und beschreibt das Golfspiel an sich als «Parodie auf das ursprüngliche Naturerleben»: sich eine Übersicht verschaffen und ein Ziel anpeilen, bis der Ball im Loch, also in Sicherheit ist. «Dass der Spieler sein Ziel erreicht, ist so gut wie sicher», so Appleton. Golfer kommen also gar nicht umhin, sich zu entspannen: wegen der optimalen Landschaft und des dazupassenden Spiels.
Die Ebene verjüngt sich zu einem Tal, bevor wir ein Plateau mit grandioser Aussicht auf die weite Ebene ein paar Dutzend Höhenmeter unter uns erreichen: links der Neuenburgersee, rechts der Genfersee, beide tiefblau inmitten von Grün, und weit hinten das schneebedeckte Alpenpanorama, das so scharf wirkt, als sei es mit Photoshop eingesetzt worden. Ich verstehe das vierte und letzte Kriterium für eine erholsame Natur: «Weite» – und damit verbunden ein Gefühl von Freiheit. Kriterium erfüllt!
Ein paar hundert Meter vor uns liegt ein Restaurant, und ich erreiche Erholungsstufe 4: Ziele setzen.