Kanton muss Therapiekosten nun doch zahlen
Eine Familie bekam kein Geld für die Therapieunterstützung ihres hörbehinderten Sohnes. Sie zog vor Gericht – und bekam nun Recht.
Veröffentlicht am 5. Juni 2020 - 10:07 Uhr,
aktualisiert am 2. Oktober 2020 - 16:35 Uhr
- Update vom 04. August 2020
Verwaltungsgericht fällt Urteil: Kanton muss Therapiekosten doch zahlen
Ihn reuen die Stunden, die er nicht mit seinem Sohn Alexander verbringen konnte. Stunden, in denen Peter Casanova seinen Kopf in Akten, Gerichtsunterlagen und Gutachten steckte, damit er den Kampf gegen die öffentliche Schule in Walchwil ZG und den Kantönligeist in der Innerschweiz gewinnt. Und damit eine gesetzliche Grundlage einer angemessenen Beschulung für Hörbehinderte im Kanton Zug geschaffen wird.
Der elfjährige Alexander ist das jüngste von fünf Kindern. Seine Innenohren sind fehlgebildet, was auf einen Wachstumsstillstand während der Schwangerschaft zurückzuführen ist, in der sechsten oder siebten Woche, wenn sich bei einem Embryo die Ohren bilden. Er ist auf beiden Seiten taub. Nur die rechte Hörschnecke liess ein sogenanntes Cochlea-Implantat zu, das ihm eingesetzt wurde, als er zwei war.
Dank des Implantats lernte Alexander Hören und Sprechen. Doch seine Sprachentwicklung entspricht nicht der eines normal Hörenden. Bis heute kann er keine öffentliche Schule besuchen, er benötigt ein ruhiges Lernumfeld in einer kleinen Klasse. Das bestätigen diverse Gutachten – des Luzerner Kantonsspitals, des Audiopädagogischen Diensts des Kantons Luzern und von Inclusion Handicap, dem Dachverband der Behindertenorganisationen.
Alexander sollte in einer Privatschule unterrichtet werden. Das schlugen Peter und Elena Casanova der öffentlichen Schule in Walchwil im Frühling 2018 vor. Die Schulleitung des Wohnorts entscheidet in solchen Fällen. Die Familie wählte die Privatschule Elementa in Neuheim ZG. In der bisherigen Sonderschule in Aarau war der Knabe unterfordert gewesen. «Seine Sprachentwicklung war dank intensivem Hörtraining nach dem Einsetzen des Implantats besser als die der anderen. Deshalb hatte er keine Freunde, er führte Selbstgespräche», erzählt Peter Casanova.
Casanova gelangte im Frühling 2018 ein erstes Mal an Beat Schäli, den Rektor der Schule in Walchwil. «Mir gegenüber sprach er sich für die Privatschule aus. Zumal diese pro Jahr 80'000 Franken günstiger ist als jene in Aarau – Gemeinde und Kanton hätten also weniger Kosten zu tragen.»
Der kantonale Schulpsychologische Dienst (SPD) wurde mit einer Abklärung beauftragt. Diese hätte eigentlich im Februar 2018 stattfinden sollen, ging beim SPD jedoch vergessen. «Die Behörden haben ihren Job nicht gemacht und bestrafen uns jetzt, weil wir die Arbeit für sie erledigt haben», sagt Casanova. Als eine SPD-Mitarbeiterin schliesslich Alexanders Situation neu bewertete, befürwortete sie den Schulwechsel gegenüber der Familie. In ihren Bericht an die Schulleitung schrieb sie das jedoch nicht. «Sie sagte, sie könne nicht. Es sei nicht tragbar, dass der Besuch einer Privatschule von Gemeinde und Kanton finanziert werde – obwohl es im Interesse des Kindes wäre.» Und obwohl Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention erklärt, dass die Bildung von Menschen mit Behinderung mit angemessenen Massnahmen sichergestellt werden muss – auch in der Schweiz.
Rektor Beat Schäli folgte dem Bericht des SPD. Heisst: Alexander sollte künftig in seiner Schule unterrichtet werden. «Das ist paradox», sagt Casanova. Denn als der Entscheid im Sommer 2018 fiel, meldete sich Schäli bei ihm, bedauerte das Beschlossene. «Er sagte, er würde es begrüssen, wenn ich dagegen vorginge.» Eine Tonaufnahme bestätigt das.
Offiziell hielt der Rektor daran fest, dass Alexander in der öffentlichen Schule problemlos integriert werden könne. Gegenüber dem Beobachter will er sich nicht äussern, da es sich um ein laufendes Verfahren handle.
«Hier geht es nur ums Geld», sagt Peter Casanova. Wenn ein Kind einer Sonderschule zugewiesen wird, teilen sich Kanton und Gemeinde die Kosten. Hätte Schäli dem Wechsel an die Privatschule zugestimmt, der Kanton aber abgelehnt, hätte Walchwil die gesamten Kosten tragen müssen. «Das wollte er verhindern. Beat Schäli war klar, dass der Kanton Nein sagen würde», vermutet der 55-Jährige. «Dabei müsste ein Rektor nicht zugunsten der Gemeinde, sondern zugunsten des Kindes entscheiden.»
Seither kämpft er weiter, um wenigstens die finanzielle Unterstützung für den Audiopädagogischen Dienst (APD) zu erhalten. In diversen Kantonen besteht dafür eine rechtliche Grundlage. Kosten für unterstützende Massnahmen trägt die öffentliche Hand, egal, ob das Kind in eine private oder in eine öffentliche Schule geht. So etwa in Basel, Zürich, Graubünden und Schwyz. Nicht aber im reichen Kanton Zug. Dort wird der APD nur für öffentliche Schulen finanziert.
«Das Problem ist, dass die Bildungshoheit – und somit die Sonderschulung – bei den Kantonen liegt», sagt Carlo Picenoni, Leiter der Beratung für Schwerhörige und Gehörlose Zentralschweiz. «Die kantonalen Vorgaben stehen vor dem Wohl des Kindes.» Dabei würde eine optimale Förderung viele spätere Schwierigkeiten und Hürden verhindern oder zumindest verringern – und somit auch Folgekosten vermeiden.
Wenn Familie Casanova ins Nachbardorf Arth ziehen würde – fünf Kilometer entfernt in den Kanton Schwyz –, müsste Casanova die Diskussionen mit den Behörden nicht führen, hätte Tausende Franken Anwaltskosten gespart. Und sein Sohn bekäme die Behandlung, die er braucht.
«Es gibt immer wieder Eltern, die wegen der unterschiedlichen Regelungen und zum Wohle ihres Kindes den Wohnkanton wechseln», sagt Carlo Picenoni. «Um solche Situationen zu vermeiden, würden wir es begrüssen, wenn zumindest die Finanzierung der Sonderschulung auf Bundesebene geregelt wäre.»
Bei anderen sonderpädagogischen Massnahmen wie Logopädie gibt es in Zug seit 2010 eine rechtliche Grundlage, damit diese auch in Privatschulen finanziert werden. Der Kanton muss für eine ausreichende Sonderschulung sorgen und 50 Prozent der Kosten übernehmen. So weit will Peter Casanova kommen; «damit es auch hier für Hörbehinderte eine gesetzliche Grundlage gibt».
Wegziehen ist für die Familie Casanova keine Option. Alexander besucht seit Sommer 2018 die Privatschule in Neuheim. Finanzieren müssen das vollumfänglich die Eltern. Die Gemeinde beteiligt sich bis im Sommer 2020 einmalig an den Kosten der APD-Unterstützung.
Peter Casanova zog aber vor Gericht, um sich gegen diese kantonale Diskriminierung zu wehren. Im Frühling letztes Jahr sah er Licht am Horizont, als er auf den Entscheid des Verwaltungsgerichts wartete. Doch sein Anwalt hatte die Frist für die Beschwerde verpasst, der Fall wurde sistiert. Der Kampf begann von vorn, das Urteil sollte nun im Sommer folgen. «Wenn dieser Kampf gewonnen ist, werden wir zwar in Walchwil wohnen bleiben. Mit der Gemeinde aber will ich nichts mehr zu tun haben.»
Peter Casanova gewinnt gegen das Rektorat der Schule und die Zuger Direktion für Bildung. Die Beschwerdefrist endet am 15. August. Das Verwaltungsgericht entschied, dass der Staat die Kosten des Audiopädagogischen Diensts für Alexander tragen muss. Gemeinde und Kanton teilen sich die Kosten also je zur Hälfte.
Es handelt sich um einen Grundsatzentscheid, den das Gericht damit begründet, dass Audiopädagogik gleich zu behandeln sei wie Logopädie, für die es im Kanton seit zehn Jahren eine gesetzliche Grundlage gibt.
Zudem würde die Verweigerung der Kostenübernahme ein hörbehindertes Kind anderen Kindern gegenüber schlechterstellen und ihm die Integration in eine Privatschule verwehren, was einer Verletzung des Diskriminierungsverbots gleichkomme.
6 Kommentare
Kantönligeist - ja das ist eben so in der Schweiz. Ich zahle in Bern auch viele Tausend Franken mehr Steuern als z.Bsp. in Solothurn oder Zürich oder Zug. Ist also nicht richtig eine grosse Geschichte / grosse Ungerechtigkeit.
Da gibt’s nur zwei Möglichkeiten: Wohnort wechseln oder auf die Zähne beissen und bezahlen.
Sehr geehrter Herr Belmi,
danke für Ihren Rat umzuziehen, dazu mache mich mir tatsächlich Gedanken, aber mit drei schulpflichtigen Kindern und einem Einfamilienhaus ist das nicht ganz so einfach. Im Grunde geht es bei Alexander um eine ganz gemeine und völlig inakzeptable Diskriminierung von einem Gehörlosen. Dazu gibt es ein Rechtsgutachten, als der Kanton Zürich ca 2010 sein Schulgesetz revidiert hat um ebendiese Diskriminierung zu vermeiden. Mein Sohn braucht Unterstützung durch den APD (Kostenpunkt ca. 40'000 pro Jahr), die bezahlt der Kanton Zug, sofern ich ihn in die öffentliche Schule schicke. Aber wenn ich ihn dorthin schicke, geht er unweigerlich unter (Klassengrösse, Hintergrundlärm), dort er hat schlicht keine Chance. Es gibt in der ganzen Schweiz keinen einzigen CI-Träger mit seiner Konstellation (nur auf einer Seite implantiert, sehr spät und eingeschränkter Frequenzbereich), der das geschafft hat. Also müsste ich Alexander zurück in die Sonderschule schicken. Dann wäre der Kanton Zug gerne bereit, neben der APD-Unterstützung auch die Schulkosten, den Weg oder das Internat zu bezahlen (Kostenpunkt ca 160'000 pro Jahr). Das würde viel mehr Kosten, er könnte sein grosses Potential nicht annährend ausschöpfen, dafür würde ich mir die Schulkosten (25'000 pro Jahr) sparen und mir mein ganzes Leben lang Vorwürfe machen. Lesen Sie meine Artikel dazu in der Zuger Zeitung vom 11.2.2020 und vom 20.5.2020. Ich stelle sie Ihnen gerne zu, ebenso wie sämtliche Hintergrundunterlagen und Gerichtsdokumente. Mit freundlichen Grüssen, Peter Casanova
Guten Tag,
wieder einmal mehr: Der Beobachter reisst ein Thema an, für die Lösung aber selbst ja keinen Finger rühren. Das war früher nicht so: Da standen Mannen hinter den Problemen und kämpften für unser Recht. Und heute?
Freundliche Grüsse A. Matter
Sehr geehrte (r) A. Matter,
Der Beobachter hat mir aber die Chance gegeben, über diese völlig absurde und beschämende Situation zu berichten, dafür bin ich äusserst froh.
Im Konzept Sonderpädagogik des Kantons Zugs existiert ein Fall wie mein Sohn Alexander nicht. Entweder ist das Kind in der Sonderschule oder in der öffentlichen Schule. Entscheiden die Eltern (in unserem Fall waren wir dazu gezwungen) zum Wohle des Kindes, fallen sie aus der Norm. Von den Staatsangestellten war bisher niemand bereit, dem gesunden Menschenverstand folgend trotz besseren Wissens den von uns für alle vorteilhaften Weg zu gehen und das Reglement anzupassen oder aufgrund der spezifischen Situation einen entsprechenden Entscheid zu fällen. Das hätte der Schulpsychologische Dienst gekonnt, das hätte der Rektor gekonnt und das hätte der Regierungsrat gekonnt. Es war aber offensichtlich zu unangenehm, und deshalb haben die Behörden es mir überlassen, Beschwerden einzureichen. Dass dabei ein Kind im Zentrum steht, dessen Entwicklung inzwischen seit zwei Jahren voranschreitet und das nicht warten kann bis alle Instanzen durchlaufen sind, scheint offensichtlich tatsächlich niemanden zu interessieren.
Mit freundlichen Grüssen, Peter Casanova
Familie kämpft gegen Kantönligeist
Guten Tag Herr Casanova
um diesen Artikel überhaupt lesen zu können, muss man sich erst einmal im "Familie kämpft gegen Kantönligeist" einloggen. o.k., Sie sind dem Beobachter dankbar, dass Sie sich überhaupt äussern dürfen. Wie wäre es aber, wenn der Beobachter diesen Fall regelrecht publik machen würden? Fehlt ihm dazu der Mut? Nochmals: Wo sind die Mannen von dazumal?
Ich hoffe für Sie, dass sich die Verantwortlichen vom Beobachter wie früher einsetzen und Ihnen real geholfen wird.
Freundliche Grüsse
A. Matter
Herr Belmi
ich persönlich würde mich schämen, einen solchen Vorschlag nur auszudenken. Mit Ihrer Aussage wollen Sie doch nur sagen: Ich habe genug Geld.
Pfui Teufel