Gebärdensprache wird sichtbarer – Probleme bleiben bestehen
Gerade in Krisenzeiten ist das Bedürfnis nach Informationen für alle zentral. Hörbehinderte mussten sich Übersetzungen in Gebärdensprache aber erst erkämpfen.
Veröffentlicht am 24. April 2020 - 10:16 Uhr
Gebärdensprache ist derzeit für die breite Bevölkerung so sichtbar wie nie. Die ständigen Medienkonferenzen des Bundes zur Coronakrise werden vom Schweizer Fernsehen allesamt in einem kleinen Fenster im Bild live mit Dolmetschern übersetzt. Aber reicht das, um genügend Zugang zu zentralen Informationen zu haben?
Hörbehinderte sind auch in normalen Zeiten im Alltag mit Kommunikationsproblemen konfrontiert. Die Krise verschärft diese nun. «Am Anfang war es schwierig. Wichtige Informationen des Bundesamts für Gesundheit und des Bundesrats wurden nicht gleich in Gebärdensprache übersetzt und die Gehörlosen und Schwerhörigen hatten keinen barrierefreien Zugang», sagt Anika Heinrich, Mediensprecherin des Schweizerischen Hörbehindertenverbandes Sonos. «Gehörlose sahen sich plötzlich mit vielen Fragen konfrontiert: Was heisst Covid-19 und was steckt dahinter? Wie gefährlich ist das Virus und wie schütze ich mich? Wo melde ich mich, wenn ich krank bin?»
Von schönen Gesten und klaren Zeichen
Fragen, die plötzlich alle Menschen in der Schweiz beschäftigten. Dass sich die Informationsbeschaffung für Gehörlose oft schwieriger gestaltet, ist aber vielen nicht klar. Sie können ja alles, ausser Hören. Also auch Lesen. Wo ist denn das Problem?
Für viele Gehörlose ist Gebärdensprache die Muttersprache. Die Gebärden sind nicht einfach übersetztes Schweizerdeutsch, sondern eine eigenständige Sprache mit grammatikalischen Strukturen, die sich von den gesprochenen Sprachen unterscheiden. Deutsch ist für diejenigen, die schon gehörlos oder stark schwerhörig geboren worden sind, also eine Fremdsprache. Und es gibt nicht einfach eine einzige internationale Gebärdensprache – sie unterscheidet sich lokal genauso, wie es auch verschiedene Landessprachen gibt. Lange wurde die Gebärdensprache unterdrückt , oft auch verboten. Erst in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts setzte ein allgemeines Umdenken ein. Rund 20‘000 Personen nutzen heute in der Schweiz eine Gebärdensprache. Etwa 10‘000 Menschen in der Schweiz sind seit der Geburt gehörlos oder stark schwerhörig, rund 1 Million Menschen haben eine Hörbehinderung (mehr dazu: Faktenblatt des Schweizerischen Gehörlosenbundes).
Mit komplex geschriebenen Texten auf Deutsch haben Hörbehinderte deshalb oft Mühe und können schriftliche Inhalte in den Medien oder von den Behörden nur schwer verstehen. Umso wichtiger, dass die relevanten News barrierefrei in Gebärdensprachvideos übersetzt oder zumindest in sogenannt «leichter Sprache» verfügbar gemacht werden. Also in einer geschriebenen aber spezifisch geregelten und vereinfachten Sprache, die zum Beispiel nur aus kurzen Sätzen besteht: jeder Satz beinhaltet nur eine Aussage, auf Konjunktiv wird verzichtet und nur Aktivsätze werden eingesetzt.
«Sind wichtige Informationen nicht barrierefrei zugänglich, orientieren sich die Gehörlosen und Schwerhörigen an den Informationen im Internet und in Sozialen Medien. Oftmals sind Fake News , die nicht als solche erkannt werden, Auslöser für Panik- und Stresszustände», erklärt Anika Heinrich. Weil auch die Gehörlosenzentren, in denen viele ihr soziales Netzwerk pflegen, wegen der Krise geschlossen sind, habe der Austausch auf den Social-Media-Kanälen enorm zugenommen.
In Eigenregie erstellen Gehörlose Kurzvideos, um sich gegenseitig zu den wichtigsten Informationen zu verhelfen. Einer machte zum Beispiel darauf aufmerksam, wie häufig man beim Gebärden – so nennt man es, wenn jemand die Gebärdensprache verwendet – sein eigenes Gesicht berührt. Die Sprache besteht nämlich nicht nur aus Handbewegungen, sondern ist ein Zusammenspiel von Mimik, lautlos gesprochenen Wörtern, Körperhaltung und eben auch Berührungen des Gesichts. «Der Darsteller nutzt rote Farbe, um diese Tatsache zu verdeutlichen und am Ende des Videos ist sein Gesicht komplett rot. Damit will der Gehörlose auf die Notwendigkeit hinweisen, die Hände häufig und gründlich zu waschen», erzählt Heinrich.
Trotz teils kreativen Ansätzen – es herrscht Verunsicherung bei Gehörlosen. Wie sollen sie sich verständlich machen, wenn sie medizinische Hilfe benötigen? Gibt es Gebärdendolmetscher in Spitälern? Und wie sollen sie von den Lippen ablesen können, wenn alle Mundschutz
tragen? Die Organisation Pro Audito Schweiz
fordert Branchen, die viel mit Gehörlosen zu tun haben, deshalb auf, transparente oder halbtransparente Schutzmasken zu verwenden.
Im Verhältnis zur Menge an Informationsmöglichkeiten für Hörende sei das barrierefreie Angebot gering, sagt Eva-Maria Hedinger, Leiterin der Beratungsstelle für Schwerhörige und Gehörlose BFSUG der Region Aargau und Solothurn. Die Beratungsstellen wirken dem auf ihren Webseiten mit eigenen Informationsvideos in Gebärdensprache entgegen und führen auch Facebookgruppen, die moderiert sind, um die Verbreitung von Falschinformationen zu verhindern.
Wie sagt man «Corona» in Gebärdensprache?
Die Probleme sind vielfältiger Natur und genau wie der Rest der Gesellschaft sind Gehörlose beruflich und privat in unterschiedlichem Ausmass von der Krise betroffen. So gibt es zum Beispiel nur sehr wenige Psychotherapeutinnen und -therapeuten, die sich mit dieser Art von Behinderung auskennen und noch weniger beherrschen die Gebärdensprache. «Gerade bei längerem Andauern des Lockdowns und den möglichen Auswirkungen auf die Psyche der Menschen stellt das aber ein Problem dar», sagt Hedinger.
Zudem sei es für Gehörlose und hochgradig Schwerhörige im Homeoffice besonders herausfordernd sicherzustellen, dass die Zusammenarbeit und die Kommunikation gut klappt. Dafür brauchen sie unterstützende Hilfsmittel oder auch extra zugeschaltete Gebärdensprachdolmetscherinnen. Ganz zu schweigen von Eltern, die Kinder zuhause betreuen und ihnen bei den Schulaufgaben helfen müssen. Für sie haben die Beratungsstellen für Schwerhörige und Gehörlose eine Skype-Elternhotline in Gebärdensprache eingerichtet und bieten auch Hausaufgabenhilfe an.
Der Hörbehindertenverband Sonos veröffentlichte vor kurzem ein Online-Lernprogramm für die Gebärdensprache, das primär für Eltern von gehörlosen und schwerhörigen Kindern und deren Frühförderung gedacht ist. Babies können nämlich schon ab 8 Monaten erste Gebärden wahrnehmen und so eine auf sie zugeschnittene Sprache erlernen. Dafür brauchen sie und ihre Eltern aber eine visuelle Darstellung der Sprache, die das Programm liefert. Der Publikationstermin ist ein Zufall – aber in der aktuellen Situation für Eltern Gold wert: «Als wir mit den Arbeiten am Programm begannen, konnten wir nicht wissen, dass während dem Launch des Lernprogramms quasi Quarantäne für alle herrschen wird und niemand in die Kurse kommen kann», sagt Anika Heinrich. «Nun können wir mit dem kostenlosen E-Learning-Programm Abhilfe schaffen.»
Als der Bundesrat am 16. März per Notrecht das öffentliche und private Leben in der Schweiz weitgehend beschränkte und Tausende gebannt vor dem Fernseher klebten, waren hörbehinderte Menschen aufgeschmissen. Es fehlten die Gebärdendolmetscher. Auf Anstoss von Gehörlosenverbänden führten SRF, RTS und RSI aber wenige Tage später die neue «Bild im Bild»-Übersetzung ein. «Es handelt sich hier jeweils um eine Information in Krisenzeiten an die gesamte Bevölkerung, deshalb ist es besonders wichtig, dass auch gehörlose Menschen Zugang dazu haben», sagt Natacha Rickenbacher, Fachspezialistin Leistungen Sinnesbehinderte bei SRF.
Noch sichtbarer wird die Gebärdensprache im Angebot von SRF derzeit, weil neben den Sendungen «Tagesschau und Meteo», «Puls», «Kassensturz», «Signes» und den Bundesratsansprachen seit dem 1. April auch die Sendung «Rundschau» gebärdet ausgestrahlt wird. Dieser Ausbau der Leistungen, der unabhängig von der Coronakrise entstanden ist, basiert laut Rickenbacher auf einer Vereinbarung von SRF mit sieben Verbänden für sinnesbehinderte Menschen aus dem Jahr 2018.
Auch bei der Verwaltung intervenierten Gehörlosenverbände, woraufhin das Bundesamt für Gesundheit BAG einige Videos in Gebärdensprache und Texte in leichter Sprache zur Verfügung stellte.
Nicht nur in der Krise sind hörbehinderte Menschen darauf angewiesen, Zugang zu relevanten Informationen zu bekommen. Schon lange fordern die Verbände deshalb Verbesserungen wie etwa die Übersetzung des roten Abstimmungsbüchleins in Gebärden oder in leichter geschriebener Sprache, damit Gehörlose ihre politischen Rechte wie Wählen und Abstimmen wahrnehmen und sich differenziert informieren können.
«Politische Informationen sind ein Schlüsselelement, damit gehörlose Menschen gleichberechtigt an der Gesellschaft teilhaben und ihre Rechte wahrnehmen können» schrieb etwa der Schweizerische Gehörlosenbund in einem Dossier zum Thema. Sonst sei es unmöglich, Einfluss auf gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu nehmen. Das Bedürfnis und das Recht von Hörbehinderten auf gleichberechtigten Informationszugang werde langsam auch von offizieller Seite wahrgenommen. Die Erklärvideos der Bundeskanzlei stehen nun seit einigen Jahren auch in Gebärdensprache zur Verfügung und für die eidgenössischen Wahlen 2019 wurde auf dem Portal ch.ch auch in leichter Sprache und mit Gebärden informiert.
- Sendungen von SRF in Gebärdensprache
- Informationen zum Coronavirus vom Bundesamt für Gesundheit BAG in Gebärdensprache
- Beratung für Schwerhörige und Gehörlose / Elternberatung mit Skype
- Gebärdendolmetscher-Vermittlung von Procom
- Präsenz-Schriftdolmetschen von Pro Audito Schweiz
- Medienmitteilung zu transparenten Schutzmasken von Pro Audito Schweiz
- Gebärdensprache Lernprogramm von Sonos
- Übersicht des Weltverbands der Gehörlosen über den Zugang von Gehörlosen zu staatlichen Pressekonferenzen in anderen Ländern
- Gehörlose und Politik: Dossier des Schweizerischen Gehörlosenbundes