Paragrafen bremsen Freiwillige aus
Peter Nell unterrichtet seit Jahrzehnten Sport. Doch jetzt verknurrt ihn der Bund zum Wiederholungskurs. Kein Wunder, gibt es immer weniger Freiwillige, findet der 77-Jährige.
Veröffentlicht am 4. März 2020 - 14:59 Uhr
Ist so, weil ist so. Wer in der Schweiz Militärdienst geleistet hat, kennt das Argument, das jede Diskussion abwürgt. Peter Nell, der nie im Tenue grün steckte, lernte es mit 77 Jahren kennen.
Angefangen hat es mit einem «Marschbefehl», dem er nicht folgen wollte. Es ging um einen zweitägigen Fortbildungskurs für Experten im Erwachsensport in Magglingen BE. Ein Kurs, sagt Nell heute, der ihn komplett unterfordert hätte: «Man tanzt ein bisschen in der Turnhalle, dann gibts einen Theorieblock.»
In Peter Nells Leben dreht sich seit der Pensionierung alles um Sport. Er unterrichtete Tennis, koordinierte 20 Pro-Senectute-Velogruppen im Kanton Zürich, bildete in über 100 Kursen Leitende im Erwachsenensport aus. Während seiner Berufszeit als Lehrer und Dozent für Didaktik verfasste er diverse Lehrmittel. Kurz: Peter Nell ist ein Profi durch und durch, der den Ruhestand nicht kennt. «Ich bitte Sie, meinen Antrag wohlwollend zu prüfen», endete sein Gesuch an das Bundesamt für Sport, mit dem er um Dispensierung vom Kurs bat.
«Das Anwenden militärischer Strukturen in der Freiwilligenarbeit muss ein Ende haben!»
Peter Nell, engagiert im Erwachsenensport
Zurück kam eine Lobeshymne. Man danke ihm ganz herzlich für sein «über Jahrzehnte hinweg immenses Engagement als Seniorensport-Leiter». Als «kleines Dankeschön» war dem Schreiben ein «druckfrisches» Mikrofasertuch mit dem Erwachsenensport-Logo beigefügt. Peter Nells Antrag hingegen wurde abgelehnt – und sein Kampfgeist geweckt.
Nell gelangte auf dem Dienstweg an die nächsthöhere Instanz. Doch auch Pierre-André Weber, Chef Jugend- und Erwachsenensport, lehnte ab. «Ausnahmen sind nicht zulässig. Sie würden nicht nur gegen die Sportförderungsgesetzgebung, sondern auch gegen die Bundesverfassung verstossen, insbesondere gegen Artikel 5 (Grundlage und Schranke staatlichen Handelns ist das Recht) und Artikel 8 (Rechtsgleichheit).»
Es macht Peter Nell wütend, dass beim Bundesamt für Sport alle Fortbildungspflichtigen durch den gleichen «Fleischwolf» gepresst werden sollen – ungeachtet der erworbenen Qualifikationen und des bereits Geleisteten. Er sagt: «Das Anwenden militärischer Strukturen in der Freiwilligenarbeit muss ein Ende haben!»
Am liebsten würde er sich mit Viola Amherd, der VBS-Chefin, an einen Tisch setzen. Ihr die Sache erklären. Nell würde der Bundesrätin den dicken Ordner zeigen, in dem er alle Dokumente sammelt, die seinen Fall betreffen. Darunter auch die Verfügung, in der es heisst: «Das Gesuch von Peter Nell um Dispensation von der Weiterbildungspflicht wird abgewiesen.» Als Beilage: Rechnung Verfahrenskosten mit Einzahlungsschein, 150 Franken.
Peter Nell geht es um Grundsätzliches: «Wie geht man mit Freiwilligen um?» Es sei eine Tatsache, dass immer weniger Leute bereit sind, sich längerfristig freiwillig zu engagieren
. Man sehe es in der
Politik, in den Vereinen. Er selbst übernahm in seiner Gemeinde einen Posten in der Kirchenpflege. Er sagte für eine Amtsdauer zu – und blieb schliesslich für drei. «Nicht weil ich wollte, sondern weil man niemanden fand!»
«Das Bundesamt muss einen anderen Ton anschlagen im Umgang mit Freiwilligen.»
Peter Nell, engagiert im Erwachsenensport
Sein Anliegen sei, dass die Freiwilligenarbeit nicht den Bach runtergehe. Deshalb müsse das Bundesamt erstens den Bereich Erwachsenensport umkrempeln. Und zweitens einen anderen Ton anschlagen im Umgang mit Freiwilligen. «Die Ausbildung muss flexibler werden, basierend auf dem Dossier der interessierten Person», sagt Nell. Falls jemand Veloleiter werden wolle, müsse man ihn fragen: Was hast du bereits gemacht in dem Bereich? «Ich will eine lebendige Gesellschaft, die bereit ist, sich zu verändern.»
Beim Bundesamt verteidigt man das Festhalten am Bisherigen: «Die Weiterbildungen sind aus Qualitätsgründen eminent wichtig. Nur wenn die Expertinnen und Experten fachlich auf dem neuesten Stand bleiben und bereit sind, Neues zu lernen, können sie ihre Ausbildungsfunktion wirksam und im Sinn des Gesetzgebers wahrnehmen.»
Man werde auch künftig nicht im Einzelfall entscheiden, welche Kurse Freiwillige zu absolvieren haben. Dispensationen würden die Gefahr der Willkür in sich bergen. «Wer sollte beurteilen, wann und warum ein Erwachsenensport-Leiter dazu berechtigt ist und ein anderer nicht?»
Reformen seien hingegen im Bereich der Digitalisierung geplant. Dank einer neuen App werde man künftig mehr Wissen zu Hause oder unterwegs erwerben können. «So könnte die Präsenzzeit bei einer Ausbildung möglicherweise verkürzt oder anders genutzt werden.»
Für Peter Nell ein schwacher Trost. Seine Lehrberechtigung als Experte wird ihm aberkannt. Er wird sozusagen – unter Protest – ehrenhaft entlassen. Jetzt kümmert er sich um die Velogruppe, die er für die Pro Senectute Kanton Zürich ins Leben gerufen hat: Thementouren in Zürich. Los gehts im März. Das Mikrofasertuch hat er entsorgt.
5 Kommentare
".. Gefahr der Willkür .." diese Bedenken zeugen eher von Führungsschwäche. An Schweizer Universitäten wird man bei offiziellen Studiengängen für gewisse Module dispensiert, wenn der entsprechende Nachweis - praktisch oder theoretisch - erbracht werden kann. Wenn das dort möglich ist, verstehe ich dies bei der Freiwilligenarbeit überhaupt nicht. A propos "Qualität": hat nicht der Nationalrat vor nicht allzu langer Zeit darüber debattiert, ob die Grossmutter ein Zertifikat braucht, um ihre Enkelkinder zu hüten? Ich wünsche gewissen Beamten und Politikern anstelle von Paragraphentreue etwas mehr Weitsicht und zugleich Bürgernähe.
Das sind die Folgen des Diktats des lebenslangen Lernens. Wer das erfunden hat, weiss ich nicht, ist aber mit den sich ergebenden Konsequenzen völliger Quatsch, denn die Funktionäre des Bundes unterscheiden nicht, ob denn der Kursteilnehmer fähig ist für seine Aufgabe oder ob er wirklich eine Weiterbildung braucht. Ich war während 45 Jahren Lehrer und habe mich in den vorgeschriebenen und von der Schulleitung verordneten Kursen meistens gelangweilt. Das Ergebnis war eine umfassende Demotivierung in Sachen Weiterbildung.
Verstehe nicht, wieso er von der Weiterbildung befreit werden soll? Wenn er als Experte tätig sein will, dann gehört es dazu, dass er sich weiterbilden lässt. Ansonsten kann er seine Anerkennung nicht mehr verlängern - ganz einfach. Schliesslich verdient er ja doch einen kleinen Zustupf mit seiner Expertentätigkeit. Dies sollte er von seiner Lehrertätigkeit auch kennen - da sollte er doch auch jährlich Weiterbildungen besuchen um auf dem laufenden zu sein.
Ich habe ähnliche Erfahrungen gemacht in einer Doppelfunktion als J&S Leiter und Coach in der gleichen Sportart: Am einen Ort habe ich geleitet, an einem anderen gecoacht. Man würde annehmen, dass nach dem Besuch einer Coachweiterbildung auch der Leitertitel erneuert wird. Schliesslich überwacht der Coach die Qualität der Leiterarbeit, d.h. er müsste dies eigentlich auch selbst machen können. Aber nein, zur Auffrischung des Leitertitels muss ein separater Anlass mit fast identischen Inhalten besucht werden. Danke J&S.
Ab 2021 werden voraussichtlich die gefässe Jugend- + Kindersport übergreifend gültig sein. Der Coach bleibt weiterhin eigenständig. Das der Bund träge ist, ist nichts neues. Sie erhalten eine separate Entschädigung als Coach, das sollte ihnen den halben Tag wert sein... Weiter gibt es doch ein paar Sonderheiten, die ein Coach wissen sollte - und: ein Coach setzt grundsätzlich KEIN Sportartenwissen voraus.