«Noch nie war es so notwendig, solidarisch zu handeln»
Der Schweiz kommen die Freiwilligen abhanden. Arbeitspsychologe Theo Wehner sagt, warum das für uns alle dramatisch ist.
Veröffentlicht am 1. Februar 2019 - 17:46 Uhr,
aktualisiert am 31. Januar 2019 - 15:27 Uhr
Beobachter: Immer weniger Schweizerinnen und Schweizer engagieren sich ehrenamtlich oder in einem Verein. Was läuft schief?
Theo Wehner: Die Gründe liegen in der veränderten Arbeitswelt. Die Ansprüche an Mobilität und Flexibilität sind gestiegen. Das macht es schwieriger, andere Lebensbereiche zu integrieren. Abstriche macht man nicht beim Hobby oder bei der Familie. Man verzichtet auf Freiwilligenarbeit.
«Mir fehlt die Zeit» – ist das nicht einfach eine Ausrede?
Zeitmangel ist ja nicht die einzige Ursache. Ein Problem ist auch die Verbürokratisierung der Organisationen. Es gibt Vereine, die führen Mitarbeitergespräche
durch. Man weiss ja, was für ein Unsinn das am Arbeitsplatz sein kann. Und jetzt soll man diese Prozedur auch noch als Freiwilliger über sich ergehen lassen? Das ist absurd.
Wie kann man Gegensteuer geben?
Die Organisationen müssen agiler und fantasievoller werden. Viele sind träge Dampfer, die es am liebsten sehen, wenn sich die Leute regelmässig und über viele Jahre engagieren, wie verlässliche Arbeitnehmer. Doch diese Freiwilligen gibt es immer seltener. Für ein Projekt kann ich mich schneller begeistern als für eine dauerhafte Verpflichtung.
Für Grossereignisse wie eine WM lassen sich also leichter Freiwillige finden?
Genau. Aber auch da mangelt es an Kreativität, etwa bei der Anerkennungskultur. Es reicht nicht, dass mir der Verband ein Paar Turnschuhe für treue Dienste überreicht, wenn ich bereits 28 Exemplare habe. Ein Einsatz muss von der Gesellschaft höher wertgeschätzt werden. Damit ich das mit Stolz in den Lebenslauf schreiben kann.
Darf die Zugehörigkeit zu einem Verein im Bewerbungsgespräch eine Rolle spielen?
Wenn Sie als Bürger der Zivilgesellschaft etwas zurückgeben, ist das doch ein Asset, ein Plus! Bei der Personalauswahl sollte das positiv ausgelegt werden. Vielfach gilt Freiwilligenarbeit jedoch als Malus: Der ist ja noch in zwei Vereinen, der kann ja an gar keinem Wochenende arbeiten.
Wann ist der richtige Zeitpunkt, um eine freiwillige Tätigkeit aufzunehmen?
Aus der Forschung wissen wir, dass der Mensch in der mittleren Lebensphase zur Philanthropie findet. Die Familie ist gegründet, die Kinder verlassen in absehbarer Zeit das Haus. Etwas zurückzugeben ist eine wichtige Lebensaufgabe. Wer daran scheitert, schlittert in eine Midlife-Crisis. In dieser sensiblen Phase müssen Sie als Bürger in die Freiwilligenarbeit finden, sonst droht Vereinsamung
. Oder Sie gehen nur noch reisen.
100'000 Personen bekleiden in Gemeinden, Kantonen und beim Bund politische Ämter.
Was habe ich davon, wenn ich mich freiwillig engagiere?
Am Arbeitsplatz müssen Sie Ihre Existenz sichern. Aber Sinn finden Sie häufig nur ausserhalb, beim Hobby oder bei der Freiwilligenarbeit. Die Leute sagen: «Für eine sinnvolle Aufgabe würde ich auf Karriere und Geld verzichten
.» Das sagt viel aus über unsere Arbeitswelt. Gemäss einer Studie wünschen sich 80 Prozent der Angestellten wöchentlich eine Stunde Zeit, um darüber nachdenken zu können, was genau sie hier machen. Welchen Sinn das alles ergibt. Für sie, für die Gesellschaft. Das kommt im Büro zu kurz, deshalb ist das Commitment zum Verein viel grösser.
Man holt sich, was einem im Büro fehlt.
Es gibt Bedürfnisse, die am Arbeitsplatz nicht befriedigt werden. Da muss was anderes her, als Ergänzung oder sogar als Kompensation. Der Trampilot zum Beispiel findet es gut, dass die Passagiere ihn nicht ständig anquatschen, und ist froh, gibt es die Scheibe hinter dem Cockpit. Aber seine sozialen Bedürfnisse kommen vielleicht zu kurz. Er plaudert beim Fahrerwechsel 30 Sekunden mit dem Kollegen – ansonsten ist er meist allein. Also meldet er sich als Freiwilliger beim Besuchsdienst. Um mal eine Stunde mit Frau Meier zu sprechen und sie im Rollstuhl durch den Park zu schieben.
Gleichzeitig sind unbezahlte Praktika in die Kritik geraten.
Ja, da gibt es einen Fehler im System. Volontäre bringen etwas mit, was man von niemandem bekommt, der fest angestellt ist: eine Sicht von aussen. Deshalb können externe Berater ja auch viel höhere Honorare verlangen als interne Experten. Praktikanten
müssten eigentlich gut bezahlt werden.
Wie sähe denn der perfekte Job aus?
Es braucht mehr Fantasie und weniger Bürokratie. Der perfekte Job lebt von Durchmischung. Dass man auch Aufgaben übernehmen darf, die sonst an Laien delegiert werden. Der Trampilot nochmals: Er lacht mit Frau Meier, darf sie in den Arm nehmen. Die Pflegeperson sitzt derweil am PC und füllt Excel-Tabellen aus. Am Abend kommt sie ans Bett von Frau Meier, und die sagt dann: «Ich will den Pfleger von heute Nachmittag!» Das sind natürlich Kränkungen für jemanden, der berufsmässig Menschen betreut.
660 Millionen Stunden Freiwilligenarbeit wurden 2016 in der Schweiz geleistet – viele davon in den rund 100'000 Vereinen.
Aber der Laie ist ja nicht professionell unterwegs, darum heisst er ja Laie…
Die Schweiz hat eine grosse Miliztradition. Aber die verliert sie zusehends. Weil man für bürokratische Dienste keine Bürger findet. Ein Schulpfleger muss heute Bildungsbeauftragter sein, der verlängerte Arm der Bildungsdirektion. Wer will das freiwillig?
Von der Professionalisierung der Behörden verspricht man sich mehr Qualität.
Eine Ergänzung wäre gut. Der Laie als Korrektiv. Es ist ein Irrtum, zu glauben, dass Professionalität das Scheitern verhindert oder Fehler minimiert. Sie maximiert den Bürokratismus und verstärkt die Legitimationsmacht einer Behörde. Dem Bürger wird Unabhängigkeit genommen. Schauen Sie sich den Postauto-Skandal
an: Da muss man ein grosser Profi sein, um das so hinzukriegen. Oder die Finanzkrise, die wurde von Experten gemacht. Laien waren da keine beteiligt.
Wann brauchts den Profi, wann den Laien?
Die Justiz liefert ein gutes Beispiel. Wenn sich Nachbarn wegen einer Lappalie in die Haare geraten
, genügt in der Regel ein Laienrichter. Bei komplizierten Mordfällen hingegen ist das Geschworenengericht keine gute Wahl.
Viele Kantone haben die Laienrichter abgeschafft. Was geschieht, wenn Laien keine Rolle mehr spielen?
Man sieht es in der Medizin. Da gibts nur noch Vollprofis mit grosser Expertise – oder zweifelhafte Esoteriker. Jetzt googelt jeder seine Symptome und landet bei Kräutern aus dem Urwald oder schamanischen Ritualen. Keine gute Entwicklung.
In vielen Gemeinderäten sitzen heute Unfreiwillige. Wären kürzere Amtszeiten oder mehr Sitzungsgeld eine Lösung?
Es mangelt an Wertschätzung und Respekt für Milizarbeit
. Bevor man an den Regeln rumfummelt, muss am Selbstverständnis gearbeitet werden. Sonst wirkt mehr Entschädigung nur wie Schmerzensgeld und Amtszeitverkürzung wie Kollapsprävention.
34 Milliarden Franken ist die geleistete Freiwilligenarbeit pro Jahr wert. Wenn man Haus- und Familienarbeit dazuzählt, wird der Wert unbezahlter Arbeit gar auf 408 Milliarden geschätzt.
Wird die Freiwilligenarbeit verschwinden?
Einen Staat ohne Freiwillige wird es nicht geben. Es wird immer bezahlte Arbeit geben, unbezahlte Arbeit und Arbeit, die liegenbleibt, die niemand macht, weil sie nicht als Arbeit erkannt wird. Lange haben wir uns nicht um das Plastik im Meer
gekümmert. Es wurde nicht erkannt, dass das womöglich eine Arbeit wäre, den Dreck rauszufischen. Wenn wir in 30 Jahren so etwas wie ein bedingungsloses Grundeinkommen haben, braucht es uns hoffentlich nicht nur noch als Konsumenten. Wir sind tätige Wesen. Ich glaube nicht, dass wir dann alle in der Hängematte liegen werden, sondern dass wir uns mit Dingen beschäftigen, an die heute noch niemand denkt.
Es gibt kein selbstloses Tun. Wer altruistisch handelt, handelt letztlich doch aus Eigennutz.
Ist es selbstlos, Kinder in die Welt zu setzen? Oder, wie über Jahrhunderte der Fall, purer Eigennutz, weil Altersabsicherung? Die reinen Formen sind sicher selten. Freiwilligenarbeit ist auf jeden Fall immer multikausal, sie hat mehrere Gründe. Ich will meine Werte zum Ausdruck bringen, etwas lernen, suche den sozialen Austausch. Das ist weder rein uneigennützig noch purer Egoismus. Wir hatten noch nie so viele individuelle Freiheiten. Gleichzeitig war es gesellschaftlich noch nie so notwendig, solidarisch zu handeln. Die Individualisierung steht der Gemeinwohlorientierung diametral entgegen. Wenn wir aber die Dinge nicht mehr gemeinsam bewerten und uns um Verständigung über die Fakten bemühen, kann es passieren, dass irgendwo ein Präsident behauptet, die Klimaerwärmung
sei eine Erfindung der Chinesen. Und ein grosser Teil der Bevölkerung wird ihm glauben.
Braucht es ein dickes Portemonnaie, um altruistisch zu sein?
Freiwilligkeit muss man sich leisten können. Philanthropie ist eine bürgerliche Tugend. Stifter wie Microsoft-Gründer Bill Gates kennen die Apostelgeschichte, in der es heisst: Geben ist seliger als Nehmen. Hoffentlich hat Gates auch dem Staat stets den Zehnten abgeliefert. Mir wärs manchmal lieber, die grosszügigen Stifter hätten auch ihre Steuern vernünftig bezahlt, dann könnte die Gesamtgesellschaft sich überlegen, was sie mit dem Geld anfangen will. Wer eine Stiftung gründet, will Einfluss ausüben und hegt auch immer ein gewisses Misstrauen gegenüber dem Staat und der Zivilgesellschaft.
Und er hat den Wunsch, dass ein Spital seinen Namen trägt: «Zuckerberg San Francisco General Hospital», zum Beispiel.
Genau. Und nicht anders. Wir haben hier an der ETH einen Hilti-Hörsaal. Ich hätte den nicht gebraucht. Raum HS G 5 wäre mir ausreichend.
Ist Altruismus lernbar?
Altruismus ist auf jeden Fall kein klassischer Trieb. Altruismus ist eine Verhaltensform. Um sie zu erlernen, sind Vorbilder nötig. Das können die Eltern
sein, ein Lehrer, der Nachbar. Man lernt, indem man nachahmt: So, wie der durch die Welt geht, möchte ich das auch. Natürlich kann man Freiwilligkeit auch per Instruktion lernen. Die Feuerwehr, die einen Tag lang zeigt, was sie macht. Aber auch dann wird Tieferliegendes angesprochen. Als Achtjähriger den Helm auf dem Kopf zu haben oder den Löschschlauch in der Hand – das ist einfach ein schönes Gefühl.
zur Person
In der Lokalpolitik gibt es immer weniger freiwilliges Personal. Deshalb hat der Schweizerische Gemeindeverband (SGV) das Jahr 2019 zum «Jahr der Milizarbeit» erklärt. «Die Erhaltung und Weiterentwicklung des Milizsystems hat für uns oberste Priorität», schreibt der SGV. Eigene Aktivitäten und solche in Zusammenarbeit mit Partnern aus Wirtschaft, Gesellschaft und Forschung seien geplant.