Die essbare Stadt
Vor sechs Jahren haben drei engagierte Bürgerinnen und ein Guerillagärtner beschlossen, ihr englisches Städtchen in ein Paradies der Selbstversorgung zu verwandeln. Heute reicht der Ruf von Todmorden um die ganze Welt.
Veröffentlicht am 2. Juni 2014 - 09:22 Uhr
Die Küche von Mary Clear – 58 Jahre alt, vier Kinder, elf Enkelkinder – kann getrost als gemütlich bezeichnet werden. Von der niedrigen Decke hängen Pfannen, da und dort meditieren dekorative Terrakotta-Buddhas, und auf dem Fenstersims stehen in Reih und Glied Einmachgläser, die mit weissen Körnern, Gewürzen und Blüten gefüllt sind: ein Experiment, aromatische Salz- und Zuckermischungen herzustellen. In der Mitte des Raums steht ein grosser Holztisch, der geradezu zum Verweilen, Teetrinken und Diskutieren zwingt. Tatsächlich wurde an diesem Tisch eine Bewegung geboren, die weltweit Beachtung und Nachahmer gefunden hat.
Es war kurz vor Weihnachten 2007. Pam Warhurst, damals 57 Jahre alt, Mutter einer erwachsenen Tochter und passionierte Verfechterin des fast schon altmodischen Gedankens, dass Menschen gemeinsam mehr erreichen können als allein, hatte eben einen Vortrag von Tim Lang gehört. Der Regierungsberater in Sachen Nachhaltigkeit hatte in einer flammenden Rede erklärt, dass – und vor allem wie – wir dem Planeten und den Menschen zuliebe die Art unserer Nahrungsbeschaffung ändern müssten. «Was er sagte, konnte man in einem Satz zusammenfassen», erinnert sich Pam: «Wir müssen anfangen, uns selber mit Nahrungsmitteln zu versorgen.»
Drei Stunden später sass Pam in Marys Küche, und die zwei Frauen brüteten das Konzept von «Incredible Edible Todmorden» aus. Im bis zum Bersten vollen Bear Café, dem Treffpunkt der Idealisten von Todmorden, stellten sie ihre Ideen vor. Das Konzept war noch vage, auf jeden Fall verwegen, vielleicht auch ein bisschen verrückt – und doch überzeugend: Incredible Edible Todmorden (IET) war aus der Taufe gehoben. Im Rausch des Neuen steckten Pam und Mary das Ziel hoch: In zehn Jahren, so verkündeten sie, würde Todmorden selbstversorgend sein.
Die Idee gefiel Nick Green, der in Todmorden eine Reparaturwerkstätte für Oldtimer aufgebaut hatte und sich als Guerillagärtner betätigte. Zuerst hatte er einen Dreckhaufen in ein Kräutergärtchen verwandelt, in dem sich alle bedienen durften. Die Idee schlug ein. Green begann dort, wo es nicht auffiel, Gemüse und sogar Bäume zu pflanzen. «Überall gab es Flecken, für die sich niemand interessierte. Ausser uns.» Bald waren die Gemüsegärten am Strassenrand ein Stützpfeiler der IET-Philosophie.
Deren Echo hallt heute weit über die Grafschaft Yorkshire hinaus. «Vegetable Tourism», Gemüsetourismus, ist das Schlagwort des Moments in Todmorden. Längst muss sich der Verein IET nicht mehr um finanzielle Unterstützung durch die Behörden bemühen. «Denn inzwischen organisieren wir unseren Gemüsetourismus richtig», erklärt Estelle Brown. Sie ist 69 Jahre alt, lebt auf einem Hausboot und ist bei IET für die Pressearbeit, das Computernetzwerk und die Touristen zuständig. 2013 besuchten weit über 1000 Anbauschlachtenbummler Todmorden. Menschen aus Venezuela, den USA, Japan und aus ganz Europa.
«Als alte Ladys mussten wir viele neue Tricks lernen», sagt Estelle. «Zum Beispiel den, wie man im Netzwerk einen Kalender teilt. Denn wenn eine von uns tot umkippt, müssen die anderen ja wissen, was Sache ist.» Heute ist der Vorstand der National Federation of City Farms and Community Gardens zu Gast. Man trifft sich in der düsteren Unitarian Church, die oben am Hang über Todmorden wacht. Die Wahl der Örtlichkeit hat rein praktische Gründe – billig, geräumig, pittoresk –, zielt aber auch auf den Geist. Die Bevölkerung von Yorkshire geniesst den Ruf, eigensinnig zu sein. So passt es irgendwie, dass die aus Transsilvanien stammende radikale Sekte der Unitarier ausgerechnet in Todmorden Fuss gefasst hat. Und dass Mary und Estelle in ihrer Kirche Pasteten, Erdbeertörtchen und Kräutertee servieren, um den führenden Köpfen aus der Zunft der Stadt- und Gemeinschaftsgärtner die Philosophie von Incredible Edible zu erklären.
Zu Queen Victorias Lebzeiten im 19. Jahrhundert zählte Todmorden 25 000 Einwohner und lebte von der Textilindustrie. Die Grenze zwischen den Grafschaften Yorkshire und Lancashire führt mitten durchs Zentrum. In Yorkshire wurde Wolle produziert, in Lancashire Baumwolle; Todmorden nahm eine wichtige Funktion als Drehscheibe ein. Die letzten Spinnereien stellten in den 1970er-Jahren den Betrieb ein, die Bevölkerung schrumpfte auf etwa die Hälfte. Mit Neid und Verachtung blickte man auf das benachbarte Hebden Bridge, das es irgendwie geschafft hatte, leere Fabriken und Arbeiterhäuschen mit Künstlern und «groovy People» zu füllen.
Todmorden hatte es sogar verschlafen, sich um den Tourismus zu kümmern. Dabei erstreckt sich rundum eines der schönsten Wandergebiete Englands. Im grünen Tal der Ort mit dem eleganten Eisenbahnviadukt. Über den felsigen Abhängen die Hochebene mit gespenstischen Hügelzügen, einsamen Höfen und zeitloser Weite. Nicht zu vergessen das kühne Projekt aus dem 18. Jahrhundert, der Rochdale Canal, auf dem man heute wieder im Langboot durch unzählige Schleusen talauf und talab von Manchester nach Leeds tuckern kann. Aber eben: Todmorden hatte man nach einer halben Stunde so ziemlich gesehen. Doch dann kam das Gemüse!
Eigentlich hatte man den Slogan «Incredible Edible» patentieren wollen. Aber BBC TV war schneller gewesen und hatte sogleich ein Gesamtkonzept mit Büchern, Lehrmaterialien und Küchenutensilien daraus gemacht. Doch die Damen von IET konnten beweisen, dass sie den Slogan geprägt hatten. Man einigte sich darauf, einander nicht zu verklagen: «Das hätte nur die Anwälte noch reicher gemacht. Und jedes Mal, wenn die BBC ‹Incredible Edible› sagt, denken die Leute an uns», sagt Pam Warhurst. Rund 50 Incredible-Edible-Gruppen gibt es heute in Grossbritannien, darunter ganze Grafschaften wie zum Beispiel Monmouthshire.
Längst beschränkt sich das Konzept nicht mehr auf die Insel: Weltweit gibt es rund 150 anverwandte Gruppen. Gerade war Nick Green in Osteuropa, um für das Konzept zu werben. Mary und Pam können sich der Einladungen, als Rednerinnen aufzutreten, kaum erwehren. So sprach Mary an der Weltkonferenz der Stadtplaner in Nantes. Die Tageszeitung «The Guardian» führt IET auf der Liste der 50 wichtigsten radikalen Neuerer von heute. Dabei sucht IET die Öffentlichkeit gar nicht. «Wir haben noch nie ein Pressecommuniqué geschrieben», sagt Mary Clear. «Eine Zeit lang überlegten wir uns, ob wir uns mit Sponsoren zusammentun sollten. Aber wieso auch? Wir haben keine Visitenkarten, kein PR-Material, keinen Aktenschrank. Unsere Küchen sind unser Büro. Die Freiheit tut gut.»
Drei Grundpfeiler gebe es im IET-Modell, erklärt Mary Clear: Community («das sind wir alle»), Learning («das Weitergeben von Wissen») und Business («Nachhaltigkeit auf finanzieller Ebene»). Dogmen sind verpönt: Alle sind willkommen, Fleischesser, Veganer, Linke, Rechte – nur keine Straussenvögel mit dem Kopf im Sand.
Die ersten Beete, die IET offiziell bepflanzte, befanden sich beim Bahnhof. Als die Kartoffeln reif waren, kamen sie über Nacht weg. Zuerst seien sie zornig gewesen, gesteht Mary. «Aber dann erkannten wir, dass das ja der Sinn der Sache war: Gemüse für alle.»
Mit Stolz führt Estelle eine Reisegruppe über zwei Stunden lang durchs Städtchen. Am Kanal zeigt sie den Bienenstock und die Insektenhotels. Vor der zugenagelten Villa, wo der Arzt und Serienmörder Harold Shipman seine ersten Opfer tötete, wachsen Erbsen, Kohl und Mais. «Ask not what your town can do for you … but what can I do for my town», hat Mary an die Wand gesprayt. Frag nicht, was deine Stadt für dich tun kann, sondern: Was kann ich für meine Stadt tun? Kamille, Kräuter, Johannisbeeren und Rhabarber gibt es vor der Gemeinschaftspraxis. Beim Arbeitsamt wachsen Zucchetti, Zwiebeln, Sellerie und Karotten, vor der Berufsschule Lauch, Rosenkohl, Broccoli, Bohnen und Erbsen. Auch die Beete vor dem Polizeiposten sind säuberlich beschriftet.
Die Polizisten sind grosse Fans von IET. Wenn sie eine Marihuanaplantage ausgehoben haben, bringen sie beschlagnahmte Wärmelampen, Düngemittel und Töpfe zu Mary. «Recycling nennt man das», sagt sie. An einer Konferenz zum Thema Kriminalitätsbekämpfung in Glasgow soll sie einen Vortrag halten: «Unsere Polizisten sind überzeugt, dass wir mit Incredible Edible das Lebensgefühl in Todmorden verbessert und somit dazu beigetragen haben, dass die Kriminalitätsrate gesunken ist.»
Die Behörden vertreten mehrheitlich eine ähnliche Meinung. «Die Industrie ist am Aussterben. Wir brauchen neue Wege, um die Stadt zu beleben», sagt Gemeinderat Josef Rez. Zu Beginn stellte die Gemeinde Incredible Edible kleine Landflecken zur Verfügung und überwies ein wenig Geld. Heute unterstützt sie allenfalls noch die Finanzierung einzelner Projekte. «Aber es kostet uns nicht viel. Letztes Jahr vielleicht 4000 Pfund.» Neustes Resultat der Zusammenarbeit ist die Pollination Street, die Bestäubungsstrasse. Hinter der Markthalle hat die Gemeinde auf einem brachliegenden Platz Bänke und Tische aufgestellt, IET ein Gemüseparadies eingerichtet.
Aber nicht alle Bürger stehen hinter Incredible Edible. David O’Neill war früher Bürgermeister und gehört heute noch dem Gemeinderat an. «Was, wenn die Initianten sterben? Das Interesse verlieren?», fragt er. «Wer räumt dann die vermoderten Gemüsebeete weg?» Immer wieder beschwerten sich Leute, dass in ihrer Strasse eine Gemüsebox aufgetaucht sei, ein Hindernis, über das man leicht stürzen könne. (Laut Mary Clear hat IET seit mehreren Jahren keine solchen Boxen mehr eingerichtet.) Das sei eben typisch für die Menschen von Yorkshire, sagt O’Neill. Sie seien verstockt und beschwerten sich nur hintenherum. Bei ihm. Aber nie so heftig, dass man etwas unternehmen müsse.
Etwas stört auch ihn selber: «Man würde meinen, dass wichtige Besucher zuerst den Bürgermeister begrüssen. Aber was passiert? Prinz Charles kommt nach Todmorden, eine Gruppe von Polizisten aus Indien kommt nach Todmorden, Premierminister David Cameron kommt nach Todmorden – und sie alle treffen nicht den Bürgermeister, sondern Incredible Edible!»
Philip Walters kommt dahergeradelt. Er gehörte früher auch dem Gemeinderat an. «Eine Schande ist das!», wettert er los. «Der Polizeiposten: der reinste Dschungel! Niemand hat uns gefragt. Die Gemeinderäte sind vom Volk gewählt. Incredible Edible nicht. Und dann kommt der Prinz daher, unser künftiger König, und ist bis über beide Ohren verliebt in Incredible Edible. Er kommt nicht wegen Todmorden. Er kommt, um all diese … diese Lesben zu treffen!»
Die Statistiken sprechen eine andere Sprache: 96 Prozent der Befragten freuen sich, dass auf öffentlichen Plätzen Gemüse wächst. 67 Prozent bedienen sich dort. 57 Prozent haben angefangen, selber Gemüse zu pflanzen, Hühner zu halten oder auf andere Weise Lebensmittel herzustellen. 300 eingeschriebene Mitglieder beteiligen sich regelmässig aktiv.
Unter der Schirmherrschaft von IET, jedoch als unabhängiges Unternehmen, experimentiert die Incredible Farm mit effizienten Anbaumethoden. Finanziert wird das Unternehmen nicht zuletzt über Kurse für Jugendliche und Erwachsene und sogar Motivationsausflüge für Firmen aus der Stadt. Ebenfalls von Incredible Edible angestossen und inzwischen selbständig ist der Aqua Garden. Ursprünglich in einem Zimmer der Sekundarschule eingerichtet, hat er im vergangenen Jahr hochmoderne eigene Räume bezogen. Hier werden Pflanzen hydroponisch (auf anorganischem Substrat) und aquaponisch (in Wasser mit Fischen) angebaut.
So erstaunlich die Errungenschaften von Incredible Edible auch sind: Todmorden wird im Jahr 2018 nicht selbstversorgend sein. Trotzdem: «Das sollte nicht bloss ein knackiger Slogan sein», protestiert Mary Clear. «Der Satz kam aus dem Moment heraus, und damals wollten wir ambitiös sein, eine Bewegung starten, die Welt verändern. Und alles ganz schnell, denn wir sind ja nicht mehr die Jüngsten.» Sie weiss, dass Todmorden nie ganz selbstversorgend sein wird. «Aber wir glauben an die Wirkung der kleinen Tat. Dazu gehören Verantwortungsgefühl und Stolz. Früher war ich die Einzige, die auf der Strasse die leeren Dosen auflas. Jetzt machen das noch ein paar andere Leute. Und es werden mehr und mehr.»