Warum die Kesb in der Romandie härter eingreift
Beistandschaften werden je nach Kanton anders umgesetzt. Die Unterschiede sind enorm.
Veröffentlicht am 6. Dezember 2018 - 12:34 Uhr,
aktualisiert am 6. Dezember 2018 - 16:24 Uhr
In der Schweiz stehen nach neusten Informationen 15'383 Personen unter umfassender Beistandschaft. Früher nannte man das Bevormundung. Das änderte mit dem Kindes- und Erwachsenenschutzgesetz, das vor fünf Jahren eingeführt wurde. Jetzt liegen erstmals Zahlen zu den verschiedenen neuen Formen von Beistandschaften vor.
Die erste Bilanz mit Zahlen von Ende 2017 zeigt: Die einzelnen Kantone verhängen die strengste Massnahme, die umfassende Beistandschaft, ganz unterschiedlich oft. Im Kanton Zürich gab es 532 Fälle, in der Waadt dagegen 4085 – beinahe achtmal so viel, obwohl der Kanton nur halb so viele Einwohner zählt wie Zürich. Auch im kleinen Kanton Freiburg mit seinen gut 315'000 Einwohnern wurde die Regelung 1338-mal verhängt, fast dreimal so oft wie in Zürich. Generell fällt auf: Die Zahlen in der Romandie sind höher als in der Deutschschweiz.
«Es hat sich eine unterschiedliche Behördenphilosophie eingeschlichen.»
Diana Wider, Kokes-Generalsekretärin
Die enormen Differenzen hängen mit dem unterschiedlichen Ausbau des regionalen Versorgungssystems sowie mit der teilweise unterschiedlichen Praxis der Behörden zusammen, schreibt die Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz (Kokes). Die Kesb-Stellen in der Romandie sind mehrheitlich als Gerichtsbehörde ausgestaltet, in der deutschen Schweiz sind sie dagegen meist in die Verwaltung integriert.
«Aufgrund des Spielraums, den das Kesb-Gesetz vorsieht, hat sich eine unterschiedliche Behördenphilosophie eingeschlichen», sagt Kokes-Generalsekretärin Diana Wider. Die Behörden hatten bis Ende 2016 Zeit, die nach altem Recht zustande gekommenen Vormundschaften zu überprüfen, die automatisch in umfassende Beistandschaften umgewandelt wurden. «In der Romandie und im Tessin wurden die Massnahmen mehrheitlich belassen», sagt Wider. «Die Behörden in der Deutschschweiz hingegen haben sie meist in massgeschneiderte Beistandschaften umgewandelt.»
Immer wieder heisse es, es sei unkomplizierter, eine umfassende Beistandschaft zu führen als eine Vertretungs- oder Mitwirkungsbeistandschaft, bei der jeder Aufgabenbereich des Beistands noch genau geklärt werden müsse, erzählt Diana Wider. «Dabei wird übersehen, dass man mit dem neuen Erwachsenenschutzrecht massgeschneiderten Massnahmen den Vorzug geben wollte.» Eine Massschneiderung sei im Fall der umfassenden Beistandschaft aber gar nicht möglich – obwohl im Gesetz als Massnahme explizit vorgesehen. «Da hat der Mensch grundsätzlich keine Handlungsfähigkeit mehr.»
Zu den frappanten Unterschieden zwischen Deutsch- und Westschweiz hat die Kokes-Generalsekretärin eine weitere Erklärung: «Es kann gut sein, dass die Gerichtsmentalität in der Romandie und die Fachgremien im Wallis und im Tessin zu einfachen und klaren Verhältnissen tendieren, während die Behörden in der Deutschschweiz den Aspekt der Massschneiderung ernster nehmen.» Eine umfassende Beistandschaft sollte nur im absoluten Ausnahmefall angewandt werden, sagt Wider. «Man kann diskutieren, ob wir diesen Fall im Schweizer Recht überhaupt noch brauchen.»
Die umfassende Beistandschaft ist die weitreichendste Massnahme im Erwachsenenschutzgesetz. Sie entspricht der früheren Bevormundung. Angewandt wird sie, wenn eine Person besonders hilfsbedürftig ist – namentlich andauernd urteilsunfähig. Sie bezieht sich auf alle Bereiche: Person, Vermögen, Recht. Die betroffene Person gilt rechtlich als nicht mehr handlungsfähig .
Was darf die Kesb alles?
Eine Beistandschaft im Erwachsenenschutzrecht dient zum Schutz bzw. zur Unterstützung der hilfsbedürftigen Person. Erfahren Sie als Beobachter-Mitglied, welche Anforderungen und Pflichten ein Beistand zu erfüllen hat und wie Sie sich im Streitfall mit der Betreuungsperson schriftlich bei der Kesb beschweren können.