Die Sache mit der Ohrfeige
«Ab und zu ein Chlapf» kann nicht schaden, glauben viele Schweizer Eltern. Sie irren. Ein Gewaltverbot hätte Signalwirkung, sagen Fachleute.
Veröffentlicht am 12. September 2019 - 18:04 Uhr
Als er ihm die erste Ohrfeige verpasste, war sein Sohn acht. «Es war nach einem aufreibenden Tag, auf dem Heimweg haben die Kinder gequengelt und gestritten», erzählt Matthias Roth*. Damals lebte der Architekt mit seiner Familie in Nordafrika. Jetzt sitzt er in einem nüchternen Büro der Berner Interventionsstelle gegen häusliche Gewalt.
Ein grosser, schlanker Mann mit halblangen Haaren. Er spricht langsam, schweigt lange. Mal ist seine Stimme kräftig und bestimmt, mal kaum hörbar. «Als wir zu Hause ankamen, gab es ein Missverständnis zwischen mir und meinem Sohn. Dann habe ich ihm einen ‹Chlapf› gegeben.» Es blieb nicht bei dem einen. Über fünf Jahre hinweg habe er seinen Sohn immer wieder geschlagen, gestossen und hart gepackt. «Für mich war es jedes Mal ein Schock. Und jedes Mal dachte ich, dass es nicht wieder vorkommt.»
Seit neun Monaten besucht Matthias Roth das Lernprogramm gegen Gewalt in Ehe, Familie und Partnerschaft bei der Interventionsstelle. Er will lernen, seine Ausbrüche in den Griff zu kriegen.
«Meine damalige Frau und ich hatten uns von Anfang an auf eine gewaltfreie Erziehung geeinigt. Ich hätte die Hand dafür ins Feuer gelegt, dass mir so etwas nie passiert», sagt Roth.
Gewalt von Eltern gegen Kinder ist weit verbreitet. Zwei von drei Kindern in der Schweiz sind einer Form von körperlicher Gewalt durch die Eltern ausgesetzt. Jedes fünfte Kind wurde mindestens einmal geschlagen, zeigt eine aktuelle Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW).
Nicht nur die körperlichen Folgen sind gravierend. Gewalt führt auch zu emotionalen Verletzungen. Bei Kindern äussern sie sich in Form von Niedergeschlagenheit, Gefühlen der Hilflosigkeit und des Kontrollverlusts, geringem Selbstwertgefühl , Aggressionen, Ängstlichkeit oder späterer Alkohol- und Drogenabhängigkeit. Aus der neurologischen Forschung weiss man zudem, dass die Entwicklung der Hirnareale geschädigt werden kann, in denen die Selbstkontrolle und das Empathievermögen sitzen.
62,1 Prozent der Schweizer Jugendlichen haben einmal elterliche Gewalt erlebt. 53,7 Prozent haben Ohrfeigen erhalten.
ZHAW-Studie
Körperstrafen sind gemäss der UN-Kinderrechtskonvention nicht zulässig, auch geringfügige nicht. Doch anders als in vielen europäischen Ländern gibt es in der Schweiz kein Gesetz , das Gewalt in der Erziehung explizit untersagt. Das Strafgesetz ahndet zwar einfache Körperverletzungen und wiederholte Tätlichkeiten an Kindern. Sogenannt einfache Tätlichkeiten – also wenn keine physischen Verletzungen feststellbar sind – werden von Amts wegen aber nicht verfolgt.
Auch fahrlässigen Körperverletzungen an Kindern gehen die Strafbehörden nur auf Antrag hin nach. Das geschieht bloss in Ausnahmefällen, denn die Hürden sind hoch. Die Kinder müssten ihre Eltern anzeigen.
Politische Vorstösse gab es etliche, zudem rufen zahlreiche Institutionen die Politik immer wieder zum Handeln auf. Trotzdem lehnte das Parlament bisher eine Verschärfung des Gesetzes ab – etwa mit der Begründung, die aktuelle Gesetzgebung biete den Kindern ausreichend Schutz.
Wie viel eine Verschärfung brächte, lassen Zahlen aus Ländern erahnen, wo es ein Verbot gibt. In Österreich etwa sind Ohrfeigen seit 30 Jahren verboten. 52,9 Prozent der Jugendlichen dort geben an, dass sie gewaltfrei erzogen wurden – Weltrekord. In der Schweiz sind es bloss 42,9 Prozent der Jugendlichen ohne Migrationshintergrund.
«Im Zustand der Überforderung wissen viele Eltern nicht, wie es anders geht. Die wenigsten wenden Gewalt methodisch an.»
Britta Went, Familientherapeutin
«Ein Verbot hätte Signalwirkung», sagt die Zürcher Familientherapeutin Britta Went. Sie begleitete beim Elternnotruf viele Paare und weiss: Die Eltern sind zwar besser informiert als früher und wissen, dass man ein Kind mit Schlägen nicht zurechtbiegen kann. Trotzdem gebe es viele Übergriffe. «Im Zustand der Überforderung wissen viele Eltern nicht, wie es anders geht.» Meist aus dem Affekt heraus. «Die wenigsten Eltern wenden Gewalt methodisch an.»
Familienvater Matthias Roth sagt es so: «Es ist eine Spirale, in die ich dann hineingerate. Wenn meine Geduld am Ende ist, alles schiefläuft und ich unter Zeitdruck stehe. Ich werde trotzig, laut, schaukle mich hoch, bis ich auf den Tisch haue, eine Tür zuknalle – oder handgreiflich werde.»
Seine Frau trennte sich von ihm, sein Sohn brach den Kontakt ab. Da richteten sich seine Wutausbrüche anfänglich gegen seine heute 11- und 14-jährigen Töchter. Zwei Tage die Woche verbringen sie bei ihm – sie wollen es so. Die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) begleitet den Fall schon länger.
«Es kam so weit, dass meine jüngste Tochter sichtbar Angst vor mir bekam, wenn sie merkte, dass mein Geduldsfaden riss», berichtet Roth. Handgreiflich wurde er noch einmal, er packte die ältere Tochter an der Schulter. Seither habe er sein Verhalten weitgehend im Griff. «Aber ich kann leider noch keine hundertprozentige Gewaltfreiheit garantieren.»
In der Therapie lernt er auch, sich besser wahrzunehmen. «Ich habe realisiert, dass ich mehr Kraft habe, als ich dachte. Und dass meine Gewaltanwendung nicht mehr im harmlosen Bereich lag.» In der Gruppe habe er auch gelernt, dass es wichtig für die Töchter ist, dass er sich nicht nur nach der Tat entschuldigt, sondern sie eine Woche später erneut darauf ansprechen muss. «Das haben sie gut aufgenommen.»
Autorität lässt sich besser durch Gespräche herstellen, weiss die Erziehungswissenschaft heute. Therapeutin Britta Went empfiehlt einen sogenannt autoritativen Erziehungsstil. Persönliche und elterliche Autorität wird dabei zurückhaltend eingesetzt, man gehe aber auch nicht übertrieben stark auf die kindlichen Bedürfnisse ein. Wichtig sei, dass Eltern die Verantwortung für ihre Gefühle übernehmen. «Dann heisst es eben nicht: ‹Weil du so blöd tust, schlage ich dich.› Sondern: ‹Es macht mich wütend, wenn du dich so aufführst. Das akzeptiere ich nicht.›»
Solche Erziehungskonzepte konsequent umzusetzen ist nicht immer leicht. Wichtig sei zunächst, das Thema Überforderung überhaupt aus der Tabuzone zu holen. «Mütter und Väter sollten sich viel offener darüber austauschen, auf dem Spielplatz, bei der Arbeit, unter Freunden.» Aber auch die Politik und die Wirtschaft seien gefordert. «Wenn Familie und Beruf besser vereinbar wären und erzieherische Tätigkeit ökonomisch wertgeschätzt würde, würde das viel zu einer Entspannung zu Hause beitragen.»
Wer merke, dass seine Beziehung zu den Kindern überschattet wird von negativen Gefühlen, soll sich professionelle Hilfe holen, rät Britta Went. «Nicht allein bleiben mit dem Ist-Zustand, das ist das Wichtigste.»
Auch Matthias Roth ist froh um die Unterstützung. «Mein grösster Wunsch ist, dass ich mir selbst wieder vertrauen kann, egal in welcher Situation.»
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4 Kommentare
Wehr-, hilf- und schutzlosen Kindern Gewalt (körperlich, seelisch, sexuell) anzutun, ist feige, schäbig, armselig, zeugt von Charakterschwäche und gehört bestraft! Wir wollen, dass uns unsere Kinder – egal was sie angestellt haben und egal, was geschehen ist, stets alles anvertrauen und vertrauen können. Wir wollen nicht, dass sie aus Angst vor uns und möglichen Körperstrafen schweigen oder gar zu Lügnern werden. Dass Erwachsene nach wie vor gesetzlich besser geschützt sind als Kinder darf einfach nicht sein, ist falsch, verkehrt und muss endlich geändert werden! Bestraft sollten jedoch nicht nur die Schlägereltern, sondern auch jene, die trotz Kenntnissen der Übergriffe mangels Zivilcourage lieber feige tatenlos zu- bzw wegsehen statt zu helfen; und zwar wegen unterlassener Hilfeleistung! Denn es ist an uns Erwachsenen und unsere Pflicht und Aufgabe, die Jüngsten und Schwächsten dieser Gesellschaft vor Gewalt jeglicher Art zu bewahren und zu beschützen. Das ist das Mindeste, das sind wir ihnen schuldig!
Berichte über geschlagene, gedemütigte und erniedrigte Kinder machen mich als zweifache Mutter sehr traurig und wütend zugleich. Ebenfalls für mich unverständlich und nicht nachvollziehbar ist, dass heutzutage gewisse Eltern Ohrfeigen nach wie vor befürworten und Kinder schlagen :(. Seine Kinder mit Liebe und möglichst gewaltlos zu erziehen, hat nichts mit antiautoritärer Kuschelerziehung zu tun, sondern mit Respekt gegenüber den Kindern und Vernunft und Einsicht der Eltern. Wie sollen Kinder lernen, Schwächere nicht zu schlagen, wenn sie selber von ihren mehrfach stärkeren Eltern geschlagen werden? Wer will, dass die Kinder nicht schlagen, schlägt sie selber auch nicht! Wir Eltern müssen als gute Beispiele und gute Vorbilder voran und den Kindern wichtige Werte wie Liebe, Respekt, Anstand, Toleranz und Rücksicht täglich aktiv vorleben und vermittel, jedoch sicher niemals einprügeln. Denn uns und unser Verhalten, gutes wie eben auch schlechtes, ahmen die Kinder nach.
Als meine Schwiegertochter zum x-ten mal meine Enkelin für Ungehorsam bestrafen wollte in dem sie ihr das Eis am Nachmittag Verbot, sagte meine Enkelin: bitte gieb mir doch eine Ohrfeige, aber bitte bitte lass mich mein Eis essen.
Sollte heutzutage eigentlich jedem klar sein und denen es nicht klar ist sollten sich schämen.
Gewissen will es einfach nicht in den Kopf: Gewalt, egal welcher Art und gegen wen ist immer schlecht und kontraproduktiv.
Und wenn es dann noch gegen die eigenen, kleinen Kinder geht dann ist das dann umso unverständlicher.
Auch unverständlich wenn Politiker (oder besser gesagt Satiriker) wie Hans Fehr (SVP) sich noch positiv über das "mal die Hand ausrutscht" Gequasle äussert und so tut als wärs was gutes.
Wenn ihm aber selber Gewalt widerfährt (was auch nicht schön ist) ist es dann natürlich gleich der grösste Skandal des Jahrhunderts...
0 Tolleranz bei Gewalt gegen Kinder - alles andere ist nicht akzeptabel.