Jungs wollen Muskeln
Eine schlanke Figur ist gut, ein gestählter Body ist besser. Für dieses Ideal ruinieren einige Teenager ihre Gesundheit. Was Eltern tun können, wenn ihnen das Training ihres Sohnes Sorgen macht.
Veröffentlicht am 20. Mai 2020 - 11:31 Uhr
Drei Viertel aller Zürcher Buben und ein Drittel der Mädchen wären gern muskulöser. Rund die Hälfte der jungen Männer glaubt, dass sie dadurch selbstsicherer würden. Das ergab eine Gesundheitsbefragung von Stadtzürcher Jugendlichen im Jahr 2017. Schlank allein, da sind sich viele der befragten Jugendlichen einig, reicht nicht, um «schön» zu sein. Definierte Muskeln, athletische Körper sind das, wonach viele Teenager streben.
Das Phänomen endet nicht an der Zürcher Stadtgrenze, weiss Walter O. Frey, Leiter des Swiss Olympic Medical Center Balgrist: «Der verheerende Körperkult ist vor allem ab 14 Jahren sehr ausgeprägt und wird unter anderem durch soziale Medien und Gruppendruck angetrieben.» Während sich Mädchen im Extremfall mit der Magersuchtproblematik konfrontiert sehen, ist es bei den Buben der übermässige Muskelaufbau, der viele umtreibt. Je nach genetischer Veranlagung und Muskelfasertyp hilft jedoch auch intensives Training nichts. «Manche Buben werden dadurch zwar stark, behalten aufgrund ihrer Konstitution aber ein Leben lang schlanke Muskeln», weiss Frey.
Wann ein Jugendlicher idealerweise mit dem Krafttraining beginnen solle, lasse sich nicht pauschal sagen. «Je nach Körperbau und Entwicklungsstadium ist ein Zehnjähriger unter Umständen physisch weiter als ein 14-Jähriger.»
«Der verheerende Körperkult wird unter anderem durch Social Media und Gruppendruck angetrieben.»
Walter O. Frey, Sportarzt
Wenn sich die erwünschten Resultate nicht einstellen, greifen erschreckend viele junge Männer zu Testosteron . Offizielle Zahlen gibt es nicht. Frey vermutet aber, dass 10 bis 20 Prozent aller jungen Männer im Mittelschul- und Lehrlingsalter schon einmal solche Substanzen ausprobiert haben oder sogar regelmässig zu sich nehmen. Er stützt sich unter anderem auf Gespräche, die er mit Lehrpersonen geführt hat, und direkte Anfragen, die Jugendliche am Rande von Informationsveranstaltungen an ihn richteten.
Ein Grund für die weite Verbreitung dürfte unter anderem sein, dass die Substanzen online relativ einfach zu kaufen sind. Um Geld zu sparen, greifen manche dabei sogar zu Präparaten, die eigentlich für Tiere hergestellt wurden. «In Foren tauschen sich Jugendliche aus und geben einander Tipps, wie und in welchen Mengen sie die Substanzen kombinieren können», sagt Frey.
Für Eltern ist es vielfach schwierig, den Konsum dieser gefährlichen Substanzen zu kontrollieren, denn die Stoffe werden häufig in Pillenform eingenommen oder als Hautcreme appliziert. Manchmal sind die Folgen des Missbrauchs gravierend: Der Konsum von Anabolika kann neben psychischen Erkrankungen auch zu Leberschäden, Blutgerinnseln, vor allem aber zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen führen. «Die Jugendlichen können ihrem Körper damit irreversible Schäden zufügen, bis hin zum Tod», warnt der Arzt.
Diese Entwicklung ist zwar besorgniserregend, ebenso ungesund ist aber auch zu wenig Bewegung. Gemäss einer aktuellen Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) treiben über 85 Prozent der Schweizer Jugendlichen im Alter von 11 bis 17 Jahren nicht genug Sport. Sie sind regelrechte Bewegungsmuffel. Empfohlen werden mindestens 60 Minuten Sport pro Tag. Dabei ist es wichtig, alle motorischen Fähigkeiten – also Kraft, Ausdauer, Koordination, Beweglichkeit und Schnelligkeit – gleichermassen zu fördern. Deshalb rät Sportmediziner Frey, sich nicht zu früh auf eine Sportart zu konzentrieren, sondern möglichst lange möglichst viele verschiedene Arten der Bewegung zu praktizieren.
Dabei gilt es, den Körper, vor allem beim Krafttraining, nicht zu überfordern . Der Bewegungsapparat muss sich an das Training gewöhnen. Konkret bedeutet das, im ersten halben Jahr vor allem mit dem eigenen Körpergewicht zu trainieren und erst dann allmählich mit Zusatzgewichten zu arbeiten, wie Experte Frey rät. Eine Fitnessstudio-Mitgliedschaft braucht es dafür nicht.
Liegestütze, um den Oberkörper und die Körperbalance zu trainieren, Kniebeugen mit Seitenkicks für die Kraft in den Beinen und Planks für die Stärkung der Körpermitte kann man problemlos zu Hause machen. Eine simple Klimmzugstange im Türrahmen ermöglicht eine Vielzahl weiterer Übungen, die vor allem Bizeps und Rücken stärken. Das ist wichtig, denn das Core-Training – also die Stärkung von Rumpf, Bauch und Rücken – stabilisiert die Körpermitte und somit auch die Wirbelsäule. Wer diesen Bereich vernachlässigt, riskiert, schon in jungen Jahren Rückenschmerzen zu entwickeln.
Die beste Prophylaxe, davon ist Frey überzeugt, bietet der Vereinssport. Dieser fördert in der Regel nicht nur sportliche Fähigkeiten und Kraftaufbau, sondern auch soziale und zwischenmenschliche Kontakte. Denn ein gestählter Körper sollte insbesondere in diesem Alter nur ein erfreulicher Nebeneffekt sein – und nicht die Hauptmotivation für die Aktivität.
Oft verläuft der Übergang von gesundem Bewegungsdrang zu schädlichem Körperkult fliessend. Walter O. Frey, Leiter des Swiss Olympic Medical Center Balgrist, rät Eltern, auf Folgendes zu achten:
- Aktivitäten beobachten: Was und wie häufig trainiert der Jugendliche? Inwiefern verändert sich sein Verhalten?
- Motivation verstehen: Geht es beim Training darum, Kameradschaften zu pflegen, den Bewegungsdrang auszuleben? Oder liegt der Fokus primär auf dem optischen Resultat?
- Auf Essgewohnheiten achten: Auch junge Männer entwickeln extreme Essgewohnheiten oder lassen Mahlzeiten wegfallen. Eine sehr einseitige Ernährung oder ein übermässiger Konsum von Eiweisspräparaten können ebenfalls Indizien für eine kritische Veränderung sein.
- Gespräch suchen: Wer den Eindruck hat, dass Training und Ernährung zu einem dominanten Thema werden und sich in eine kritische Richtung entwickeln könnten, sollte dies ansprechen. Ohne Kritik und Vorwürfe, damit ein offenes Gespräch möglich ist.