Kind ist sehr minimalistisch – wie sollen Eltern reagieren?
Wenn ein Kind stets nur das absolute Minimum erledigt, machen sich Eltern schon mal Sorgen um seine Zukunft. Doch Minimalismus kann auch eine Stärke sein.
Veröffentlicht am 23. März 2022 - 17:43 Uhr
Leserfrage: «Mein Sohn ist sehr minimalistisch. Wie soll er im Leben bestehen?»
Als Vater kann ich Ihre Not sehr gut nachvollziehen. Eltern gab es schon vor Jahrtausenden und erst noch weltweit – und doch ist ihre Aufgabe alles andere als einfach geblieben.
Sie beschreiben eine häufige Situation. Ihr Sohn ist gut 13 und wird von allen als nett beschrieben. Grosse Probleme hat er eigentlich nicht, und doch machen Sie sich Sorgen um ihn. Vor allem wegen zwei seiner Eigenschaften – wegen seines Minimalismus und seiner begrenzten Leidenschaftlichkeit. Wie die meisten Eltern fragen Sie sich, ob er so das Leben, das ja nicht einfacher werden wird, meistern wird.
Was kann ich Ihnen nun raten?
Minimalismus ist an sich eine gute Eigenschaft. Ich persönlich bin sehr beeindruckt von Dromedaren. Wenn ich Ihren Sohn also mit Dromedaren vergleiche, meine ich das sehr wertschätzend. Dromedare haben ein paar kuriose Eigenschaften – ich habe diese aber nicht nachrecherchiert, es könnte sein, dass es auch einfach schöne Wüstenfabeln sind.
Dromedare haben ein ausgezeichnetes geografisches Gedächtnis. Sie können sich an den Standort jeder Quelle erinnern, von der sie je getrunken haben. Sie finden zudem instinktiv denjenigen Pfad über ein völlig unübersichtliches Dünenmeer, der mit dem geringsten Kraftaufwand verbunden ist. Und gerade diese Eigenschaft scheint Ihrem Sohn eigen zu sein. Wenn die Latte bei einem Meter liegt und zwei Versuche erlaubt sind, springt er genau einen Meter – im zweiten Versuch.
Nun gibt es Menschen, die sind einfach so gestrickt – können aber bei Bedarf Gänge zuschalten. Wenn mit 18 dann die Latte bei 1,65 Metern liegt, springt er dann eben so hoch – natürlich wieder im zweiten Versuch.
Minimalismus kann also eine Stärke sein. Es gibt aber zwei Fallstricke. Bei den Dromedaren geht es um einen minimalen Energieaufwand, der überlebenswichtig ist. Wenn wir Menschen aber etwas aufschieben und erst in letzter Minute erledigen, ist das oft – wenn wir ehrlich sind – anstrengender, als es gleich zu erledigen. Aufschieben oder Verdrängen sind aktive Prozesse, die unerwartet viel Energie brauchen.
Ihr Sohn soll doch mal ein kleines Experiment machen und für sich vergleichen, was energiemässig passiert, wenn er eine Aufgabe gleich erledigt oder bis zur letzten Sekunde und der dritten Ermahnung wartet.
Der zweite Fallstrick bezieht sich auf steigende Anforderungen. Es gibt Minimalisten, die bei steigenden Anforderungen stetig zulegen – und es gibt solche, die dann an ihre Grenzen kommen. Falls Ihr Sohn zu letzterer Gruppe gehört, ist es wichtig, dass er seine Durchhaltefähigkeit trainiert. Am besten macht er das bei etwas, was ihm gefällt. Mit der Zeit überträgt sich die gesteigerte Durchhaltefähigkeit auch auf das Unliebsame, wie zum Beispiel die Deutschaufgaben.
Sorgen macht Ihnen auch, dass Ihr Sohn keine wirkliche Leidenschaftlichkeit zeigt. Beim Fussball hat er wenig Biss, am Wochenende ist er am liebsten zu Hause, und sein Lieblingsschulfach heisst «frei».
Aber: Hat er vielleicht Leidenschaften, die für Sie halt nicht so zählen und darum leicht zu übersehen sind? Es gibt Gamer, die sind in ihrer Welt sehr ehrgeizig, führen ein Team von Mitspielenden, zeigen Beharrlichkeit und eine hohe Leidenschaftlichkeit. Sie zeigen also die gleichen Eigenschaften wie ein Fussballjunior, eine Pfadfinderin oder Jugendmusikanten.
«Ihr Sohn ist daran, sich von Ihnen zu lösen. Einflüsse sollten von aussen kommen.»
Thomas Ihde, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH
Auch ein guter Freund von mir ist nicht wirklich leidenschaftlich, weder im Beruf noch privat. Er trinkt gern Wein, liest aber keine Weinbücher. Und trotzdem gehört er zu den zufriedensten Menschen, die ich kenne.
Und zum Schluss wohl noch der wichtigste und vielleicht auch schwierigste Hinweis: Ihr Sohn ist daran, sich von Ihnen zu lösen. Einflüsse sollten vor allem von aussen kommen. Lehrkräfte, Kolleginnen und Kollegen, junge Erwachsene, die er beim Schnuppern für die Lehrstelle kennenlernt – von diesen Menschen lässt sich Ihr Sohn beeinflussen. Sie als Vater hört er nicht mehr sehr gut. Sie können ihm den Rücken stärken und vielleicht ein paar Türen aufzeigen, hinter denen er inspirierende Leute oder Dinge antreffen könnte. Aber auch da ist es in seinem Alter besser, wenn ihm sein Onkel eine Reise an einen Gamer-Kongress in Deutschland schenkt und ihn begleitet.
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