Knirpse vor Gericht
Wenn Eltern sich um Obhuts- und Besuchsrechte streiten, haben ihre Kinder oft keine Ahnung, wie ihnen geschieht. Kinderanwälte helfen – und bewegen sich auf schwierigem Terrain.
Veröffentlicht am 24. Juni 2013 - 17:46 Uhr
Als Anwalt Jonas Schweighauser vor knapp 20 Jahren erstmals die Interessen eines Kindes vertrat, stiess er auf wenig Bewunderung: «Ich wurde ein wenig belächelt.» Ein Anwalt für das Kind, wenn die Eltern sich trennen? Eine seltsame Idee, fanden viele Kollegen, aber auch die Vertreter von Vormundschaftsbehörden. Wieso sollte man ein Kind um seine Meinung fragen? Wie sollte es einen eigenen Standpunkt haben, wenn es von den Abläufen am Gericht gar nichts versteht?
Seither hat sich vieles verändert. Jonas Schweighauser hat als Kinderanwalt um die 100 Fälle begleitet und ist ein gefragter Uni-Dozent und Ausbildner. «Heute werden die Kinder zumindest in hochstrittigen Fällen in der Regel angehört, manchmal erhalten sie auch eine eigene Vertretung», sagt er. Seit Anfang dieses Jahres können Gerichte und Behörden zudem auch Kinderanwälte einsetzen, wenn es um Fragen des Kindesschutzes geht, etwa bei Obhutsentzügen oder Fremdplatzierungen. «Man erkennt zunehmend, dass die Meinung des Kindes wichtig ist, dass es informiert und einbezogen werden sollte. Zudem schreibt das die Uno-Kinderrechtskonvention vor», sagt Jonas Schweighauser (siehe «Nur jedes zehnte Kind wird angehört»).
Denn Kinder haben meist keine Ahnung, worum es vor Gericht geht und welche Rechte sie haben. Der Kinderanwalt ist für sie eine neutrale Ansprechperson. Er kann vom Gericht oder von der Kindesschutzbehörde eingesetzt werden, auf Antrag eines Kindes, wenn es urteilsfähig ist. Er ist nicht zu verwechseln mit einer Beiständin, die für die Umsetzung der Besuchsrechte sorgen soll oder der Familie in Erziehungsfragen zur Seite steht. «Ein Kinderanwalt ist ausschliesslich für das Kind da, erklärt ihm die Abläufe und Entscheide vorher und nachher und vermittelt gleichzeitig dem Gericht die Sicht des Kindes», erklärt Schweighauser.
Ein Job, der hohe Ansprüche stellt. Ein Kinderanwalt braucht nicht zwingend ein Anwaltspatent, sollte aber juristische Kenntnisse haben. Vor allem braucht er ein gutes Gespür: «Einen Fünfjährigen können Sie nicht bitten, zum ersten Termin alle Unterlagen mitzubringen. Sie müssen recherchieren, mit Kind und Eltern reden und allenfalls Auskünfte bei weiteren Bezugspersonen oder involvierten Fachleuten einholen. Das ist aufwendig», sagt Schweighauser. Auch die Gespräche mit dem Kind müssten gut vorbereitet werden. «Man muss sich je nach Alter des Kindes genau überlegen, welche Fragen man wie stellt.»
Nicht immer ist allen Beteiligten die Rolle des Kinderanwalts klar. «Es kommt immer wieder vor, dass Eltern versuchen, mich auf ihre Seite zu ziehen. Oder dass sie enttäuscht sind, wenn ich nicht für sie Position beziehe», sagt die Berner Juristin Regula Gerber Jenni, die seit vier Jahren als Kinderanwältin tätig ist. «Man steckt im Sandwich.» Darum sei es wichtig, die Rollen immer wieder zu klären: «Ich vertrete das Kind, nicht einen Elternteil, nicht die Behörde. Das muss stets allen klar sein.»
Ihre Aufgabe sieht sie nicht zuletzt darin, den Konflikt zu entschärfen. Manchmal würden streitende Eltern die Sicht der Kinder aus den Augen verlieren. «Wenn ich dann den Standpunkt des Kindes – seine Rechte und sein Wohlergehen – einbringe, merken viele plötzlich wieder, worum es eigentlich geht.» Das verändere die Dynamik und könne Verfahren sogar beschleunigen – nicht verzögern, wie manche Kritiker befürchten (siehe «Kinderanwälte entlasten die Kinder»). «Ein Kind ist kein Objekt», sagt Regula Gerber Jenni. Ihre Botschaften an das Kind seien stets dieselben: «Ich vermittle zwei Dinge: Deine Meinung ist wichtig, und du trägst keine Verantwortung für die von den Erwachsenen getroffenen Entscheide.» Das sei wichtig, um auch tatsächlich die beabsichtigte Wirkung zu erzielen, nämlich dem Kind eine Stimme zu geben und es zu entlasten.
Nur jedes zehnte Kind wird angehört
Wenn die Eltern sich trennen oder wenn das Kind in ein Heim soll, hat es oft wenig zu melden. Meist werden Kinder nur in hochstrittigen Fällen angehört und altersgerecht über ihre Rechte informiert. Der Verein Kinderanwaltschaft Schweiz hat 2012 in einem Bericht ans Bundesamt für Justiz festgestellt, dass lediglich jedes hundertste betroffene Kind bei behördlichen oder gerichtlichen Verfahren durch einen Anwalt unterstützt wird. In zehn Prozent der Fälle gibt es zumindest eine Anhörung. Der Verein, der Behörden, Gerichte sowie Kinder und Jugendliche berät und Aus- und Weiterbildungen für Kinderanwälte initiiert, will deshalb für eine kindgerechtere Justiz sorgen. Bis 2020 sollen die entsprechenden Leitlinien des Europarats hierzulande flächendeckend umgesetzt werden. Diese enthalten unter anderem das Recht auf altersgerechte Information, Beratung und Mitbestimmung in allen Belangen, die Kinder betreffen. Die Leitlinien dienen als Orientierungshilfe, rechtlich sind sie nicht verbindlich.
Wenn Kinder vor Gericht eine eigene Stimme erhalten, erspart das oft auch den Erwachsenen viel Mühe, sagt Sabine Brunner vom Marie-Meierhofer-Institut für das Kind.
Beobachter: Ist das nicht zu viel Verantwortung für ein Kind, wenn man es als eigene Partei ins Verfahren einbezieht? Wie soll es wissen, was für es das Beste ist?
Sabine Brunner: Ein Kind muss nicht wissen, was für es am besten ist. Es muss aber die Möglichkeit haben, seinen Willen kundzutun und seine Meinungen, Vorstellungen, Befürchtungen mit jemandem zu besprechen. Ausserdem hat es ein Recht auf Information und dass man ihm den Ablauf des Verfahrens erklärt. Es ist Aufgabe der Erwachsenen, das Kindswohl im Auge zu behalten.
Beobachter: Ist es für ein Kind nicht noch schlimmer, wenn es zwar nach seinen Wünschen gefragt wird, man dann aber im Namen des Kindswohls doch etwas anderes umsetzt?
Brunner: Diese Frage stellt sich so nicht. Es geht darum, das Kind so einzubeziehen, dass es am Ende die Entscheidungen der Erwachsenen versteht und auch nachvollziehen kann, warum man eventuell nicht auf seine Wünsche eingegangen ist.
Beobachter: Das heisst, man macht einfach einen Umweg?
Brunner: Das ist kein Umweg. Das Kind hat laut Uno-Kinderrechtskonvention einen Anspruch darauf, einbezogen zu werden. Ausserdem ist es nur scheinbar ein Mehraufwand. Wenn man Entscheidungen ohne das Kind trifft, hat man danach unter Umständen grösste Mühe, es ins Boot zu holen, und es entstehen neue Reibungspunkte. Wenn Kinder mitgestalten können und Entscheide verstehen, sind sie viel kooperativer. Ein typisches Beispiel sind Besuchsregelungen bei getrennten Eltern. Die Übergänge laufen in der Regel viel unproblematischer, wenn man die Kinder vorher einbezieht und mit ihnen anschaut, was sie brauchen. Es kann ausserdem den Eltern helfen, über ihren eigenen Konflikt hinauszublicken.
Beobachter: Dient es wirklich dem Wohl eines Kindes, wenn es dazu ermutigt wird, Position zu beziehen, unter Umständen auch gegen einen Elternteil?
Brunner: Es wird kein Kind gezwungen, eine Aussage zu machen. Kinder verschliessen sich in der Regel schnell, wenn sie merken, dass es für sie brenzlig wird. Sie sagen dann einfach nichts, und das dürfen sie auch. Man muss aber bedenken, dass sie sich sowieso mitten in den Konflikten der Eltern befinden, ob mit oder ohne Einbezug ins Verfahren. Ich finde es seltsam, wenn man Kinder ausgerechnet dort schützen will, wo sie aktiv an Lösungen mitarbeiten könnten. Kinderanwälte entlasten die Kinder.
Beobachter: Manchmal werden Kinder instrumentalisiert. Wie findet man heraus, was ein Kind wirklich will und was ihm nur eingebläut wurde?
Brunner: Wir alle, auch Erwachsene, bilden uns unsere Meinung nicht im luftleeren Raum, wir werden alle beeinflusst. Im Prinzip spielen die Wege, wie ein Wille zustande kommt, keine Rolle. Wir müssen uns also nicht als Erstes fragen, weshalb ein Kind etwa sagt, es wolle nicht mehr zum Vater oder zur Mutter. Wichtig ist, dass es diesen Willen intensiv, klar, stabil und autonom kundtut. Wenn ein Kind also wirklich spürt, dass es etwas will oder nicht will und das äussert, dann braucht es keine weitere Begründung.
Beobachter: Kleine Kinder können sich noch gar nicht äussern. Da ist eine Vertretung doch reine Pseudo-Mitbestimmung.
Brunner: Auch kleine Kinder senden klare Signale. Doch um sie zu lesen, braucht es eine entsprechende Ausbildung. Falls ein Kinderanwalt eingesetzt werden soll, muss es in diesem Fall zwingend eine Fachperson für kleine Kinder sein, oder es muss eine solche beigezogen werden.
Beobachter: Wann sollte besser kein Kinderanwalt eingesetzt werden?
Brunner: Manchmal erreicht man mit einer Familie mehr, wenn man nicht den rechtlichen Weg geht. Manchmal gibt es auch bereits andere Fachpersonen, etwa eine Beiständin, von der sich das Kind gut vertreten fühlt. Grundsätzlich sollte eine Kinderanwaltschaft aber keine fakultative Angelegenheit sein. Sie steht den Kindern immer zu.