Reden ist Gold
Erkrankt der Vater oder die Mutter schwer, sollten die Kinder möglichst bald und ehrlich darüber aufgeklärt werden. Sie zu schonen schadet mehr als die bittere Wahrheit.
Veröffentlicht am 11. Juni 2013 - 09:25 Uhr
Unsicherheit, Angst, Verzweiflung: Für Betroffene ist die Diagnose einer schweren Krankheit wie Krebs, multiple Sklerose oder Parkinson wie ein harter Faustschlag, der sie ins Taumeln bringt. Bei Krebs trifft es jedes Jahr über 5000 Väter oder Mütter. Sie möchten ihre Kinder nicht belasten, und viele versuchen deshalb, die Krankheit möglichst lange vor ihnen zu verbergen. Das ist zwar verständlich, doch im Grunde unmöglich und auch nicht ratsam. «Kinder nehmen schon im Babyalter Stimmungen wahr. Die wirklich wichtigen Dinge lassen sich nicht verheimlichen», sagt Maria Teresa Diez Grieser, Entwicklungspsychologin am Zürcher Marie-Meierhofer-Institut für das Kind. Lässt man Kinder im Ungewissen, tendieren besonders jüngere dazu, eigene Theorien über die Gründe der «seltsamen Stimmung» zu entwickeln. Das ist ungünstig, denn ihre Welt ist egozentrisch, alles dreht sich nur um sie. «Sie beziehen alles, was um sie herum passiert, automatisch auf sich selber. Wenn ein Elternteil erkrankt, glauben sie, sie seien schuld daran», erklärt Diez Grieser.
Eltern tun also gut daran, ihre Kinder rechtzeitig über die Krankheit zu informieren und über ihre damit verbundenen Gefühle zu reden. Das gilt für ältere Kinder ebenso, denn auch sie können mit Ehrlichkeit besser umgehen als mit diffuser Angst. Werden sie einbezogen, fühlen sie sich ernst genommen. «Das wirkt entlastend, auch wenn die Fakten schwer wiegen», sagt Diez Grieser.
Doch wann ist der richtige Zeitpunkt da, und wie detailliert sollte man die Kinder aufklären? «Nicht zu lange warten», empfiehlt Sabine Jenny, Leiterin des Informationsdienstes bei der Krebsliga Schweiz. Zugleich sei es aber wichtig, dass man die Hiobsbotschaft selber schon ein wenig verdaut habe. Tendenziell, so Jenny, warte man besser, bis eine definitive Diagnose vorliege. Wenn die Ungewissheit während des Wartens die Eltern aber sehr stark belastet und die Anspannung auch für die Kinder spürbar wird, könne man davon abweichen. «Inhaltlich ist vor allem wichtig, dass man keine Dinge verspricht, die man nicht halten kann», sagt Jenny. Aussagen wie «Ich werde sicher wieder ganz gesund» seien zu vermeiden. Stattdessen sage man besser: «Ich hoffe, dass ich bald wieder gesund werde.»
Allzu sehr ins Detail brauche man nicht zu gehen, das könnte Kinder überfordern. «Es reicht, in kurzen, klaren Sätzen altersgerecht zu erklären, um welche Krankheit es sich handelt, was sie bewirkt und was das für den Alltag bedeutet, zum Beispiel weil man ins Spital muss.» Ältere Kinder und Teenager sind oft an medizinischen Zusammenhängen interessiert. Ihnen sollte man erklären, welchen Therapien man sich unterziehen wird und welche sichtbaren körperlichen Veränderungen diese allenfalls mit sich bringen.
Kinder nehmen solche Informationen sehr unterschiedlich auf und brauchen Zeit, um sie zu erfassen. Bis zum Alter von etwa sechs Jahren verstehen sie nicht, was Sterben und Tod bedeuten. Sie können deshalb für Erwachsene irritierend darauf reagieren, etwa indem sie scheinbar gar nicht zuhören oder sogar lachen. «Verstehen ist ein Prozess, der Zeit braucht. Man sollte die Information erst mal wirken lassen und die Kinder ermutigen, jederzeit wieder Fragen zu stellen», empfiehlt Entwicklungspsychologin Diez Grieser.
Die wichtigste Botschaft ist aber altersunabhängig: «Kinder müssen wissen, dass sie nicht schuld sind an der Krankheit oder daran, dass es den Eltern schlechtgeht», sagt Sabine Jenny von der Krebsliga. Vor allem bei jüngeren Kindern sei darauf zu achten, dass der Alltag so normal wie möglich weitergehe. «Man darf sich dafür auch Hilfe holen, sei es von Verwandten oder Freunden, sei es von Fachleuten.»
Jugendliche, vor allem Mädchen, tendierten oft dazu, zu viel Verantwortung zu übernehmen. Hier gelte es, die Balance zu finden: «Kinder wollen helfen. Das sollen sie auch dürfen. Aber immer im Rahmen ihrer Möglichkeiten», erklärt Diez Grieser. Sie sollen – trotz allem – normale Kinder oder Jugendliche sein dürfen und ohne schlechtes Gewissen mit Freunden herumtollen oder ausgehen. Überhaupt sollte die Familie darauf achten, sich nicht abzuschotten: «Beziehungen nach aussen sind wichtig, um solche schwierigen Situationen zu meistern. Man sollte sie unbedingt pflegen, ohne dass die Krankheit ständig Thema sein muss», sagt Diez Grieser.
Es stellt sich die Frage, ob auch die Schule zwingend Bescheid darüber wissen muss, was die Familie gerade durchmacht. Petra Salzmann ist Schulsozialarbeiterin in Hünenberg und erlebte schon einige Male, dass Schüler mit anderen Sorgen zu ihr kamen, bis sich herausstellte, dass ein Elternteil schwer erkrankt war. «Kinder reagieren unterschiedlich auf solche belastenden Situationen. Manche ziehen sich zurück oder weinen im Unterricht. Andere fallen auf, weil sie häufig fehlen, plötzlich aggressiv sind. Oder weil sie sich nicht mehr recht konzentrieren können und die Noten schlechter werden», erklärt Salzmann. Sollten Eltern die Lehrperson also besser gleich von Anfang an einweihen? Ja, findet Salzmann, jedoch stets in Absprache mit dem Kind. Gerade Jugendlichen ist es oft lieber, wenn in der Schule alles normal weiterläuft und niemand von der Krankheit weiss. Die ganze Klasse ins Bild zu setzen sei in der Regel nicht nötig – ausser das Kind wünsche das ausdrücklich.
An den Schulen in Basel werden oft gute Freunde des betroffenen Kindes ins Vertrauen gezogen. Und das Thema wird mit allen gemeinsam bearbeitet, erklärt Erwin Götzmann, Leiter der Schulsozialarbeit der Stadt Basel. «Kinder und Jugendliche sind nach unserer Erfahrung sehr dankbar für diese Begleitung.» Generell sollten Eltern zuerst mit den Kindern besprechen, ob sie an der Schule oder im Bekanntenkreis der Kinder informieren möchten – und wen.
Trotz allem kann Entwicklungspsychologin Diez Grieser ein Stück weit Entwarnung geben: «Selbst wer bei der Information der Kinder alles falsch macht, hat nicht verloren. Solange Kinder gute, stabile Beziehungen zu ihren Eltern haben, können sie sich gesund entwickeln.»
Die 5 wichtigsten Regeln, wie kranke Eltern ihre Kinder informieren sollten
- Sagen Sie den Kindern, dass sie nicht an der Krankheit schuld sind.
- Seien Sie ehrlich: Versprechen Sie nichts, was Sie nicht halten können.
- Versuchen Sie nicht, die eigenen Gefühle vor den Kindern zu verbergen, sondern erklären Sie ihnen, weshalb Sie traurig oder verzweifelt sind, was Ihnen Angst macht.
- Ermöglichen Sie den Kindern ein normales Leben, in dem sie auch weiterhin lachen und Freunde treffen können.
- Lehnen Sie nicht ab, wenn die Kinder Ihnen zum Beispiel im Haushalt helfen möchten, aber übertragen Sie ihnen nicht zu viel Verantwortung.
Weitere Infos
- kostenlose Unterstützung und Begleitung von Familien: www.onkofamilycare.ch
- Chat für Kinder und Jugendliche zu Krebs: www.krebsliga.ch/cancerline
- Mit Kindern über MS reden: http://www.multiplesklerose.ch/de/leben-mit-ms/angehoerige/kinder
- Website der Deutschen Multiple-Sklerose-Gesellschaft für Heranwachsende: www.kinder-und-ms.de