«Dieses Mal wollte ich nicht versagen», erzählt der 19-jährige Tom (Name geändert). Seinen dritten Selbsttötungsversuch vor zwei Jahren hatte er «bis ins Detail geplant». Seine Mutter fand ihn halb tot im Bett liegend – mit Tabletten vollgepumpt. Er hatte Streit mit seinem Vater gehabt.

In der Schweiz nimmt sich durchschnittlich alle drei Tage ein junger Mensch das Leben – Buben dreimal häufiger als Mädchen. Die Rate der Suizidversuche hingegen ist bei den Mädchen drei- bis viermal höher. Eine repräsentative Umfrage des Bundesamts für Gesundheit belegt, dass 73 Prozent der Jugendlichen, die einen Suizidversuch hinter sich haben, es schon vorher mindestens einmal versucht hatten. Und Fachleute schätzen, dass die Zahlen effektiv noch um einiges höher sind, da auch Vorfälle wie beispielsweise Auto- oder Motorradunfälle ohne Bremsspuren oder sonstige erkennbare äussere Einwirkungen sowie Vergiftungen meist als Unfalltod klassifiziert werden. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt gar, dass nur 25 bis 50 Prozent aller Suizide tatsächlich registriert werden.

Scham und Angst
Sechs Suizidversuche hat Tom überlebt, den letzten diesen Sommer. Druck in der Lehre, Ärger mit der Freundin und sonstige Enttäuschungen brachten ihn immer wieder in eine Sackgasse. «Ich sah keinen anderen Ausweg, als mich umzubringen», erzählt er. Mit Erhängen, dem Aufschneiden der Pulsadern und Tabletten hat er es versucht. Er plante seine Versuche jeweils akribisch, verhielt sich wie gewohnt, damit niemand Verdacht schöpfte. «Ich wurde aber immer wieder rechtzeitig von jemandem gefunden», sagt er. Deshalb hat es – zum Glück – nie geklappt.

Pro Jahr nehmen sich in der Schweiz 1300 Menschen das Leben. Die Zahl der Suizidversuche liegt noch fünf- bis zehnmal höher. Rechnet man darüber hinaus Suizidgedanken dazu, sind mehr als die Hälfte aller Menschen mit dem Thema Selbsttötung konfrontiert. Aus Scham oder Angst vor einer Ächtung durch das Umfeld trauen sich die meisten Betroffenen nicht, darüber zu reden.

Professionelle Hilfe ist nötig
Das Umfeld nimmt die Anzeichen, die auf eine Suizidgefährdung hindeuten, oft zu spät wahr. «Ein Verdacht muss angesprochen werden, denn Gespräche mit einer beziehungsfördernden Grundhaltung sind ein erster Schritt zur Prävention. Eltern sollten unbedingt professionelle Hilfe in Anspruch nehmen, wenn sie überfordert sind», sagt Anna Seraina Arquint. Die Psychologin und Psychotherapeutin unterrichtet an der Kantonsschule Chur Psychologie und hat dieses Jahr mit drei Schulklassen das Thema Selbsttötung im Unterricht behandelt.

Die Schule war vor vier Jahren unvermittelt mit dem Thema konfrontiert: Ein Schüler nahm sich das Leben. Rektor Hans Peter Märchy gründete daraufhin mit vier Lehrern, unter ihnen Arquint, eine Interventionsgruppe. «Wir versuchen, gefährdete Schülerinnen und Schüler frühzeitig zu erreichen, um ihnen Hilfe anbieten zu können», so Rektor Märchy. In der Schule über Selbsttötung zu sprechen setzt ein grosses Vertrauensverhältnis zwischen Lehrern und Schülern voraus.

Auch Rolf Haussener hat erlebt, wie schwierig es ist, über die Suizidalität zu sprechen. Er ist Lehrer an der Realschule Oberdiessbach im Berner Oberland und drehte in diesem Sommer mit seiner Abschlussklasse einen Film zum Thema Selbsttötung.

Ausgangspunkt war die Todesanzeige eines Mädchens, das sich umgebracht hatte. Im Deutschunterricht sollten die Schülerinnen und Schüler in einem Aufsatz ihre Gefühle darüber beschreiben. Von diesem Zeitpunkt an beschäftigte sich die Klasse immer intensiver mit dem Thema. «Uns begleiteten während der Dreharbeiten Hochs und Tiefs, es kostete die Schülerinnen und Schüler enorme Kraft, das Projekt durchzustehen», erzählt Haussener. Der Film schildert auf eindrückliche Weise, welche Probleme und Situationen Jugendliche zu Suizidgedanken bewegen können.

Die Adoleszenz ist für die Jugendlichen eine kritische Phase. Sie müssen sich Gedanken über ihre Berufswahl machen, nabeln sich schrittweise von ihrem Familienumfeld ab und haben ihre ersten Liebesbeziehungen. Aber auch Umweltzerstörung oder kriegerische Handlungen beschäftigen sie. Studien zeigen, dass sich die Ängste der Jugendlichen vor ökologischen Katastrophen auf einem konstant hohen Niveau bewegen. «Dies kann sich negativ auf wichtige Entwicklungsprozesse von Kindern und Jugendlichen auswirken», sagt Patrick Haemmerle, Chefarzt des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes in Freiburg. Die Folge seien Gefühle von Ohnmacht und zynischer Resignation sowie egoistische und narzisstische Verhaltensweisen. Ein Abdriften in Depression und Suchtverhalten werde gefördert.

Todesarten im Internet besprochen
Diese Ohnmacht bezeugen die Einträge in so genannten Suizidforen im Internet. Die Foren werden von den Jugendlichen als Rückzugsmöglichkeit aus einer Welt angesehen, in der sie keiner versteht. Sie entziehen sich somit der realen Welt. Oft tauschen sie sich über Tötung und Tötungsart untereinander aus, was die Hemmschwelle laut Experten sinken lässt.

Warum sich Jugendliche das Leben nehmen oder es immer wieder versuchen, hat unterschiedliche Ursachen. Meist sind es traumatische Erlebnisse aus der Kindheit wie Missbrauch oder Scheidung der Eltern. Aber auch Prüfungsangst, eine gestörte Beziehung zu einer Lehrperson oder Liebschaften können Auslöser sein. Zudem stellen negative Zukunftsperspektiven eine besondere Gefahr dar.

Bis heute gibt es keine gesetzliche Grundlage für Präventionsmassnahmen, da Suizidgefährdung nicht als Krankheit gilt. «Eine bessere Vernetzung der mit dem Thema befassten Organisationen würde den Informationsaustausch stärken und den politischen Druck erhöhen», sagt Barbara Weil vom Dachverband Ipsilon zur Suizidprävention in der Schweiz.

Barbara Meister, Präsidentin des Forums für Suizidprävention und Suizidforschung Zürich, doppelt nach: «Der heutige politische und gesellschaftliche Umgang mit Suizidalität erinnert mich an die Drogenproblematik vor drei Jahrzehnten. Selbsttötung ist kein öffentliches Thema, sondern wird totgeschwiegen und tabuisiert.» Meister setzt sich deshalb für die schulinterne Weiterbildung für Suizidprävention an der Pädagogischen Hochschule Zürich ein. «Im Kanton Zürich gibt es für die Suchtprävention zwölf Stellen – aber keine einzige für die Suizidverhütung.»

Partnerinhalte
 
 
 
 

Warnsignale und Hilfe

Der Wunsch, das eigene Leben zu beenden, reift nicht von heute auf morgen - die Alarmsignale machen sich meist lange im Voraus bemerkbar. Wenn man sie erkennt.

  • Eine schlechte psychische Verfassung, Niedergeschlagenheit oder abrupte Stimmungsschwankungen.
  • Schulverweigerung und Schulschwänzen.
  • Die Beschäftigung mit dem Tod in Zeichnungen, Aufsätzen oder Äusserungen.
  • Sozialer Rückzug, Abbruch von Freundschaften.
  • Verschenken von Gegenständen, die einem etwas bedeuten.
  • Häufige Unfälle und Eingehen von überhöhten Risiken.
  • Suizidabsichten, die in einer lustigen Art angedeutet werden, auch in Form eines Briefs, der eventuell rechtzeitig entdeckt werden kann.
  • Selbstschädigende Verhaltensweisen wie starker Suchtmittelkonsum oder massive Essprobleme.
  • Plötzliche Erleichterung und Ruhe, ohne dass sich an der Krisensituation etwas konkret verändert hat.


Was Eltern tun können

  • Sätze wie «Das wird schon wieder» oder «Das Leben kann doch so schön sein» sind kontraproduktiv. Stattdessen zeigen, dass man auch Krisen hat und selber nach Lösungen suchen muss.
  • Den Jugendlichen ihre Freiräume lassen, aber bei Isolation und Rückzug hellhörig werden.
  • Hilfe von aussen durch Beratungsstellen ansprechen und dadurch Vorurteile abbauen und aufzeigen, welche Hilfsangebote es gibt (Therapie, Jugendberatung).
  • Jede Art von Anzeichen einer Suizidalität (Selbstverletzung, Zeichen innerer Not, Depressionen, Suizidandeutungen) ernst nehmen und nicht zögern, medizinische Hilfe zu beanspruchen.
  • Ein gutes Gesprächsklima schaffen und auch den Kontakt mit anderen Jugendlichen zu Hause fördern, gemeinsames Essen, Wochenendausflug oder Ferien.
  • Klare Spielregeln in der Familie bei Konflikten aufstellen und Themen ausdiskutieren.
  • Das Eltern-Lehrer-Gespräch nutzen und Sorgen, Nöte oder Vermutungen auf den Tisch bringen und gemeinsame Lösungen suchen.

Quelle: S&E, Schule und Elternhaus Schweiz

Hier gibts Hilfe

  • Jugendberatungsstellen, schulpsychologische Dienste, regionale und kantonale kinder- und jugendpsychiatrische Dienste. Der Hausarzt oder ein Seelsorger ist (nebst Angehörigen und Freunden) eine weitere gute Ansprechperson in einer Krise.

  • Telefon 147 bietet Kindern und Jugendlichen Beratung bei verschiedensten Fragen; im Internet unter www.147.ch

  • Die Dargebotene Hand nimmt über Telefon und Internet die Rolle eines einfühlsamen und unvoreingenommenen Gesprächspartners ein: Telefon 143; www.143.ch

  • Tschau.ch ist eine Internetplattform für Jugendliche und bietet eine grosse Palette an Informationen zu vielen wichtigen Themen: www.tschau.ch

  • Feelok.ch vermittelt sachliche Informationen, zeigt konkrete Hilfs- und Handlungsmöglichkeiten bei Suizidalität auf und trägt zur Enttabuisierung der Thematik bei: www.feelok.ch, «Themen», «Suizidalität»

  • Telefonische Beratung bietet der Elternnotruf: Region BS 061 423 96 50, Region ZG 041 710 22 05, Region ZH 044 261 88 66, 24h@elternnotruf.ch, www.elternnotruf.ch

  • Internetseelsorge bietet persönliche Hilfe von Fachleuten aus verschiedenen Bereichen (zum Beispiel Theologie, Psychologie) an: www.seelsorge.net

  • Zahlen, Fakten, Literatur, Prävention und Studien: www.ipsilon.ch