Die harte Schule
Die «Husi» hats in sich: Ein dreiwöchiger Kurs bringt Zürcher Wirtschaftsgymnasiasten auch mal an ihre Grenzen – geistig wie körperlich.
Veröffentlicht am 28. Oktober 2014 - 08:58 Uhr
Eins wird schnell klar: Hauswirtschaft ist mehr als ein bisschen kochen. Viel mehr. «Das hier ist ein Kurs, kein Lager», sagt Kursleiterin Carla Soldato. Die Klasse 4i der Kantonsschule Zürcher Unterland probt seit zweieinhalb Wochen den Ernstfall im Haushalt. Die vier Mädchen und 17 Jungs, alle zwischen 15 und 16 Jahre alt, sorgen selbst für sich: kochen, natürlich, aber auch waschen, putzen, flicken, planen und einkaufen.
Soldatos Fach hat zuweilen einen schweren Stand. Vor drei Jahren wurden die Hauswirtschaftskurse aus Spargründen wieder einmal umstrukturiert. Künftig findet der Kurs bereits im Untergymnasium statt, also mit 12- bis 14-Jährigen.
«Natürlich ist der Kurs auch mit jüngeren Schülern möglich. Aber in dem Alter ist der eigene Haushalt noch sehr weit weg – und der Effekt vermutlich weniger nachhaltig», sagt Soldato.
Grundsätzlich sei die Wertschätzung der Husi in den letzten Jahren aber eher gestiegen, zusammen mit der Bedeutung der Ernährung, aber auch durch den Upcycling- oder den Do-it-yourself-Trend.
Aber das «Ein bisschen kochen»-Image hält sich hartnäckig.
«Anfangs unterschätzen auch die Jugendlichen, was sie im Kurs zu leisten haben», sagt Soldato. Die erste Erkenntnis ist oft banal: Haushalten gibt viel zu tun. Während dreier Wochen müssen täglich drei Mahlzeiten und zwei Zwischenverpflegungen zubereitet werden. Wer nicht zur Kochgruppe gehört, hat andere Ämtli zu erledigen: Ebenfalls jeden Tag müssen Gang, Duschen und WC geputzt und die Hauswäsche gewaschen, aufgehängt, gebügelt und gefaltet werden.
Ein Ämtlichef nickt die Arbeiten ab. Die Jugendlichen übernehmen wechselweise kleine Führungs- und Kontrollaufgaben. Das dient mehreren Zielen. Einerseits sind so nicht immer die Leiterinnen diejenigen, die Mängel aufzeigen und herumnörgeln. «Das trägt zur guten Stimmung bei», sagt Soldato, «weil alle wissen, was es heisst, am Platz des anderen zu stehen.»
Zudem sollen die Jugendlichen auch einmal selbst eine Führungsrolle übernehmen, Verantwortung tragen und delegieren. «Das gehört auch zum Haushalten.»
Auf dem Stundenplan stehen «Textiles Gestalten», «Werken», «Kochen», «Haushaltmanagement» und «Bewegung». Aber das eigentliche Programm ist weit vielschichtiger. «Wenn man drei Wochen eng aufeinander lebt, kommt fast alles an die Oberfläche», sagt Soldato. Deshalb drängen sich manchmal Themen wie Selbst- und Fremdwahrnehmung und Kommunikation in den Vordergrund. Im Husi-Kurs seien schon Klassenkönige gestürzt worden, weil klarwurde, dass sie ausser Fassade nichts zu bieten hatten. Dafür nutzen manchmal eher scheue Schüler die Gelegenheit, sich richtig zu entfalten.
Zwischenmenschliches gehört genauso zum modernen Hauswirtschaftsunterricht wie Kochen. Darum steht dem altehrwürdigen «Tiptopf» heute das Lehrmittel «Hauswärts» zur Seite. Darin wird der Haushalt als «kleines Unternehmen» beschrieben, in dessen Zentrum die Menschen stehen – und damit die Fragestellung: Welche Bedürfnisse haben die Mitbewohner, und wie sehen meine aus? «Haushalten ist immer auch Familien- und Beziehungsarbeit», sagt Soldato. Das Angebot effizient der Nachfrage anpassen zu können sei die Voraussetzung für sinnvolles Handeln. Schliesslich ist das Ziel, im Haushalt sein eigener Chef zu sein – und kein Sklave der Notwendigkeiten.
Und da Kommunikation in einem Unternehmen das A und O ist, widmet man sich im Unterricht auch der Feedbackkultur. Rückmeldungen sind einfacher anzunehmen, wenn sie als Ich-Botschaften formuliert sind, erklärt Soldato. «Kann jemand ein Beispiel machen?» Ein Schüler streckt auf: «Man soll nicht sagen: ‹Es braucht mehr Fleisch›, sondern: ‹Ich brauche mehr Fleisch.›»
Fleisch ist ein grosses Thema im Kurs. An der Tafel in der Küche stehen die Lernziele: «Ich überdenke meinen Fleischkonsum», «Ich kann einen Wochenplan für Flexitarier zusammenstellen» und «Ich kenne alternative Proteinlieferanten». Es gehe überhaupt nicht darum, die Schüler zu Vegetariern zu machen, sagt Koleiterin Rebekka Bianzano Meyer. Sie betreut an diesem Morgen die Kochgruppe. «Aber sie sollen als bewusste Konsumenten handeln, Trends reflektieren und in möglichst vielen Situationen gut reagieren können.» Denn für viele Jugendliche gelte weiterhin der Grundsatz: Ohne Fleisch ist es kein richtiges Essen. «Aber es könnten ja auch einmal Vegetarier zu Besuch kommen.»
«Wie viel Fleisch konsumieren wir durchschnittlich pro Kopf und Woche?», fragt Bianzano Meyer in die Runde. 500 Gramm, schätzen die Schüler, in Wahrheit ist es doppelt so viel. Eine Grafik an der Tafel zeigt, dass es 16'000 Liter Wasser braucht, um dieses Kilo zu produzieren; fünfmal mehr als für ein Kilo Reis. Einer ist überrascht, dass der Metzgerverband nur drei bis fünf Portionen Fleisch pro Woche empfiehlt. «Bei uns gibts fast jeden Tag Fleisch.»
Das Mittagsmenü sind Fajitas mit Guacamole. Neben Hackfleisch wird Seitan zubereitet, ein Fleischersatz aus Weizeneiweiss, den alle probieren sollen.
Die Reaktionen am Tisch sind durchzogen: «Eigentlich ganz okay», «Wie Brot mit Gewürz» oder «Eine annehmbare Alternative für Vegis, aber mit Fleisch nicht zu vergleichen». Andere monieren, dass schon Hackfleisch kein richtiges Fleisch sei, weil man nichts davon merke.
Von da an dreht sich das Gespräch zuerst um Fleisch aus Bulgarien in der Schulmensa, dann um das Lebensmittelgesetz, das mit schuld ist an der Verschwendung von Essen; um Sinn und Unsinn staatlicher Eingriffe und schliesslich um den Unterschied zwischen Verfalls- und Haltbarkeitsdatum und die Frage, ob es nicht voll diskriminierend sei, armen Leuten abgelaufene Lebensmittel vorzusetzen.
Bei Konsumgewohnheiten geht es auch um grosse Themen wie Freiheit, Selbstbestimmung und Nachhaltigkeit.
Nach dem Essen weist Tageschef Nicola darauf hin, dass Kochen für 24 Personen kompliziert sei. Man könne die im «Tiptopf» angegebenen Mengen für vier Personen nicht einfach mal sechs rechnen, «denn wir sind viele hungrige Jungs».
Hungrig seien sie in der ersten Woche gewesen, klagen Einzelne. Der Kurs davor war eine Mädchenklasse, schwache Esser, darum gabs immer viele Reste – vor allem beim Fleisch. Also passten die Kursleiterinnen die Mengen an. Und dann kamen die Burschen mit dem grossen Appetit. «Ich bin nachts mit Hunger erwacht, in die Küche gegangen und habe dort drei Äpfel gegessen – Äpfel!», klagt Johannes.
Essen war immer genug vorhanden, erwidert Soldato: «Aber einige waren anfangs halt wählerisch und assen nur, was sie wollten.» Andere hätten im Husi-Kurs Gemüse und Früchte erst für sich entdeckt. «Mittlerweile mag ich Äpfel richtig gern», sagt Tim, der sich vorher nie für Obst begeistern konnte.
Nachhaltigkeit heisst nicht einfach Fleischverzicht: An einer Schranktür hängen Übersichten, Saisonkalender für Gemüse und Früchte, die aufzeigen, was wann in der Schweiz, Europa oder Übersee reift und ob die Sachen auch aus Bioproduktion erhältlich sind.
Und manchmal gehts nur darum, keine Lebensmittel zu verschwenden: für sich selbst genug, aber nicht zu viel zu schöpfen. Oder die letzten Gramm Zucker und Butter aus dem Topf zu kratzen.
Letztlich ist Nachhaltigkeit auch eine Frage des Geldes. Für jeden Kursteilnehmer sind 250 Franken Essenskosten budgetiert. Inklusive Zvieri und Znüni ergibt das Fr. 3.30 pro Mahlzeit und Schüler.
Trotzdem müsse man bei Belehrungen zu Ökologie und Nachhaltigkeit auf die Dosierung achten, sagt Soldato – sonst komme es zu Trotzreaktionen.
An diesem Abend wird aber nicht gespart, sondern geschlemmt; schliesslich werden zum Festessen Gäste erwartet: Neben dem Deutsch- und dem Wirtschaftslehrer sind auch die Lebensmittellieferanten geladen – zwei Biobauern aus der Gegend und das Ehepaar, das die Volg-Filiale in Näfels führt.
Die Klasse ist für den Abend in zwei Gruppen eingeteilt: Eine ist fürs Essen selbst verantwortlich, die andere kümmert sich um Dekorationen, Unterhaltung und Moderation. Die Jugendlichen wünschten sich einen gediegenen Anlass: die Herren mit Fliege oder Krawatte, die Damen im Abendkleid.
Ab 15 Uhr gehts los. Während die Dekogruppe die Terrasse herrichtet, Stehtische aufstellt und Musikboxen installiert, werden in der Küche die Schubladen aufgerissen. Bald hastet ein halbes Dutzend Burschen mit farbigen Schürzen und langen Messern durcheinander.
Pavi und Marin stehen an der Küchenkombination und werweissen, wie die Apfelcreme zu präsentieren sei. Soldato lenkt ihre Aufmerksamkeit zurück auf die Pfanne, die auf der Platte steht. «Passt auf, dass die nicht zu heiss wird, da sind rohe Eier drin! Was passiert sonst mit denen?»
«Omeletten?»
«Genau, das Eiweiss wird fest.»
Die anderen machen sich an die Apérohäppchen: Speckpflaumen, Melonenstückchen, Käsedatteln mit Ingwer-Cognac-Füllung und Gurkenscheiben mit Dill und Frischkäse. Andrin und Nicola haben auf den ersten Gurkenscheiben zu viel Frischkäse verbraucht und müssen Nachschub kaufen gehen.
«Du oder ich?»
«Gehen wir beide.»
Soldato blickt auf die Küchenuhr. Fast vier. «Denkt an die Zeit!», ruft sie.
Das Festmenü ist aufwendig. Im Ofen backen die Knusperstangen, die zur Vorspeise – eine Karotten-Ingwer-Suppe – serviert werden. Als Hauptgang folgt Pouletbrust im Blätterteig und Salat; und schliesslich ein Dessertbuffet mit Linzer Torte, frischer Beerenglace, Zwetschgenkompott mit Streuseln, Fruchtsalat, Apfelcreme und Fudge.
«Fudge sind Pralinen aus Kondensmilch, Schokolade, Butter und ein bisschen Vanille», erklärt Marin. Seinen ersten Fudge machte er als Strafaufgabe, weil er nach der Nachtruhe unterwegs war. Mittlerweile ist er Confiseur aus Leidenschaft, sehr zur Freude seiner Klassengspäändli. Nur rund ein Drittel seiner Produktion wird es aufs Dessertbuffet schaffen, den Rest verliert er an vorbeigehende Kollegen.
Gegen 16.30 Uhr sind Vor- und Nachspeise zubereitet. In der Küche geht es laut und hektisch, aber herzlich zu. «Wenn ihr nachher Pause machen wollt, müsst ihr jetzt aber Gas geben», stichelt Tageschef Nico grinsend; was die Runde mit einem fröhlichen «Heb d Frässe!» quittiert.
Soldato steht mittendrin, hilft aus und feuert an: «Toll, wie ihr arbeitet! Bravourös!» Während auf dem Fenstersims ihr Kaffee erkaltet, ruft sie knappe Kommandos durch das Zischen der bratenden Hühnerbrüstchen.
Es wirkt. Pünktlich um 17.45 Uhr ist alles bereit – nun bleibt noch eine halbe Stunde, um sich in Schale zu werfen.
30 Minuten später versammelt sich die künftige Hauswirtschaftselite auf der Terrasse: die jungen Frauen in Highheels und Abendkleid; die Burschen in Hemd und Jackett. Johannes und Yael begrüssen die Gäste und üben sich in Smalltalk, die anderen schiessen gegenseitig Bilder von sich.
Dann gehts los. Die Karotten-Ingwer-Suppe ist schnell gegessen. Zwischen Vor- und Hauptspeise rennt die ganze Klasse in der Küche durcheinander, alle helfen schöpfen, anrichten und servieren. Es ist anstrengend, gleichzeitig Gastgeber, Gast und Küchenpersonal zu sein.
Johannes und Yael bitten die Gäste derweil zur Hausführung. Als sich in der Werkstatt zwischen Biobauer und Wirtschaftslehrer eine Grundsatzdiskussion anbahnt; von wegen «Alles wird immer schlimmer» kontra «Wir klagen auf hohem Niveau», unterbricht Johannes charmant: «Wir arbeiten ja auch auf hohem Niveau. Und wenn man hart arbeitet, verschwitzt man Kleider, und darum zeige ich Ihnen nun die Wäscherei.» Dort gibts Waschmittel, die biologisch abbaubar sind, erklärt Yael den Gästen. Einer der Besucher seufzt. «Und wirds auch sauber?» Yael zuckt mit den Schultern.
Nachdem der Hauptgang serviert worden ist, löst sich auch bei den Leiterinnen langsam die Anspannung. Alles hat geklappt, das Essen ist ausgezeichnet, und die Gäste werden von den Schülern sehr gut unterhalten.
Nach dem Dessert gratuliert Carla Soldato der Klasse zu ihrer grossartigen Leistung; sie hätten «ein kleines Wunder vollbracht».
Das stimmt – allerdings ist es noch nicht ganz getan. Denn während sich die Gäste auf den Heimweg machen, stehen noch Aufräumen und Abwaschen an. Das zeigt den Jugendlichen noch mal deutlich, dass Wunder, die im Haushalt passieren, mit viel harter Arbeit verbunden sind. So manche Eltern werden Soldato und ihren Koleiterinnen dafür dankbar sein.