Beobachter: Leben wir in einer gefährlichen Welt?
Jürg Frick: Das kommt darauf an, wie man es anschaut. Es gibt auf jeden Fall reale Gefahren, vor allem langfristige, wenn ich etwa an die Ökoproblematik denke.

Beobachter: Aber das ist es nicht, was überängstlichen Eltern Sorgen macht.
Frick: Stimmt, solche Bedrohungen werden oft komplett ausgeblendet. Stattdessen haben viele Eltern Ängste, die nicht wirklich berechtigt sind, etwa die Angst vor einer Kindsentführung – dabei sind die äusserst selten. Wünschbar wäre eine möglichst nüchterne Einordnung. Das würde besorgten Eltern helfen, zu erkennen, was sie tatsächlich mehr bedenken sollten.

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Beobachter: Was denn zum Beispiel?
Frick: Etwa dass beim Schulanfang diejenigen Eltern, die ihre Kinder mit dem Auto zur Schule fahren, selber eine beträchtliche Gefahr darstellen. Nicht für ihre eigenen Kinder, die haben sie ja in sicherer Obhut. Aber für alle anderen, denen durch den Mehrverkehr etwas zustossen könnte.

Beobachter: Weshalb verhalten sich Eltern so irrational?
Frick: Das hat viel damit zu tun, was medial aufbereitet wird. Lesen Eltern dauernd Geschichten über Kindsentführungen und Sexualdelikte, kann es passieren, dass gewisse Gefahren überbewertet werden und man für andere das Sensorium verliert.

Beobachter: Greift das als Erklärung nicht zu kurz? Eine Behauptung: Überbesorgte Eltern verhalten sich so, wie sie es tun, weil sie sich selber unter Druck setzen.
Frick: Einverstanden. Oder genauer: Sie stehen unter dem Druck der gesellschaftlichen Erwartungen. Demnach müssen die Kinder gut herauskommen, müssen möglichst alles erreichen – unbedingt. Übers Kind kann man auch seinen eigenen Wert definieren. Das erklärt die perfektionistischen Ansprüche vieler Eltern. Hinzu kommen Schuldgefühle, weil sie neben dem Job zu wenig Zeit fürs Kind haben. Oder Lebensängste, denen sie selber ausgesetzt sind. All das sind Faktoren, die in die kostbare «Ware» Kind projiziert werden.

Beobachter: Die Eltern wollen also nur das Beste fürs Kind – das ist ja nichts Schlechtes.
Frick: Natürlich nicht. Kinder sind sehr wertvoll, und wie es mit diesem Wert herauskommt, wirft ein Licht auf mich als Erzieher: «Bin ich eine gute Mutter/ein fürsorglicher Vater?» Da will man es natürlich besonders gut machen. Das ist löblich, kann aber schnell in ein Zuviel kippen: zu viel investieren, zu sehr beschützen, zu stark verwöhnen, ihnen zu schnell Dinge abnehmen, die sie besser allein machen würden.

Beobachter: Was nimmt man Kindern, wenn man ihnen vorenthält, eigene Erfahrungen zu machen?
Frick: Sie können um wichtige Lernerlebnisse gebracht werden. Dies nimmt den Kindern die Selbständigkeit und führt zu unterentwickeltem Selbstvertrauen, zu Zweifeln: «Kann ich das ohne das Mami?» Ich kenne einen Fall, da wurde ein Kind bis zur sechsten Klasse von der Mutter an der Hand in die Schule begleitet. Das ist problematisch.

Beobachter: Weshalb?
Frick: Kinder müssen schon früh und möglichst häufig realisieren, dass sie auf Probleme und Schwierigkeiten selber Einfluss nehmen können. Man sieht doch, wie stolz ein kleines Kind ist, wenn es triumphiert: «Das habe ich ganz allein gemacht!» Aber wenn die Eltern ihren Sprösslingen alles abnehmen, machen sie diese Erfahrung zu wenig. Deshalb kommen verwöhnte Kinder letztlich zu kurz, so paradox das klingt. Diese Kinder sind dadurch oft unzufrieden, sehr fordernd, meckern häufig. Dabei haben die Eltern alles gemacht für sie – Aufwand und Ertrag stehen in einem krassen Missverhältnis.

Beobachter: Und wenn das, was das Kind allein machen will oder soll, schiefgeht?
Frick: Dann macht es eine extrem wichtige Erfahrung. Das Leben ist letztlich eine Ansammlung von Erfahrungen, auch von unliebsamen. Natürlich soll man Kinder jetzt nicht Gefahren aussetzen, von denen sie überfordert sind – einen Dreijährigen kann man nicht unbeaufsichtigt an der Strasse spielen lassen und sagen, so lerne er es. Vielmehr geht es darum, die Kinder entsprechend ihren Fähigkeiten an diese Risiken heranzuführen und ihnen zu helfen, damit umzugehen. Das bedingt, sie gut zu kennen, zu wissen, worin sie gut sind und worin weniger.

Beobachter: «No risk, no fun»: Gilt dies noch? Braucht es in der Erziehung auch Platz für Unvernunft?
Frick: Ich sage lieber: Es braucht Freiräume, wo man auch einmal etwas geschehen lassen kann. Davon braucht es mehr. Viele Eltern unterschätzen ihre Kinder, ihre Lernbereitschaft und ihre Kompetenz. Sie sollten den Kindern mehr zumuten – und dabei selber gelassen bleiben.

Beobachter: Spüren Kinder eigentlich, wenn man ihnen nichts zutraut?
Frick: Ja, das registrieren sie sehr genau. Diese Erfahrung macht sie ängstlicher, unsicher. Denn sie spüren ja auch: Irgendwann wird der Vater oder die Mutter nicht mehr da sein, wenn sie eine Aufgabe allein bewältigen müssen, etwa in der Schule. In solchen Situationen, wenn es kein Ausweichen gibt, werden sie konfrontiert mit ihrem eigenen Unvermögen. Das kann weh tun.

Beobachter: Auf der anderen Seite ist es angenehm, wenn einem die Eltern dauernd alles abnehmen.
Frick: Gewisse Kinder merken tatsächlich, wie bequem es ist, die Eltern immer für sich zu haben. Entsprechend beschäftigen sie die Eltern dann ständig. Aber irgendwann wird das zu einem Problem, weil die Gefahr besteht, später nicht richtig in der Erwachsenenrolle anzukommen. Ich hatte mit einer jungen Frau zu tun, die selber Mutter wurde. Sie muss bis heute dauernd ihre Mutter anrufen, weil sie unsicher ist, was sie mit dem eigenen Kind tun soll.

Beobachter: Erziehen wir eine unmündige Generation?
Frick: Das ist mir zu absolut ausgedrückt. Aber Überbehütung fördert die Mündigkeit ganz sicher nicht.

Beobachter: Welche Auswirkungen hat es, wenn Kinder die ganze Zeit zu hören bekommen, was alles passieren könnte, wie bedrohlich ihre Umgebung sein soll?
Frick: Angst ist ein Stück weit ansteckend. Klinische Psychologen sagen, dass Angststörungen zunehmen, auch unter Kindern. Man kann das natürlich nicht nur diesem Thema zuschreiben, da spielen viele andere Gründe mit. Aber Überbehütung ist ein Pfad, um die Angst zu fördern. Ständig signalisiert zu bekommen, man sei zu klein, zu schwach, die Welt sei zu gefährlich für einen, man sei dem nicht gewachsen: Das sind Eindrücke, die ein Kind schwächen.

Beobachter: Pubertieren Kinder anders, wenn sie von den Eltern nie richtig losgelassen werden?
Frick: Wenn ein Kind in Watte gepackt wird, ist die Wahrscheinlichkeit deutlich höher, dass es hinterher Probleme gibt. Es gibt Fälle, da explodiert in der Pubertät alles, was bis dahin unter dem Deckel gehalten wurde. Dann wird der brave Bub, der er eben noch war, zum trotzigen Rebellen – und die Eltern erkennen ihn kaum wieder. Das ist ein radikaler Versuch der Selbstbefreiung, natürlich mühsam für die Eltern, aber vielleicht positiv fürs Kind.

Beobachter: Sie sprechen oft vor Elternorganisationen. Wie reagiert dieses Publikum, wenn Sie ihm den Spiegel vorhalten?
Frick: In meinen Vorträgen zum Thema Verwöhnung wurde ich kaum je angegriffen, obwohl ich letztlich das Verhalten meiner Zuhörer humorvoll-kritisch hinterfrage. Manche Eltern fühlen sich vielleicht ertappt, wenn man sie auf gewisse Punkte anspricht. Aber in der Regel spüre ich die Bereitschaft zum Nachdenken. Die Frage ist, was sie davon im Alltag umsetzen können – das ist nicht so einfach, denn viele dieser überbehütenden Eltern sind sehr gefangen in ihrem Verhaltensmuster.

Beobachter: Wie kommen die Eltern aus diesem Dilemma heraus?
Frick: Ein erster Schritt ist schon mal, wenn sie realisieren, dass sie sich in einem ungünstigen Muster befinden. Und dann ist es gut, dass man sich nicht darüber ärgert, sondern mit anderen Eltern darüber redet – offen und nüchtern, ohne Schuldzuweisungen und Moralisieren. Dann wird man nämlich schnell merken: Denen geht es genau gleich, sie sind durch die gleichen Probleme herausgefordert. Das erleichtert es einem, aus dem Schema auszubrechen und einen eigenen Weg zu finden. Das braucht etwas Rückgrat, aber das muss man als Eltern aushalten können.

Buchtipp: Jürg Frick: «Die Droge Verwöhnung»; Verlag Hans Huber, 2011, 208 Seiten, CHF 33.90

Internet: www.juergfrick.ch

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