«Keine Ahnung, wie es weitergehen soll»
Rund 260'000 Kinder in der Schweiz wachsen mit einem kranken oder behinderten Geschwister auf. Was das mit einem macht.
Veröffentlicht am 6. Dezember 2019 - 12:16 Uhr
«Ich bin heute mit genau sehr guter Laune erwacht, weil Rosa einmal mehr mich mit ihren mächtig schönen Augen und ihrem lachenden Gesicht angelacht hat.»
Tagebucheintrag von Marc, Rosas Bruder
«Mal ehrlich, wer wünscht sich schon einen schwerstbehinderten Bruder?», fragt Rosa Schnebli. Die 19-jährige Zürcherin erzählt schnell und eindringlich von Marc, den sie liebt, aber manchmal auch verwünscht. Der ihr Leben schwerer machte, aber auch bereicherte. Sie wuchs mit einem Bruder auf, der sehr viel Aufmerksamkeit auf sich zog.
Marc ist vier Jahre älter als sie. Doch er konnte schon früh nicht mehr mit ihr mithalten. Rosa erzählt pointiert und reiht Kraftausdrücke an liebevolle Beschreibungen.
«Als ich in die erste Klasse kam, war mein Bruder der Schulhausschreck. Alle hatten Angst vor ihm, weil er ausrastete, wenn er gestresst war – das war er oft.» Dann riss er Gspändli an den Haaren, schrie oder verletzte sich selber. «Mein Bruder, der Unberechenbare, den alle fürchteten. Das war nicht lustig.»
Gemobbt worden sei sie deswegen zwar nicht, unangenehm war es trotzdem. «Wenn er dann allein in einer Ecke stand, ging ich manchmal zu ihm und spielte mit ihm. Es tat mir leid, dass er keine Freunde hatte. Er war ja doch mein grosser Bruder.»
Rosas Eltern machten nie ein Geheimnis daraus, dass der Bruder schwerbehindert war, dass er eine tiefgreifende Entwicklungsstörung hat, eine Autismus-Spektrum-Störung . Sie brauchten viel Zeit und Energie für seine Betreuung und Förderung. Marc durfte nie allein gelassen werden, brauchte – und braucht immer noch – ständige Aufsicht und Hilfe bei Alltagsbelangen.
Die Eltern arbeiten beide Teilzeit, um genug Zeit für ihn zu haben. «Noch dazu kam der bürokratische Aufwand. Dauernd mussten sie Gesuche schreiben, sich mit IV, Krankenkasse und Ämtern herumschlagen, das war schon ganz schön hart», so Rosa. Egal, wie sehr sich die Eltern bemühten, sie habe sich trotzdem manchmal unfair behandelt gefühlt und sich zurücknehmen müssen.
«Schön wäre eine geschenkte Schwester wie Rosa zusätzlich, weil es weniger streng für Rosa wäre. Es blieben mehr Schwesternstunden für meine Bedürfnisse.»
Tagebucheintrag von Marc
Rosa ist ein «Geschwisterkind». So werden Kinder bezeichnet, die mit einem Geschwister aufwachsen, das eine chronische Krankheit oder Behinderung hat. Rund 260'000 Betroffene gibt es in der Schweiz, heisst es beim Luzerner Verein Familien- und Frauengesundheit. Oft geraten ihre Bedürfnisse in den Hintergrund, weil alle Aufmerksamkeit
beim kranken oder behinderten Kind liegt und die Belastung der Familie gross ist.
Viele Geschwisterkinder merken erst als Erwachsene, dass sie es gewohnt sind, ihre Wünsche ständig zurückzustellen. In der Fachwelt wird dem Thema bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt.
«Ich liebe meinen Bruder, aber so ganz normal ist unsere Geschwisterbeziehung nicht.»
«Ich hätte mir als Kind und vor allem als Teenie Unterstützung gewünscht», sagt Rosa. Einen «richtigen» Bruder oder eine «richtige» Schwester, mit der sie auch hätte ausgehen oder shoppen können. Sie fühlte sich allein. Als Primarschülerin sagte sie, sie sei «ein Einzelkind mit einem Bruder».
Es gibt Videos von Marc und Rosa als Kinder. Sie sitzen in einer Hängematte und spielen «Schiff». Rosa wirkt gelangweilt, will das gar nicht, macht mit, weil sie muss. Marc hingegen ist Kapitän, freut sich, lacht. «Ich liebe meinen Bruder, wir haben eine sehr enge Beziehung. Aber so ganz normal ist unsere Geschwisterbeziehung nicht: Ich kann von ihm keine Unterstützung erwarten. Wir können nicht zusammen feiern gehen. Und die Art des Spielens war immer seinen Fähigkeiten oder Interessen angepasst.»
Rosa wollte die Situation von Geschwisterkindern ins Rampenlicht rücken, deshalb hat sie ihre Maturaarbeit darüber geschrieben. Und sie hat mit zwei anderen Betroffenen eine Gesprächsgruppe gegründet, in der sich Geschwisterkinder austauschen können (siehe Box am Artikelende). «Mit einem behinderten Bruder aufzuwachsen, bringt Schwierigkeiten mit sich, die für Aussenstehende nicht offensichtlich sind», sagt Rosa.
Ihre «Rettung» sei ein Austauschjahr
als 15-Jährige in Australien gewesen. «Da war ich endlich frei, da hatte ich ein Jahr Ruhe», sagt sie und meint das überhaupt nicht böse. «Ich habe die Zeit total genossen, musste nichts über meinen Bruder erzählen, war nur ich.» Das Austauschjahr habe ihr die Freiheit gegeben, auch die guten Seiten an ihrer Situation zu sehen, einen neuen Blickwinkel zu bekommen. «Ich bin durch Marcs Behinderung sozial kompetenter geworden», sagt sie und nestelt an ihrer Kette mit einem silbernen Kookaburra-Anhänger, einem bekannten Vogel Australiens.
«Meine Schwester ist immer ehrlich mit mir. Ich kann ihr mega grosses Vertrauen entgegenbringen, besonders wenn ich starke Hammerverzweiflung empfinde. Geschenkt bekommt Rosa dafür immer wieder lang von mir gekochten Sugo.»
Tagebucheintrag von Marc
Rosa sagt, früher sei es ihr peinlich gewesen, wenn fremde Leute sie und ihren Bruder angestarrt hätten, weil er sich auffällig verhielt. «Heute kann ich damit locker umgehen und kontern, wenn jemand dumm kommt.» Wenn einer ihrer Kollegen das Wort «behindert» als Schimpfwort benutze, dann stelle sie ihn zur Rede. «Das geht gar nicht.» Schon als kleines Mädchen habe sie sich aus diesem Grund mit dem Nachbarsbuben geprügelt, der zwei Köpfe grösser war. «Na ja, sozial kompetent war das nicht. Aber ich habe mich schon damals gegen Unrecht und Beleidigungen gewehrt.»
«Ich bin durch Marcs Behinderung sozial kompetenter geworden.»
Eine wichtige Regel in der Familie war, dass Rosa als jüngere Schwester keine Verantwortung für Marc übernehmen musste, nicht in die Rolle einer Betreuungsperson schlüpfen musste. «Diese Rollenverteilung hat uns das Zusammenleben ganz klar erleichtert», sagt Rosa. Sie erinnert sich gern an die Dienstagnachmittage, die «immer nur mir und meiner Mutter gehörten». Sie lächelt. Diese Stunden nur zu zweit seien sehr schön gewesen, «heilig». «Ich weiss gar nicht mehr, was wir gemacht haben. Nichts Besonderes, wahrscheinlich. Aber es gab dann mal nur mich und meine Mutter.»
Rosa hat Angst vor der Zukunft. Vielen Geschwisterkindern geht es so, weil sie früher als ihre Altersgenossen mit Themen in Berührung kommen, die sich normalerweise dann noch nicht aufdrängen. «Ich sehe bei meinen Eltern, wie viel Zeit der ganze Bürokram frisst. Das will ich nicht machen müssen.»
Rosa weiss nicht, wie das später mal sein wird, wenn die Eltern die Betreuung nicht mehr leisten können. Muss sie Marcs Beiständin werden? «Meine Eltern sind jetzt 55, und meine Mutter hat Rückenprobleme . Wir haben noch keine Lösung gefunden.» Einfach ins Heim abschieben möchten sie Marc auf keinen Fall. «Ich habe keine Ahnung, wie es weitergehen soll», sagt Rosa. Sie konzentriert sich erst einmal auf ihre Ausbildung, aber die Angst bleibt.
Sie studiert seit dem Sommer Bauingenieurwesen in Lausanne und ist nur noch am Wochenende daheim bei den Eltern und bei Marc.
«Meine liebe Schwester» nennt Marc sie in seinen Tagebucheinträgen. Derzeit trainiert er mit seinem Assistenten, der ihm im Alltag hilft, Rosa zu umarmen. Körperliche Berührungen sind für ihn extrem schwierig – aber er macht Fortschritte. Rosa lächelt. Sie weiss, wie viel Überwindung ihn eine Umarmung kostet – und wie stark sein Wunsch ist, es zu schaffen.
«Meine liebe Schwester Rosa kann mir immer ihre Sorgen erzählen und ich werde ein geduldiger Zuhörer sein.»
Tagebucheintrag von Marc
Schätzungsweise 260'000 Kinder in der Schweiz wachsen mit einem Geschwister auf, das von einer chronischen Krankheit oder Behinderung betroffen ist. Nicht alle leiden unter der Situation, aber auch nicht alle bewältigen die Belastungen problemlos.
- Auf geschwister-kinder.ch gibt es Infobroschüren für Betroffene.
- Gesprächsgruppe «Unter uns» für Geschwisterkinder. Die Gruppe trifft sich vier- bis fünfmal im Jahr. E-Mail: schweiz@erwachsene-geschwister.de
1 Kommentar
Woher kommt der Begriff "Geschwisterkinder"? Mich irritiert dieser etwas, da für mich aus der Wortschöpfung heraus nicht wirklich klar wird, welche Menschengruppe damit gemeint sein soll. Ausserdem scheint er mir eine Fremdbezeichnung zu sein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass betroffene oder damit beschriebene Personen sich selbst so bezeichnen würden. Hier gibt es meiner Ansicht nach etwas mehr Klärungsbedarf. Besten Dank!