«Schön darf nicht krank bedeuten»
Schönheitswettbewerbe werden regelmässig von Untergewichtigen gewonnen. Das hat eine fatale Signalwirkung für junge Frauen, sagt Expertin Bettina Isenschmid.
Veröffentlicht am 20. Juli 2009 - 15:29 Uhr
Bettina Isenschmid ist Spezialistin für Essverhaltensstörungen am Inselspital Bern.
Beobachter: Frau Isenschmid, was sagen Sie zu Model-Castingshows wie «Germanys next Topmodel» oder auch zu den Miss-Schweiz-Wahlen?
Bettina Isenschmid: Ich werde immer wieder von meinen Patientinnen darauf angesprochen. Sie erzählen mir, dass diese Sendungen sie sehr frustriert haben und noch stärker an sich zweifeln liessen.
Beobachter: Aber können solche Sendungen wirklich Essstörungen verursachen?
Isenschmid: Tatsache ist: Heute wollen mehr als zwei Drittel der jungen Mädchen in der Schweiz abnehmen, aber übergewichtig ist nur jede Fünfte. Da stimmt offensichtlich etwas nicht mit der eigenen Körperwahrnehmung. Solche TV-Sendungen erhöhen den Druck, schön und schlank sein zu müssen. Das kann dazu führen, dass eine junge Frau eine Diät beginnt. Dann bekommt sie zuerst Komplimente von ihrem Umfeld und nimmt weiter ab. Bis die Diät sie im Griff hat, und nicht mehr umgekehrt. Eine Diät ist in fast allen Fällen der auslösende Faktor für eine Essstörung.
Beobachter: Sie sagen, bei «Germanys next Topmodel» gehe es jeweils zu wie auf dem Viehmarkt…
Isenschmid: Ja. In der letzten Staffel sagte zum Beispiel Gastjurorin Victoria Beckham, an einer Kandidatin sähen alle Kleider schrecklich aus, nur weil diese etwas breitere Hüften hatte als andere. Das ist menschenverachtend.
Beobachter: Victoria Beckham ist extrem schlank. Und Heidi Klum sieht nach jeder Schwangerschaft sofort wieder aus wie zuvor. Auch nicht der Normalfall?
Isenschmid: Nein, und trotzdem gelten sie als Vorbilder. Ich habe heute junge Frauen in meiner Praxis, die Angst haben, schwanger zu werden. Weil sie ahnen, dass sie dann nicht wie Heidi Klum aus der Form fallen werden. Alles soll spurlos am Körper vorbeigehen. Auch mehr und mehr ältere Frauen zeigen eine gestörte Körperwahrnehmung sowie ein problematisches Essverhalten. Vermutlich auch Victoria Beckham.
Beobachter: Wie kommen Sie darauf?
Isenschmid: Sie ist sehr mager. Dazu würde ein eingefallenes, schmales Gesicht passen. Sie hat aber ein eher breites Gesicht mit runden Konturen. Ein typisches Zeichen für Ess-Brech-Sucht. Durch das häufige Erbrechen schwellen die Speicheldrüsen an, und es entstehen die typischen Hamsterbacken.
Beobachter: Sollten Eltern ihren Kindern verbieten, solche Sendungen zu schauen?
Isenschmid: Kinder bis etwa elf Jahre sind zu wenig kritikfähig und lassen sich leicht blenden. Je weniger sie mit dem kranken Schönheitsideal konfrontiert werden, umso besser. Ältere Kinder sollte man schauen lassen, weil man als Eltern um das Thema Schönheitsideal sowieso nicht herumkommt. Man sollte aber über das Gesehene sprechen.
Beobachter: Unterstehen denn die Eltern nicht selbst dem gleichen Druck?
Isenschmid: Tatsächlich ist das in den Medien verbreitete «Frauenideal» kontinuierlich dünner geworden. Die Realität sieht anders aus: Das Durchschnittsgewicht junger Frauen ist seit dem Zweiten Weltkrieg um rund zehn Prozent gestiegen. Diese Diskrepanz verursacht zwangsläufig Stress. Viele Frauen wollen mit 35 noch in die gleichen Jeans passen wie ihre Töchter. Damit scheiden sie als reife und realistische Vorbilder aus.
Beobachter: Dann sind also die Mütter mitverantwortlich für die negative Entwicklung?
Isenschmid: Studien haben gezeigt, dass vor allem die Mütter Vorbilder für ihre Töchter sind. Ihre Einstellung ihrem Körper und ihrer Erscheinung gegenüber prägt die Kinder stark. Doch natürlich ist die Mutter nie allein verantwortlich für eine Essstörung der Tochter. Wir leben in einer übersexualisierten Welt, in der Äusserlichkeiten extrem wichtig sind.
Beobachter: Was können Mütter gegen Essstörungen tun?
Isenschmid: Eine Mutter sollte ein realistisches Vorbild abgeben. Sie darf zu ihrem Alter stehen und kann auch attraktiv sein, ohne dem Jugend- und Schönheitskult nachzurennen. Motto: Ich fühle mich wohl, also bin ich schön.
Beobachter: Dazu passt ja wohl schlecht, wenn eine Mutter in dieselbe Boutique geht wie die Tochter, auch wenn sie nicht mehr Grösse 36 trägt.
Isenschmid: Teenies finden das meist ohnehin nicht cool. Punkto Grössen muss man jedoch aufpassen. Wer vor Jahren Grösse 36 trug, passt heute vielleicht nur noch in Grösse 40, ohne wirklich zugenommen zu haben. Wir haben festgestellt, dass der Bund einer Grösse 36 heute viel enger geschnitten ist als früher – und ändern die Grössen, wollen die Frauen auch ihre Figur verändern.
Beobachter: Was wäre denn eine gesunde, normale Figur?
Isenschmid: Frauen, die Kleidergrösse 40 bis 44 tragen, sind vom Gewicht her absolut normal. Leider empfindet sie die Gesellschaft aber oft als übergewichtig, weil Models 32 bis 36 tragen. Die sind jedoch häufig alles andere als gesund, ihre Menstruation bleibt aus, sie leiden unter Haarausfall, sind kraftlos, sehr oft essgestört. Das Untergewicht kann fatale Folgen haben; jede zehnte Magersüchtige stirbt. Jede sechste wird ohne rechtzeitige Behandlung unfruchtbar. Da müssen wir umdenken. Es kann doch nicht sein, dass schön gleich krank bedeutet.
Beobachter: Wie geht es Frauen, die nicht diesem Schönheitsideal entsprechen, bei der Partnersuche?
Isenschmid: Entgegen der Vorstellung gar nicht schlechter. Viele Männer bevorzugen für den Ausgang sehr schlanke Frauen im Miniröckchen, um mit ihnen angeben zu können. Als Partnerin suchen sie sich aber oft einen anderen Typ Frau. Da werden nach wie vor Kurven und Rundungen bevorzugt. Problematisch ist, dass sich Frauen selbst unerbittlich miteinander vergleichen und im Konkurrenzkampf sind. Dafür setzen sie Energien ein, die sie für ihre Entwicklung und Unabhängigkeit brauchen würden.
Beobachter: Wie werden wir das kranke Schönheitsideal los?
Isenschmid: Es ist wichtig, dass wir unseren Kindern Wertschätzung schenken, die sich nicht aufs Äussere bezieht. Sie in den Arm nehmen und ihnen sagen, dass wir sie toll finden, auch wenn sie gar nichts Besonderes gemacht haben. Wenn wir sie erst wahrnehmen, wenn sie brandmager sind, ist es oft fast schon zu spät.
Beobachter: Welche Rolle spielen die Väter?
Isenschmid: Sie sind für ihre Söhne das wichtigste und früheste Vorbild. Essstörungen nehmen auch bei Männern zu. Zudem werden auch heranwachsende Männer zunehmend mit falschen Erwartungen konfrontiert, insbesondere in Sachen Körperbehaarung. Intimrasur ist bei jungen Männern zunehmend Pflicht. So etwas erachte ich als problematisch. Auch Mann ist von Natur aus schlicht nicht mehr gut genug.
Die Warnsignale
- Blaue Hände/Lippen (Kälteempfindlichkeit), Anzeichen von Erschöpfung
- Starke Gewichtsschwankungen oder eindrücklicher Gewichtsverlust
- Häufiger, längerer Aufenthalt auf der Toilette (Erbrechen, Abführmittel)
- Hamsterbacken, Zahnprobleme
- Ständiger Bewegungsdrang (Verbrennen von Kalorien)
- Keine oder unregelmässige Monatsblutungen, Verdauungsprobleme
- Abwertende Bemerkungen über die eigene Figur
- Vermeiden von Mahlzeiten
- Andere mit Essen versorgen, ständiges Beschäftigen mit Kochen und Rezepten
- Heimliches Essen von «verbotenen» Speisen (Süsses, Teigwaren et cetera)
- Horten/Stehlen von Nahrungsmitteln
- Ständige Diät, zwanghaftes Wägen
Die Massnahmen
- Sprechen Sie die Betroffene an. Zeigen Sie Verständnis, ohne die Essstörung gutzuheissen. Keine Sorge: Eine Essstörung lässt sich nicht «herbeireden».
- Übernehmen Sie für das Verhalten der Betroffenen keine Verantwortung oder gar eine Kontrollfunktion.
- Bieten Sie regelmässig weitere Gespräche an.
- Ziehen Sie eine Fachperson bei.
- Reduzieren Sie die Betroffene nicht auf die Essstörung. Versuchen Sie vielmehr, ihre gesunden Seiten anzusprechen und zu stärken.
- Bestimmen Sie eine Kontaktperson. Es ist ungünstig, wenn mehrere Leute auf die Betroffene einreden.
Gäbe es Barbie als Frau in Fleisch und Blut, wäre sie alles andere als gesund:
- Sie hätte eine Körpergrösse von rund 1,9 bis 2,2 Metern.
- Sie wäre stark untergewichtig (Body-Mass-Index 16), was zum Ausfall des Kopfhaars und dafür zu verstärkter Körperbehaarung führen würde.
- Mangels Fettgewebe könnte ihr Körper nicht genügend Hormone produzieren, sie wäre unfruchtbar und würde früh an Osteoporose erkranken.
- Ihre Bauchorgane hätten angesichts der Wespentaille gar keinen Platz, ihre Lunge würde verdrängt, sie würde an Atemnot leiden.
- Sie könnte nicht stehen, sondern würde vornüberkippen.
- Sie hätte einen Bandscheibenvorfall und Fehlstellungen in Knien und Hüften